«Es gab nie ein Aber, sondern nur All-in»
Nach 23 Jahren nimmt der musikalische Leiter Marc Urech Abschied vom Siggenthaler Jugendorchester (SJO). Für Iris Eggenschwiler Anlass zu einer Reise zurück zu ihren musikalischen Wurzeln.
Samstagabend, 4. November 2023, Festsaal des Klosters Muri AG: Die Musiker:innen des Siggenthaler Jugendorchesters (SJO) betreten die Bühne, gefolgt vom Pianisten Oliver Schnyder und dem langjährigen musikalischen Leiter Marc Urech. Marc ist der Grund, weshalb ich hier bin. Einen Artikel soll ich schreiben zu seinem Abschied vom Orchester, in dem ich vor rund 20 Jahren, als junge Erwachsene, selbst gespielt habe.
Ein Holzbläser-Akkord erklingt, Streicherpizzicati, Oliver Schnyder zaubert eine Pastorale in den Raum: das Fünfte, «ägyptische» Klavierkonzert von Camille Saint-Saëns. Vom ersten Ton an bin ich mittendrin, die Energie des Orchesters steckt mich sofort an. Marc sprüht vor Emotionen, wie immer. Dennoch wirkt er schon fast cool, abgeklärt für seine Verhältnisse, das eine oder andere Lächeln bilde ich mir ein, obwohl ich das alles, in seinem Rücken sitzend, nicht wahrnehmen kann. Nach der Pause: die Neunte Sinfonie von Antonín Dvorák. Ich selbst habe das Stück damals im SJO zum ersten Mal gespielt. Einiges klingt anders als früher: gewagter, freier. Der Bogen wird ins Unermessliche gespannt – und er hält, bis ins Schlusstutti hinein. Der Applaus ist gross. Einer alten SJO-Tradition gemäss richtet Marc einige Worte ans Publikum, begrüsst neue Orchestermitglieder und verabschiedet ältere, beginnt im Flüsterton, mündet in ein riesiges Crescendo. Voller Eindrücke, Erinnerungen und Emotionen mache ich mich auf den Heimweg.
Nachhaltige Förderung
Ein paar Tage später treffe ich Marc zum Gespräch in der Musikwerkstatt Windisch-Brugg, dem langjährigen Probelokal des SJO. «Es war mir immer wichtig, eine Umgebung zu schaffen, wo man sich fallenlassen kann – weil man weiss, dass man nicht fallengelassen wird. Ist dieses Vertrauen da, sind die Jugendlichen bereit, die eigene Komfortzone zu verlassen, sich herauszufordern und herausfordern zu lassen. Und das verlange ich in jeder Probe. So geschieht Förderung in einer ganz anderen Nachhaltigkeit.» Schon früh fallen grundlegende Worte. Marc ist kein Typ für Oberflächliches, immer geht es um den Kern, das Wesentliche. Und um mehr als um Musik.
In seiner Zeit als Leiter des SJO hat Marc regelmässig grosse, technisch schwierige Werke auf die Konzertprogramme gesetzt. Saint-Saëns und Dvorák, Sinfonien von Tschaikowsky oder Brahms: «Werke, die man als Kind oder Jugendliche:r nicht schon in den Fingern hat. Das ist nur möglich, weil wir uns über vier bis fünf Monate vertieft damit auseinandersetzen können und die Jüngeren von der Energie der Älteren mitgerissen werden.» Tatsächlich ist die Altersspanne der Orchestermitglieder ungewöhnlich gross: die jüngsten sind 12, die ältesten 26. Ein Eintritts-Vorspiel gibt es nicht. «Der 12-Jährige sitzt neben jemandem, der acht Jahre im Orchester ist, 16 Programme gespielt hat. Vis-à-vis sitzt einer, der an der Musikhochschule Violine studiert. Das ist Normalität bei uns. Es ist ein Geben und Nehmen. Die Jüngeren profitieren von den Älteren, und als Ältere geben sie das später zurück. Die Jugendlichen sind im Schnitt sieben Jahre im Orchester, das ist ein Drittel ihres Lebens. Sie entwickeln sich in dieser Zeit so stark wie nie mehr. Wenn sie in dieser geschützten Werkstatt sind, entstehen Eindrücke, die unglaublich tief, unlöschbar sind – wie ein Tattoo.»
Den Spagat aushalten
Nach den Gründen für seinen Rücktritt gefragt, zögert Marc. «Das SJO war und ist familiäre Heimat für mich, seit ich selbst mit zehn Jahren im Orchester begonnen habe. In all den Jahren habe ich keine Probe abgesagt, auch während der Pandemie haben wir – wenn immer möglich – geprobt, auch wenn das wegen der Teilung des Orchesters dreifache Arbeit bedeutet hat. Es gab nie ein Aber, sondern nur All-in. Schon als Kind und Jugendlicher habe ich diese Verbindlichkeit sehr wertgeschätzt, und auch später gab es nie etwas, was mich davon abgehalten hat, mit den Jungen zu proben. Aber diese Verbindlichkeit zehrt auch. Entsprechend musste mein Umfeld, meine Familie zu oft zurückstehen.»
Übernehmen wird die Leitung des SJO der Klarinettist und Dirigent Roman Blum, einst selbst Orchestermitglied und Marcs Schüler. Zudem ist er der Sohn des Theologen Walter Blum, der das SJO im Jahr 1979 gegründet hat. «Als Jugendarbeiter – und das ist man in diesem Job – ist man in der Verantwortung, genau hinzuhören und hinzuschauen: Was trägt zu einer nachhaltigen Förderung bei? Ich wünsche Roman von Herzen, dass er das für sich herausfinden darf, dass er die Balance findet, den Spagat zwischen den Bedürfnissen der Jugendlichen und den Ansprüchen von aussen aushalten mag. Denn dafür gibt es kein Rezept. Und dem SJO wünsche ich, dass es stets Menschen in seinem Umfeld hat, die den Spagat mitgehen mögen, denn am Schluss geht es immer um die Jugendlichen. So wird sich das SJO die Werte bewahren können, die es einzigartig machen: Offenheit, Toleranz, Empathie, das Anders-sein-wollen, und sich so im Orchesterspiel zusammenzufinden.»