Auf kaiserlichen Spuren

Das Bünder Festival Origen setzt seit Jahren ungewöhnliche Akzente in die Kulturlandschaft und expandierte heuer mit Karl dem Grossen.

Foto: Benjamin Hofer (www.benjaminhofer.ch),Benjamin Hofer,Benjamin Hofer

An der Stelle, an der seit dem 12. Jahrhundert im Oberhalbstein bzw. Surses die Burg Riom steht und die Talmulde von Savognin dominiert, befand sich früher ein Königshof, den der vorletzte Karolingerkaiser Arnulf von Kärtnen noch besass und dann weiterverschenkte. Vorstellbar also, dass sie zuvor schon den Karolingern diente und auch Arnulfs Ururgrossvater Karl der Grosse einst auf einer Reise durch sein weites Reich an diesem Hof übernachtete. Er soll ja die Region tatsächlich besucht haben. Zwei Täler weiter, im Münstertal, jedenfalls habe er, knapp einem Schneesturm entronnen, das Kloster von Müstair gestiftet. Und selbst wenn dies nur Legende ist: Riom und Müstair dürften Stützpunkte in seinem grossen Reich gewesen sein.

Auf der Burg Riom nun hat sich seit zehn Jahren eines der originellsten und eigentümlichsten Schweizer Sommerfestivals eingerichtet, das ohne Stars und Repertoirehits auskommt und ganz auf die Gegend abgestimmt ist: «Origen» (Ursprung, Herkunft, Schöpfung), gegründet und geleitet von Giovanni Netzer, lockt seit 2006 mit einem gewagten Origen-Programm ein Liebhaberpublikum an, denn die Thematik ist oft der Bibel entnommen (Samson, Messias, Paradies oder Sintflut). Um eine musiktheatralische Hauptproduktion herum gruppieren sich jeweils kleine Veranstaltungszyklen: Theater- und Tanzproduktionen, Gesänge in einer der alten Kirchen, auch Performances und Hörspiele in den Zügen der Rhätischen Bahn. Kunsthistorische Führungen und Ausstellungen ergänzen jeweils das Programm. Im Haus Sontga Crousch im Dorf Riom findet sich ein Sommercafé, die Scheune nebenan ist gerade im Umbau, so dass künftig auch im Winter gespielt werden kann, denn Origen expandiert und will den Betrieb ausweiten.

So zentral die Burg ist: Immer wieder verlässt das Festival Riom und sucht für die Theateraufführungen andere ungewöhnliche Ort auf: Salomon und die Königin von Saba trafen sich zum Beispiel 2010 hoch oben auf der Julierpasshöhe. Für Noah und seiner Arche wurde 2014 auf der Staumauer von Marmorera ebenfalls eine Bühne aufgebaut, an einer Stelle also, wo vor sechzig Jahren ein ganzes Dorf für die Energiegewinnung im Stausee versank. Ein andermal gastierte das Festival im Hauptbahnhof Zürich. Wie sonst nur das Festival Neue Musik Rümlingen arbeitet Origen also mit dem, was es vor Ort vorfindet. Und ebenso wie er biblische Geschichten ins Bündnerland transferiert, verändert Netzer diese weiter, reichert sie mit Varianten aus anderen Quellen an, lässt die Fantasie ausschweifen – um einen dramatischen Kern herauszuschälen. In den letzten Jahren ist er ohnehin dazu übergegangen, die Themen gleich mehrfach zu verarbeiten. Dabei erfahren sie jeweils auch eine Erweiterung ins Komische: Mit einer Wanderbühne zieht jeweils die kleinbesetzte «Commedia», bestehend aus ehemaligen Schülern der (Clown-) Scuola Dimitri, durch die Lande und spielt in den Dörfern. Heuer nahm sie sich mit einer fulminant-frechen Version eine alte Zürcher Karlslegende vor, denn im 1200. Todesjahr stand Karl der Grosse im Zentrum des Festivals.
 

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Riom mit Burg

Origen expandierte dafür einmal mehr räumlich und zeitlich. Das meiste fand zwar während der Sommermonate in Riom und Umgebung statt. Eröffnet wurde das Festival aber bereits Ende März im Oberengadin am zugefrorenen Silvaplaner See. In der weissen Schneelandschaft strahlte, beschienen von der Abendsonne, der goldene Quader des wieder temporär aufgebauten «Festspielhauses». Das Publikum sass in der Wärme auf ansteigenden Sitzreihen, vor sich die Bühne; der Blick ging nach draussen in den Schnee, von wo die Tänzer auftraten. Erzählt wurde von Karl, dem «König im Schnee», der sich in einem Schneesturm verirrt, mit Frau und Kindern ins Reich des Totenfürsten gelangt und dort mit seinen früheren Untaten konfrontiert, dem Mord an seinem Bruder Karlmann und dessen Familie, konfrontiert wird. Diese fiktive Geschichte basiert gewiss nur auf Vermutungen und nicht auf historisch verbürgten Tatsachen, aber sie bot Giovanni Netzer Gelegenheit, einigen seiner Hauptmotive nachzugehen: Herrschaft, Konflikt und Gewalt. Die Schattenseiten der Macht werden sichtbar, denn Karl der Grosse erscheint in all diesen Produktionen selten nur als der glorreiche Imperator, sondern vor allem als wilder und grausamer, machthungriger Emporkömmling.

Erzählt wurde die Geschichte im Schnee ohne Worte, nur durch den Tanz und mit der elektronischen Musik von Lorenz Dangel. Die Landschaft bildete dafür eine eindrückliche Kulisse, aber es wäre zu oberflächlich gewesen, wenn sich die Inszenierung allein darauf verlassen hätte. Diese Darstellung reichte tiefer, ins Existentielle, und ging ans Eingemachte. Das offenbarte sich auf mehreren Ebenen. Der Kälte wegen konnten sich die Tänzerinnen und Tänzer nämlich nicht in gewohnter Weise bewegen. Sie trugen schwere Schuhe und waren in die dicke Gewänder gehüllt. Die Virtuosität ihrer Gesten entfaltete sich trotzdem. Der Tanz erhielt so eine neue Intensität, die Körper rangen miteinander und liessen zum Teil nicht voneinander ab. Das wirkte beklemmend. Fast atmete man auf, als Karl und seine Familie am Schluss wieder ins Leben entlassen wurden.
 

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«König im Schnee»

Zu erleben ist bei Origen fast immer eine Art geistliches Musiktheater, nicht nur der Themen, sondern auch der Form wegen, die weniger von der Oper als vom Mysterienspiel oder einem szenischen Oratorium herrührt. Das ist ebenso einzigartig und faszinierend, wie es zunächst auch befremden mag: Jedenfalls kein typisches Programm für Sommerfrischler. Vom dramatischem Gesang ist Giovanni Netzer abgerückt. Meist rückt er den Tanz und die Bewegung der Körper in den Mittelpunkt; hinzu kommt Musik ab Computer oder gesungen von einem Vokalensemble. Das kann sich enorm aufladen wie beim König im Schnee, er kann aber auch zu einer liturgiehaften, in rituellen Stationen ablaufenden Darstellung führen, wie sie diesen Sommer mit der Produktion David zu sehen war – auch das wieder an geeignetem Ort, in Müstair nahe der Grenze zu Südtirol. Dort ging es – auf einer der karolingischen Kirche nebenan nachgebauten Bühne – um die Kaiserkrönung Karls. Dieser, ein nur gelegentlich agierender Schauspieler, blieb stumm; ein Erzähler führte durch die Chronik. Aus dem Vokalensemble, das zwischendurch gregorianische Gesänge und Responsorien von Carlo Gesualdo vortrug, lösten sich nacheinander sechs Solisten, um eine Person aus dem Leben Karls in einer neu von Edward Rushton komponierten Arie zu darzustellen: Papst Leo III., der die Krönung wieder willen ausführt, der Prophet Samuel, der als Königsmacher aus dem Alten Testament auftrat; die intrigante byzantinische Kaiserin Irene und ihr schwacher Sohn Konstantin, Karls vernachlässigte Gattin Luitgard und eine Geliebte Karls. Jedesmal erschien der Kaiser in einem anderen Licht – auch da nicht gerade positiv. Das Ganze war stimmig gestaltet; das von Clau Scherrer einstudierte Vokalensemble arbeitet seit Jahren auf hohem Niveau; die prächtigen Kostüme, die jeweils der Textildesigner Martin Leuthold von der St. Galler Textilfirma Schläpfer entwirft, gehören zu den Anziehungspunkten des Festivals. Und doch: bei diesem «David» (so liess sich Karl an seinem Hof nennen) blieb es bei einer Bilderfolge, die sich nicht verdichtete oder steigerte. Dies ganz im Gegensatz zur Tanzproduktion Kaiser im Bad, die auf Burg Riom zu sehen war. Dort rückte wiederum ein sehr körperhafter expressiver Tanz ins Zentrum: Das Leben Karls zog an einem vorbei, und in der Verbindung mit den perkussiven Klängen von Peter Conrad Zumthor und Lukas Niggli und den Motetten von Francis Poulenc entstand eine abstrakte und doch sehr bewegende Biografie.
 

Origens «Karlsjahr» wird am 5. und 6. September im Hauptbahnhof Zürich abgeschlossen: 
Requiem – Totenmesse für Kaiser Karl. Musik von W. A. Mozart und O. Weber

www.origen.ch
 

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