TSO zeigt Entdeckerlust zum 125.+1 Jubiläum
Das Thuner Stadtorchester wagte sich für sein 125+1-Jahr-Jubiläum weit aus der Komfortzone: Das TSO führte das gross dimensionierte Werk «The Big Wig» (2015) von und mit dem Stimmkünstler Andreas Schaerer und seiner Jazzband Hildegard Lernt Fliegen auf.
Die Gefühlslagen und Stimmungsschwankungen der Musiker:innen des Thuner Stadtorchesters, wenn man mit ihnen über die Realisierung ihres Jubiläumsprojekts The Big Wig (Die grosse Perücke) sprach, liessen sich wohl am ehesten mit jenen von Marathonläufer:innen vor, während und nach dem Wettkampf vergleichen: bei der Vorbereitung mal Verzweiflung und Angst, es nicht zu schaffen, dann wieder Euphorie und unbändiger Durchhaltewille; während des Events volle Konzentration und Aufgehen im Moment; nach getaner Arbeit eine Mischung aus Stolz, etwas Besonderes geleistet zu haben, Befriedigung und dem Bedürfnis nach Ruhe sowie «Nie wieder»-Gedanken und der gleichzeitigen Suche nach der nächsten Herausforderung.
In der Tat schenkte sich das TSO zum 125+1-Jahr-Jubiläum – das Projekt hatte pandemiebedingt um ein gutes Jahr verschoben werden müssen – mit der Aufführung von The Big Wig zusammen mit dem Sänger und Ausnahme-Stimmkünstler Andreas Schaerer und seiner Band «Hildegard Lernt Fliegen» einen in vielerlei Hinsicht anspruchsvollen Brocken. Angefangen damit, dass das gut einstündige Werk für Gesang/Stimme, Jazz-Sextett und Sinfonieorchester mit sechs thematischen Sätzen eine riesige und für klassische Orchester ungewohnte Besetzung verlangt – es erfordert allein acht Perkussionist:innen.
Auftragskomposition von Lucerne Festival zum ersten Mal mit Amateurorchester
Schaerer hatte The Big Wig 2015 im Auftrag von Lucerne Festival komponiert und das Werk zusammen mit dem auf zeitgenössische Musik spezialisierten Lucerne Festival Academy Orchestra im selben Jahr uraufgeführt. Seither präsentierten Schaerer und seine Band das Werk mit mehreren Orchestern und an verschiedenen Orten in der Schweiz und im Ausland – unter anderem in der Elbphilharmonie Hamburg. Der Name The Big Wig verweist auf die alten, übermächtigen Komponisten mit ihren grauen Perücken, die Schaerer beim Komponieren für ihn deutlich spürbar im Nacken sassen.
In Thun haben Schaerer und seine fünf Bandkollegen The Big Wig nun zum ersten Mal mit einem Amateurorchester aufgeführt. Und dem zahlreichen Publikum im Schadausaal des KKThun bot sich zum Auftakt der Abonnementssaison im September ein wahrlich aussergewöhnliches Konzerterlebnis.
Das stimmungsvolle farbige Licht, welches die Musiker:innen auf der Bühne umhüllte, war da nur ein kleiner Fingerzeig auf die «Andersartigkeit». Schaerer verschmilzt in The Big Wig durchkomponiert-orchestrale Klassik und impulsiv-spontanen Jazz zu einer neuen Klangsprache. Mehr noch lässt er durch seinen facettenreichen Auftritt als Band- und Orchesterleader, Stimmakrobat, Sänger und Geschichtenerzähler eine originäre Aufführungskunst entstehen.
Das Highlight der Highlights ist aber die «Human Trumpet» (Menschliche Trompete), welche Schaerer mit seiner Stimme immer wieder täuschend echt, voller Zärtlichkeit und mit weiter Seele «spielt» – und dabei das Wesen seiner Kunst für einen kurzen Moment fassbar macht: Die untrennbare Einheit meisterhafter Virtuosität und berührend-offenbarender Tiefe.
Rückblick auf das gelungene Marathon-Projekt
Nach den zwei intensiven Konzerten hat die EOV-Redaktorin mit TSO-Präsidentin und Cellistin Christina Froidevaux über das gelungene Marathon-Projekt gesprochen.
Christina Froidevaux, wie ist die Zusammenarbeit mit Andreas Schaerer und seiner Band «Hildegard Lernt Fliegen» eigentlich zustande gekommen?
Ein Geiger des TSO kennt Andreas Schaerer und hatte The Big Wig einmal live gehört. Er hat unserem Orchester die Zusammenarbeit vorgeschlagen. Allerdings war ich bei der Auswahl noch nicht in den Entscheidungsgremien dabei. Das Projekt hätte bereits vor mehr als einem Jahr realisiert werden sollen und musste pandemiebedingt verschoben werden.
Wie war die Probenarbeit mit Andreas Schaerer und der ganzen Band? Wo lagen die Herausforderungen?
Es war extrem spannend! Andreas hat uns einiges zum Werk erzählt und auch sonst viele Inputs gegeben. Er und unser Dirigent Laurent Gendre haben äusserst gut harmoniert, das hat es für uns einfach gemacht. Einerseits war das Spiel mit der Band einfacher als die Proben vorher ohne sie, da die eher schwierigen Rhythmen in der Band fast immer auch vorkommen, andererseits war es auch schwierig, vor allem bei den Soli, weil sich die Bandmitglieder dort natürlich sehr viele rhythmische Freiheiten genommen haben. Das war, glaube ich, auch für Laurent eine Herausforderung, da er das ja auch nicht gewohnt ist.
Hat es den Mitspieler:innen gefallen?
Wir hatten für dieses Projekt eher weniger Anmeldungen als sonst. (Anm. d. Red.: Die Musiker:innen aus dem TSO-Mitspieler:innenpool melden sich vor der Saison für eine beliebige Anzahl der fünf Abonnementskonzert-Projekte an.) Auch bei den Angemeldeten habe ich am Anfang eine gewisse Skepsis gespürt. Aber spätestens in der Konzertwoche ist der Funken dann bei allen gesprungen. Ich habe extrem viele strahlende Gesichter gesehen – mehr als sonst. Vielleicht wagt man bei dieser Musik auch einfach eher, seine Emotionen zu zeigen. Vielleicht wurden wir angesteckt durch den extrovertierten Sänger. Ich hoffe auf jeden Fall, dass das nachwirken wird!
Seid ihr zufrieden mit dem Resultat?
Ja, wir sind sehr zufrieden. Es war eine ganz neue Erfahrung, die auch dem ganzen Orchester gutgetan hat. Gleichzeitig freuen wir uns aber auch wieder auf Musik, bei der man sich auf dem eigenen Instrument ausleben kann. Wir Cellist:innen haben zum Beispiel mehr gezupft und Schlagzeug gespielt als Cello.
Würdet ihr nach der Big Wig-Erfahrung in Zukunft wieder einmal ein ähnliches Projekt machen?
Sicher gerne, aber nicht sofort. Inflation ist nicht gut. Es gibt leider nicht Tausend solche Werke, die geeignet und interessant wären. Es war ja nicht herkömmliches Crossover mit den Songs einer Band, die vom Orchester untermalt werden. The Big Wig wurde von Anfang an orchestral komponiert, das macht schon einen gewaltigen Unterschied.
Wie viel Publikum war da? Ich hatte den Eindruck, dass bei meinem Konzertbesuch mehr Leute im Saal sassen als bei euren „normalen“ Abonnementskonzerten?
Der Schadausaal war zwei Mal fast voll. Es kamen nicht nur mehr Leute, es kamen auch andere Leute. Und das Publikum war deutlich jünger als sonst. Ich habe aber auch von älteren Menschen und Abonnent:innen viele positive Rückmeldungen erhalten. Darüber habe ich mich besonders gefreut.
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> www.hildegardlerntfliegen.ch