Über 150 Seiten stark ist das Programmbuch der chor.com. Was auf den ersten Blick unübersichtlich viel ist, entpuppt sich bei näherem Hinschauen als anregendes Nachschlagewerk: Hier sind nicht nur die Workshops, Konzerte, Vorträge, Dozentinnen und Dozenten mit kurzen Texten vorgestellt, es sind auch alle anwesenden Chorverlage mit ihren Schwerpunkten aufgelistet. So hält dieses Buch über die Messe hinaus die aktuellen Tendenzen und wichtigen Namen im deutschen Chorwesen fest.


Streiflicht 1: Chornoten «printed on demand»

In der Wandelhalle präsentieren grosse und kleine Chorverlage ihre Neuerscheinungen. Ein kleiner Stand zieht die Aufmerksamkeit mit ausgesprochen speziellen Titeln auf sich: mit Lili Boulangers (1893–1918) Psalm 130 Du fond de l’abîme oder mit den Arrangements für sechsstimmigen Frauenchor von Werken Gregor Aichingers (1564–1628), gesetzt von Helmut Steger (*1948). Es handelt sich um den Verlag inter-note printed on demand. Ob man ein vergriffenes Chorwerk sucht oder in einem Archiv eine Spezialität findet, die man aufführen möchte: inter-note ediert in der gewünschten Auflage. Man kann aber auch eine Mappe für seinen Chor zusammenstellen oder aus unpraktischen Sammelbänden Einzelhefte anfertigen lassen – alles auf Bestellung und zu einem guten Preis. Eine interessante und sehr flexible Editionsart, die mancher Rarität zur Aufführung verhilft, ohne einen Auflage-Überschuss zu produzieren.


Streiflicht 2: Chorsingen im Strafvollzug

Dass es auch in Gefängnissen Chöre gibt, ist kaum bekannt. An der chor.com stellte nun Lia Bergmann ihre Masterarbeit Böse Menschen brauchen keine Lieder? vor, in der sie deutsche Gefängnischöre und deren Wirksamkeit im Strafvollzug untersucht. Bergmann studiert an der Berliner Humboldt-Universität, arbeitet ehrenamtlich als Strafvollzugshelferin und ist selber begeisterte Chorsängerin. Von den 176 Strafanstalten in Deutschland bieten 50 Chorsingen an. Durchschnittlich singen 16 Insassen im Chor mit, es gibt jeweils eine Probe von ein bis zwei Stunden pro Woche.

Das Chorsingen spielt bei der Resozialisierung von Straftätern eine nicht zu unterschätzende Rolle. Anhand eindrücklicher Interviews mit Strafgefangenen zeigte Bergmann auf, was das Chorsingen dem Einzelnen bringt: Für die einen ist es eine Flucht aus dem Gefängnisalltag, für andere bietet es einen geschützten Raum, in dem sie respektvollen Umgang erleben und gemeinsam etwas tun. Wieder andere erfahren dabei eine Stärkung ihres Selbstwertgefühls, sie erheben ihre Stimme, ohne zu schreien, und bekommen von den Zuhörern ein positives Feedback.

Es gibt zwei verschiedene Arten von Chorsingen im Gefängnis: Die Gefängnischöre werden intern meist von der Kirche organisiert, der Chor gestaltet den Gottesdienst mit. Interessanter, weil demokratischer und offener geführt sind die externen Chorprojekte: Ein Chor von draussen tritt im Gefängnis auf und singt mit Insassen, oder ein externer Chorleiter macht im Gefängnis ein Chorprojekt. Die Wirksamkeit dieser Arbeit wurde bereits in einer amerikanischen Studie belegt. Aus solchen Projekten entsteht eine interne oder halböffentliche Aufführung, eine CD-Aufnahme, oder man nimmt an einem Wettbewerb teil – vieles ist möglich. Die administrativen Hindernisse sind jedoch hoch und verhindern solche Initiativen oft, berichtet Bergmann. Gerade hier könnten die Gefängnisse mit dem Abbau von organisatorischen Hürden viel gewinnen.


Streiflicht 3: Heinrich-Schütz-Edition

Der Kammerchor Dresden arbeitet zurzeit an einer CD-Gesamteinspielung der Chorwerke von Heinrich Schütz (1585–1672), welche 2017 abgeschlossen sein soll. Gleichzeitig gibt der Carus-Verlag in Zusammenarbeit mit dem Heinrich-Schütz-Archiv der Hochschule für Musik Dresden eine von Günter Graulich betreute, «historisch informierte» Neuedition des Gesamtwerks heraus.

Anhand einer Aufführung und eines Workshops zu den Musikalischen Exequien konnte man in der Dortmunder St. Marienkirche einen spannenden Einblick in die Arbeit von Hans-Christoph Rademann und seinem Dresdner Kammerchor bekommen. Rademann liess einige Partien des Sarggesangs ansingen, kommentierte an diesen Beispielen Schütz’plastische Vertonung, welche die Bedeutung des Bibeltextes genial und überraschend konkret «abbildet». Er liess auch die Solosänger zu Wort kommen: Wie war es für sie, die sonst das übliche Opernrepertoire singen, sich in diese alte Musik einzufühlen, sie anders zu singen? Und welche «Tricks» wendet der Organist an, um den Continuo «bildhaft» klingen zu lassen? In diesem Workshop wurde nicht nur die grandiose Qualität des Dresdner Kammerchors ohrenfällig, die Musik von Schütz offenbarte eine unerhört farbenreiche und sinnfällige Klanglichkeit.


Streiflicht 4: Leo Kestenbergs Schriften

Leo Kestenberg (1882–1962) war ein einflussreicher Musikreferent der Weimarer Republik, der nach dem Ersten Weltkrieg zum visionären Vordenker der modernen Musikpädagogik wurde und entsprechende Verbesserungen einleitete. Diese wurden an der chor.com von der Internationalen Kestenberg-Gesellschaft reflektiert und auf ihre heutige Aktualität befragt: Kestenbergs musikpädagogische Ideen sind heute so brisant wie damals.

Gerade rechtzeitig zur Chormesse ist zudem der letzte Band der Gesammelten Schriften Kestenbergs erschienen, herausgegeben von Wilfried Gruhn. Dieser vierte Band enthält alle offiziellen Erlasse und Bestimmungen, die Kestenberg zur Reform des preussischen Musikwesens und zur Verbesserung der Ausbildung der Musiklehrerschaft verfasst hat – eine wertvolle Lektüre für alle, die sich mit der Reform der Musikpädagogik beschäftigen.


Streiflicht 5: Bewegung bewegt

Viele Workshops befassten sich mit der Jugendchorarbeit. Wie bringt man Kinder und Jugendliche zum Singen? Und wie weckt man die Freude, ohne sich anzubiedern? Bewegung bewegt von Werner Schepp zeigte eine einfache, neuartige Methode: Wenn man sich zu einem rhythmisch schwierigen Lied bewegt, also im Grundrhythmus voranschreitet oder zum Liedtext passende Bewegungen ausführt, lernt man es leichter, nimmt spielerisch die richtige Haltung zum Singen ein und versteht den Rhythmus aus der Bewegung heraus. Zudem wird die Gruppe in der Bewegung anders erfahren: Der Teamgeist wird gefördert, und es macht Spass. Oft werden die Kinder auf diese Weise kreativ, erfinden neue Schrittarten zum Lied und bringen sich ein. (Folkwang Universität der Künste)


Streiflicht 6: Neues Vokalmagazin

Der Deutsche Chorverband gibt neuerdings ein eigenes Magazin heraus: Chorzeit. Das Vokalmagazin. Die Nullnummer wurde an der chor.com verteilt. Das Heft ist in erster Linie themenbezogen und keine eigentliche Verbandszeitschrift. Es werden spannende Chorprojekte und -konzerte präsentiert, viele Anregungen für Chorleiter gegeben, informative Hintergrundberichte publiziert, die zum Weiterdenken anregen – kurz: eine lebendige Chorzeitung mit viel Substanz. Die von Nora-Henriette Friedel und Daniel Schalz redigierte Monatszeitschrift ist ab Januar 2014 im Handel und im Abo erhältlich.