Im Vorbeigehen mitspielen
Die Opernkompanie Novoflot ist mit experimentellem Musiktheater auf Tournee.
Was passiert, wenn die subventionierte (Musik-)Theaterlandschaft zusammenbricht? Was kann die Antwort sein, wenn die althergebrachten Institutionen dem künstlerischen Ausdruck keinen Rahmen mehr bieten? Mit welchen Strategien und Formen könnte man diesem drohenden Ausverkauf der Kultur künstlerisch begegnen?
In Zeiten allgegenwärtiger Finanznöte und Sparmassnahmen liegen die Fragen nahe, die sich die freie Opernkompanie Novoflot im Rahmen des Projektes T-house-tour stellt. Vom 16. bis zum 19. Oktober 2014 fand auf dem Vorplatz der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz der zweite Teil des auf mehrere Etappen angelegten Musiktheaterexperiments statt. Dafür hat die Berliner Architektengruppe Graft zusammen mit der Bühnenbildnerin Annamaria Cattaneo ein aus flexiblen Modulen zusammengesetztes, wandelbares Gebäude in den öffentlichen Raum gestellt, das «transforming house». Metallstreben und schwere, durchsichtige Plastikfolien sind das Material, aus dem die verschiedenen quadratischen Räume zusammengesetzt sind. Darin aufgehängt sind bunte, asiatisch anmutende Kostüme, ebenfalls in Plastik verpackt, und verschiedene Accessoires definieren die Räume nach bestimmten Funktionen. Einer ist als eine Art Musikzimmer mit Gitarrenverstärker und Drumkit eingerichtet, es gibt ein Büro mit Computer und Tastatur, auf dem Bildschirm ein Dialog über Gefangenschaft. In einem anderen Raum stehen ein Mikrofon und eine Loopstation.
Sechs Stunden täglich agieren in einer undurchschaubaren Folge aus Improvisation und Inszenierung verschiedene Künstler in diesem Setting (Komposition: Michael Werthmüller, Regie: Sven Holm). Die Zuschauer können sich darin bewegen, manchmal auf das Geschehen Einfluss nehmen, zumeist aber einfach nur Augen und Ohren aufreissen vor Staunen darüber, was sich hier klanglich und kontextuell zusammen kombiniert. So improvisieren in einem der Räume die Posaunisten Nils Wogram und Conny Bauer miteinander, während der Schauspieler Raphael Clamer einen Text in ein Aufnahmegerät spricht: «Ich hab es für mich aufgegeben, ein verständiger Mensch zu sein …» Möglicherweise die richtige Rezeptionshaltung für ein so vielschichtiges Geschehen, das sich in seiner Komplexität niemals vollständig erfassen lässt. Zwei ältere Damen, gekleidet in überbordende Kostümmischungen aus Dirndl und Kimono, sprechen Sätze in das Loop-Gerät. Vom Körper abgekoppelt wiederholen die Stimmen: «Darf ich beim Essen rauchen?» und «Ich sags auf Friedenauisch!» Raphael Cramer spielt diese Einwürfe verzerrt ab, zerhackt, rückwärts. Derweil haben sich die Sängerin Yuka Yanagihara und die Tänzerin Ichi-Go in einem der anderen Räume auf den Boden gesetzt und beginnen auf japanisch ein hysterisches Gespräch.
Stumm und unauffällig, jedoch wie ein heimlicher Zeremonienmeister agiert dazwischen der schwarzgekleidete Dirigent Vicente Larrañaga. Yuka Yanagihara, deren Kostüm an ein japanisches Schulmädchen erinnert, verlässt den Spielort und überquert die Strasse. Von dort aus singt sie, einzig begleitet von den beiden Posaunen, mit ihrem wohlklingenden Sopran: «Erkenne, wo dein wahres Mass …» Passanten bleiben stehen und filmen diese ungewöhnliche Strassenszene mit ihren Smartphones. In den Gesang mischen sich ihre Kommentare und Gespräche, das Hintergrundgeräusch der Stadt und insbesondere der Kampf mehrerer Hunde irgendwo am anderen Ende des Platzes. Der Gitarrist John Schröder beginnt mit den beiden Posaunisten eine Improvisation, in deren Verlauf er seinerseits das Loop-Gerät einsetzt und sich zudem als begnadeter Schlagzeuger entpuppt. Die konzentrierte Energie bei dieser Session heizt den kleinen, abgegrenzten Raum auf, während draussen eine Gruppe Kinder zwischen den herabhängenden Folienstücken Nachlaufen spielt. Als die Musiker zu spielen aufhören, hallt die Intensität ihrer Begegnung in der Stille noch lange nach. Draussen ruft ein Junge laut nach seinem Freund: «E-li-as!!!»
Was Novoflot hier gelingt, ist nichts weniger als die Verschmelzung von Kunst und öffentlichem Raum. Und sogleich stellen sich einige Fragen: Wo verläuft die Grenze zwischen Akteur und Zuschauer? Lässt sich der Unterschied zwischen Inszenierung und Improvisation erkennen? Und welchen Anteil trägt jeder einzelne am Geschehen in der Öffentlichkeit? Auch diese Fragen hallen nach und stimmen neugierig auf die nächsten Stationen dieses offenen Musiktheaters.
Regie: Sven Holm, Musikalische Leitung: Vicente Larrañaga, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Bühne Graft Architekten und Nino Tugushi, Kostüme: Sara Kittelmann, Komposition: Michael Wertmüller, Texte: Jürg Laederach, Video: Karolina Serafin, Licht: Jörg Bittner, Grafik: Emanuel Tschumi, Produktionsleitung: Dörte Wolter