Nachruf auf Dorothea Baumann
Am 29. August 2022 ist Dorothea Baumann, Generalsekretärin der International Musicological Society (IMS) von 1994 – 2019 und Privatdozentin der Musikwissenschaft an der Universität Zürich, verstorben.
Antonio Baldassare— Geboren am 4. April 1946, studierte sie Klavier an der Musikakademie in Zürich bei Bertie Biedermann (Diplom 1968) und Musikwissenschaft, Physik und neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. 1977 promovierte sie mit einer Arbeit «Die dreistimmige Lied-Satztechnik im Trecento» (veröffentlicht 1979), die von Kurt von Fischer betreut wurde. Ab 1978 war sie assoziierte Forscherin und wurde durch ihre Habilitation «Raum und Musik: Eine Untersuchung zur Bedeutung des Raumes für die musikalische Aufführungspraxis» (veröffentlicht 2011) im Jahr 2000 zur Privatdozentin ernannt. Neben ihrer Stelle am Departement für Musikwissenschaft und dem Ethnomusikologischen Archiv an der Universität Zürich dozierte sie wiederholt an der Universität Bern, am Departement für Architektur der ETH und am Institut für Musiktherapie der Zürcher Hochschule der Künste. Von 1977 bis 1996 war sie Dozentin für Organologie und Akustik im Weiterbildungsprogramm des Schweizer Radio und Fernsehens. Von 1978 – 1995 war sie verantwortlich für die Dokumentation des Programmbuchs für die Tonhalle-Gesellschaft Zürich und seit 1976 als Beraterin für Fragen der Akustik tätig. Nicht zuletzt wurde sie als Gastdozentin an die Graduate School der City University of New York im Jahr 1987 eingeladen sowie im Jahr 1998 an die Universität Innsbruck, sie trat auch regelmässig als Pianistin und Harfenistin an Konzerten auf.
Dorothea Baumann war leitendes und beratendes Mitglied von vielen renommierten nationalen und internationalen wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen: Von 1985 bis 2006 war sie Präsidentin der Sektion Zürich der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft; von 1993 bis 2004 Vizepräsidentin und von 1990 bis 1992 sowie 2005 bis 2012 Präsidentin der Schweizer Sektion der International Association of Music Libraries, Archives and Documentation Centres (IAML), von 1986 bis 2008 Quästorin der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich (AMG), von 1996 bis 2004 Mitglied der Commission Mixte des RILM, von 2004 bis 2010 Mitglied des Stiftungsrates der Kurt Leimer Stiftung und schliesslich, wie bereits erwähnt, ein Vierteljahrhundert lang (1994 – 2019) Generalsekretärin der IMS. Darüber hinaus war sie als beratendes Mitglied bei der Commission Mixte von RISM (seit 1994), beim Projekt «Universum der Musik» (seit 1997) und beim Staatlichen Institut für Musikforschung (SIM) Berlin (seit 2009) tätig. Schließlich war sie seit 2011 Mitglied im Council of Association bei RIdIM.
Dorothea Baumanns wissenschaftliche Arbeit umfasst ein breites Spektrum an Bereichen und Themen, darunter die Musik des Mittelalters und des Trecento; die Organisation von Wissen in Datenbanken; Themen der historischen und systematischen Musikwissenschaft und deren Verhältnis zueinander; Akustik, Aufführungspraxis sowie Organologie; Musikikonographie; Musiktheorie; Musikpsychologie; Musikphilosophie und interdisziplinäre Aspekte der Musik; Raumakustik und Musikwahrnehmung. Zudem engagierte sie sich stark für die Förderung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Vielfalt und Pluralität (sowohl in Bezug auf die Thematik als auch auf die Methodik) ihrer bemerkenswerten Forschungs- und Publikationstätigkeit muss als Ergebnis ihres intensiven und tiefgehenden Interesses an und der Auseinandersetzung mit aktuellen Diskussionen und Trends in der Musikwissenschaft verstanden werden – ungebrochen bis zu ihrem viel zu frühen Tod. Dabei hat sie sich nie auf die «Schlachtfelder der Positionen» zurückgezogen, was im Wesentlichen ihrer tiefen Überzeugung von der produktiven Kraft konstruktiver Diskussionen und Kompromisse geschuldet ist. In dieser Hinsicht ist Dorothea Baumann stets und unbeirrt dem Kernsatz von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) gefolgt: «Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.» Vor diesem Hintergrund ist Kurt von Fischers Charakterisierung von Dorothea Baumann als «die gute Seele des Zürcher Musikwissenschaftlichen Instituts und der Schweizer Musikwissenschaft» zu verstehen.
Die Stimme von Dorothea Baumann, die Dinko Fabris, ehemaliger Präsident des IMS, einmal als «lebendiges Gedächtnis des IMS» bezeichnet hat, ist am 29. August 2022 kurz vor Tagesanbruch verstummt, aber sie wird als herausragendes Beispiel und Vorbild für Anstand, Ehrlichkeit und Integrität in Erinnerung bleiben, die die grundlegenden Bedingungen des oben erwähnten kategorischen Imperativs von Kant sind, und als unerschütterliche Verfechterin einer beseelten musikwissenschaftlichen Haltung, die sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe nicht nur bewusst ist, sondern diese auch durch Musikforschung und Musikpraxis lebt.