De musica ticinensis

Um die aktuelle Situation des musikalischen Schaffens im Tessin zu beleuchten, nutzen wir eine besondere literarische Form: den Dialog.

Der Erkenntnisgewinn durch einen Dialog geht auf die leuchtenden Beispiele von Sokrates und Plato zurück. Wir haben diese alte Form gewählt, weil sie – besser als andere – Bedingungen aufzeigt, die wenig modern erscheinen. Der folgende Dialog zwischen zwei Tessiner Musikern ist mehr oder weniger frei erfunden.

Fabio sitzt an einem schattigen Platz auf einer Restaurantterrasse.
Zeno kommt mit ein paar Minuten Verspätung.
«Du bist also ins Tessin zurückgekommen!», beginnt Zeno das Gespräch. «Wer hat dich dazu gezwungen?»
«Die unergründlichen Wege des Lebens! Aber warum fragst du, wer mich dazu gezwungen hat? Willst du damit sagen, dass es nicht empfehlenswert oder wünschenswert ist, im Tessin zu leben?»
«Das kommt auf den Blickwinkel an. Wenn du dich umdrehst und die Reflektionen auf dem See in der Dämmerung bewunderst und den warmen Herbstwind geniesst, kann das Leben im Tessin effektiv als eines der begehrenswertesten weltweit erscheinen.»
«Das ist ja nicht nichts! Und wieso sollte es dann hier für mich nicht schön sein?»
«Schau, Fabio: Du bist hier aufgewachsen, hast ein Musikstudium begonnen und – in jungen Jahren – an die besten Schweizer Akademien nördlich der Alpen gewechselt. In der Romandie und in der Deutschschweiz begann deine Karriere als Musiker und selbstständiger Musikschaffender, in einem Umfeld, das dich unterstützen und fördern konnte.»
«Ja, so ungefähr war es. Aber was du beschreibst – das sollte doch auch hier an diesem See möglich sein, in der einzigartigen Region der dritten Schweizer Kultur? Die Institutionen dafür gibt es doch…» Auf Fabios Gesicht zeigen sich Sorgenfalten.
«Ja, die Institutionen gibt es, aber sie widmen sich hauptsächlich anderen Aufgaben.»
«Wie meinst du das?»
Zeno stösst einen tiefen Seufzer aus, einen Seufzer, der besagt, dass er sich lieber nicht schon wieder mit diesem Thema beschäftigen möchte.
«Auf akademischer Stufe beispielsweise gibt es nur Ausbildungen im klassischen Bereich. Und was die Unterstützung von Personen angeht, die – in welchem Bereich auch immer – beruflich auf die Musik setzen wollen, da existiert leider gar nichts.»
«Wirklich? Ich habe gelesen, dass der Kanton Tessin jährlich fast 6 Millionen Franken für die Musik ausgibt!»
«Ja, das stimmt. Aber fast der gesamte Betrag – rund 85 Prozent davon – geht an Personen, die die Musik der Vergangenheit aufführen und die keinerlei Verbindung haben zum zeitgenössischen musikalischen Schaffen in der italienischsprachigen Schweiz.»
«Ja, aber es bleiben doch noch 15 Prozent!»
«Davon gehen rund 13 Prozent an die Organisation von Events. Und die setzen zum grössten Teil auf Musik und Musikschaffende aus dem Ausland.»
«Du bist aber nicht etwa Chauvinist, Besserwisser und Tessin-Patriot?»
«Überhaupt nicht, ich liebe die Musik aus der ganzen Welt. Aber das Tragische ist, dass wir an einem Ort aufgewachsen sind, der seit jeher glaubt, die einzige Art Musik zu machen sei es, jene aus der Vergangenheit zu reproduzieren und die Werke anderer zu hören.»
«Das macht wirklich nicht viel Sinn…»
«Es ist die Essenz des Provinzlertums und unterschätzt auch völlig, was Kultur ist und immer sein sollte.»
«Nämlich?»
«Die dialektische und nicht-universelle Darstellung dessen, was wir als Menschen sind.»
«Aber unsere Gemeinden und Städte werden doch etwas tun, um Musikschaffende zu unterstützen!»
«Leider nein. Es gibt praktisch keine Programme zur Unterstützung und Begleitung von musikalischem Schaffen. Da ist nichts: Wir fliegen unter dem Radar, das das Bestehende erfasst.»

Dieser hypothetische Dialog wurde vor rund zwei Jahren geführt. Fabio Pinto liess sich trotzdem im Tessin nieder, macht immer noch Musik und wurde Leiter der ersten Geschäftsstelle von Sonart in der südlichen Schweiz. Auch Zeno Gabaglio ist weiterhin als Musiker tätig und Präsident der Subkommission Musik des Kantons Tessin. Zusammen arbeiten sie daran, die Situation zu verbessern. Einige kleine Erfolge konnten sie schon erzielen, aber die Realität ist noch weit entfernt von etwas, das als gerechtes und normales Umfeld bezeichnet werden könnte.

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