«Ich will verstehen»: Künstlerische Forschung an Musikhochschulen

Die Diskussion über die künstlerische Forschung und Integrationsbemühungen an Schweizer Musikhochschulen haben sich intensiviert, doch ihre Potenziale werden weiterhin unterschätzt. Die folgenden Überlegungen basieren auf Studienbesuchen des Autors in Gent, Kopenhagen, Oslo und Wien.

Die künstlerische Forschung findet in den letzten Jahren durch die nationale und internationale Positionierung und Profilierung der Schweizer Musikhochschulen mehr Aufmerksamkeit. Ausgehend von den Pionierleistungen des 1996 gegründeten Orpheus Instituut in Gent wurde die künstlerische Forschung zunächst an Musik- und Kunsthochschulen im europäischen Norden und dem Vereinigten Königreich, dann in Österreich und Deutschland gefördert und institutionell erfolgreich integriert. In diese Entwicklung fügt sich auch die Gründung der Society for Artistic Research (SAR) 2010. Die Institutionalisierung der künstlerischen Forschung als Forschungspraxis wie auch in Ausbildungsgängen war eine wichtige Voraussetzung für die Einführung von akademischen und international anerkannten Abschlüssen.

Trotz der jungen Entwicklung und der teilweise unterschiedlichen Ansätze herrscht bereits Einigkeit darüber, dass künstlerische Praktiken einen wesentlichen Beitrag zu Diskursen über Wissensordnungen leisten. Als ein auf Erkenntnis ausgerichtetes Handeln – ganz im Sinne von Hannah Arendts Äusserung im legendären Interview mit Günter Gaus (1964) «Ich will verstehen» – generiert Kunst selbst Wissen. Im Wissenschaftsverständnis ist reflektiertes künstlerisches Handeln demnach als Forschung zu verstehen. Aber auch bildungspolitische Überlegungen legen die Förderung und Institutionalisierung von künstlerischer Forschung nahe. Denn im Rahmen der etablierten universitären Disziplinen fehlen Anschlussmöglichkeiten einer für die Musikhochschulen adäquaten Forschungspraxis weitgehend. Damit korrespondiert, dass aus der künstlerischen Praxis generierte und für die Musikhochschulen relevante Forschungsanliegen bisher oft Ausgrenzung erfuhren. Hinzu kommen Wettbewerbsnachteile und systemische Schwächen: Die begrenzte Anziehungskraft der Schweizer Musikhochschulen für hochqualifizierte Forschende und Promovierende sowie fehlende Karrierewege für den eigenen Nachwuchs. Auch kooperative Promotionsmodelle mit Universitäten mindern diese Problematiken nur scheinbar: Ohne ein Erstbetreuungsrecht und ohne institutionelle Sichtbarkeit auf den Diplomen tragen die Musikhochschulen trotzdem oft die Hauptlast der Betreuungsarbeit, und nur selten haben solche Kooperationen eine nachhaltige Entwicklung und Stärkung einer spezifisch musikhochschulischen Forschungskultur sowie entsprechender wissenschaftlicher Expertise zur Folge.

Für Musikhochschulen hat ein an die künstlerische Forschung gekoppeltes Promotionsrecht deshalb das besondere Potenzial, künstlerische wie wissenschaftliche Kompetenzen entwickeln und die für sie herausfordernde Vernetzung von Theorie und Praxis bewältigen zu können. Durch forschendes Lernen werden Studierende befähigt, ihre Projekte sowohl nach Massstäben der künstlerischen Exzellenz als auch nach wissenschaftlichen Standards zu reflektieren, theoretisch zu untermauern und zu präsentieren. Dies fördert nicht nur ein tieferes Verständnis der eigenen musikalischen Praxis, sondern auch für deren gesellschaftliche und historische Einbettung. Gleichzeitig begünstigt künstlerische Forschung neue Ausdrucks- und Präsentationsformate sowie kreative Problemlöseverfahren. Mit der Förderung und Institutionalisierung der künstlerischen Forschung hängt folglich auch eine Erweiterung des Musiker:innen-Profils zusammen, das – nebst der Produktion bzw. Reproduktion von Musik – auf die Generierung von gesellschaftsrelevantem Wissen und neuen Erkenntnissen zielt. Indem Musiker:innen vermehrt befähigt werden, sich aktiv in gesellschaftliche Prozesse einzubringen, trägt die künstlerische Forschung zur Profilierung des Musikstudiums in sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei. Im Kontext der aktuellen Diskurse betreffend Diversity und Nachhaltigkeit sowie kultureller Teilhabe und Aneignung kann dieser Mehrwehrt nicht hoch genug bewertet werden.

Seit einigen Jahren unternehmen die Schweizer Musikhochschulen vielversprechende aber noch weitestgehend aus eigenen Ressourcen getragene Schritte: Die Einrichtung von Forschungsschwerpunkten und von Professuren für künstlerische Forschung oder die Implementierung von Masterstudiengängen wie auch von kooperativen Doktoratsprogrammen. Diese Bemühungen sollten zukünftig durch eine nachhaltigere und systematischere Förderung als auch durch die Einführung eines seit längerem geforderten sowie dem universitären Modell gleichgestellten Promotionsrechts wirkungsvoll flankiert werden.

Prof. Dr. Antonio Baldassarre ist Vizedirektor und Leiter für Forschung und Entwicklung an der Hochschule Luzern – Musik

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