Vogelstimmen im Zentrum der Musikforschung
Der soeben erschienene Sonderband des Schweizer Jahrbuchs für Musikwissenschaft denkt über Vogelgesang, Musik und Stille nach.
Zum ersten Mal nach seiner digitalen Neuausrichtung präsentiert das Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft eine Sonderedition, die durch die beiden Musikethnologinnen Helena Simonett und Patricia Jäggi von der Hochschule Luzern (HSLU) gasteditiert wurde und aus deren Forschungsprojekt Seeking Birdscapes hervorgeht. Vier Hauptartikel und zwei künstlerische Beiträge nähern sich dem Vogelgesang aus unterschiedlichen Perspektiven.
In ihrer Einleitung führen Helena Simonett und Patricia Jäggi ins Thema «Birdscapes» ein und stellen das Luzerner Forschungsprojekt vor. In seinem Aufsatz «The Anatomy of a Benign Failure» dekonstruiert Gergely Loch Péter Szőkes anthropozentrische Behauptung, dass sowohl der Vogelgesang als auch der menschliche Gesang auf Grund identischer neurologischer und physiologischer Vorgänge entstünde. Andrew Whitehouses Aufsatz «Inquisitory Birds» stellt die Frage nach der Ethik der Methode des Playback von Vogelstimmen, wenn es darum geht, seltene Vogelarten für Forschungszwecke aus ihrem Versteck zu locken. Ein Spaziergang durch den Schweizer Klangwald Tùn Resùn bildet die Grundlage des Artikels von Nathalie Kirschstein und Helena Simonett, in dem die multisensorischen Erlebnisse verschiedener Gewährspersonen dokumentiert und eingeordnet werden.
Emily Doolittle führt in ihre Kompositionen Gannetry ein, ein multimodales Werk, das durch die Geräusche von schottischen Basstölpeln inspiriert und in Zusammenarbeit mit dem Dichter Dawn Wood entstanden ist. Abschliessend stellen Matthias Lewy und Helena Simonett die Ausstellung Birdscapes vor, die eng mit dem Forschungsprojekt an der HSLU verbunden und 2022 in Naturmuseum Luzern zu sehen war.
Musizierende Tiere?
Dass das «Musizieren» von Tieren nun im Zentrum einer musikwissenschaftlichen Publikation steht, scheint kein Zufall. Die zunehmende Besorgnis um unsere Umwelt – hervorgerufen durch die aktuelle Klimakrise und den zunehmend schwindenden und sich verändernden natürlichen Lebensraum und der damit verbundenen Klanglandschaften – fordert ein genaues Hinschauen und Hinhören, ein radikales Umdenken über die Rolle des Anthropozäns und die Suche nach neuen Möglichkeiten, wie wir mit unserer Welt umgehen sollen.
Die musikwissenschaftliche Forschung insbesondere in den Human Animal Studies, den Sound Ecologies und der Ecomusicology gewinnt zunehmend an Bedeutung, was im vergangenen Oktober in Nürnberg eine internationale Forschungsgruppe ins Leben gerufen hat, die sich dem Forschungsschwerpunkt «Multispecies Sound and Movement Studies» widmet. Der Sonderband des Schweizer Jahrbuchs für Musikwissenschaft fügt sich mit seinem Schwerpunkt auf Vogelgesang dementsprechend gut in die aktuellen Forschungsdebatten ein.