Stell dir vor!
Die Klimakrise fordert auch die Musikschaffenden zum Handeln. Obwohl viele in komplexen Abhängigkeitsverhältnissen stehen, haben sie einen Handlungsspielraum. Zudem ist ihre Kernkompetenz gefragt: Es gilt neue Welten zu formulieren.
Unsere Realitäten als Musikschaffende sind verschieden. Von der Future Beats-Produzentin im Homestudio über den Sänger im Jodelchor bis zum tourenden Jazztrio bewegen wir uns in unterschiedlichsten Ökosystemen. Was wiederum viele von uns verbindet, sind die beschränkten finanziellen Mittel, mit denen wir jonglieren müssen. Gerade nach Covid. Eingespannt zwischen ökonomischem Druck und künstlerischem Anspruch kann die Dringlichkeit unserer gemeinsamen Aufgabe in den Hintergrund geraten. Das ist verständlich, aber fatal, weil uns die Zeit davonläuft. Wenn wir die globalen Treibhausgasemissionen in den nächsten acht Jahren nicht signifikant senken und die Erderwärmung langfristig auf 1.5 Grad beschränken, hat das Konsequenzen in folgender Grössenordnung: Indien, ein Land mit mehr als 1,3 Milliarden Einwohner:innen, wird in wenigen Jahrzehnten weitgehend unbewohnbar sein, weil schlicht zu heiss. Als Musikindustrie tragen wir, genau wie alle anderen Branchen eine kollektive Verantwortung, unsere ressourcenintensiven Routinen zu durchbrechen. Das können wir.
Die Musikindustrie verursacht am meisten Emissionen durch Mobilität. DJs werden an einem einzigen Wochenende von London nach Warschau, weiter nach Mallorca und dann für die Afterhour nach Berlin geflogen, Bands fahren mit kleinen oder grossen Bussen kreuz und quer durch Europa, Fans zu tausenden mit dem Auto an deren Konzerte. Wer als auftretende Musiker:in nachhaltiger handeln will, kommt nicht umhin, die Art und Weise zu überdenken, wie wir reisen.
Ein Flug von Zürich nach London und zurück verursacht pro Person rund 400 kg CO2. Das ist zwei Drittel dessen, was eine Person gemäss der Organisation My Climate jährlich ausstossen darf, wollen wir die Klimaerhitzung effektiv (und solidarisch) stoppen. Gegenwärtig verbraucht ein Mensch in Europa durchschnittlich rund 8.4 Tonnen. Zum Vergleich: Wer mit dem Zug nach London reist – via Paris, in weniger als acht Stunden –, verursacht 40 kg CO2. Auf Flüge zu verzichten, gehört zum effektivsten Klimaschutz. CO2-Kompensationen bieten da keine Abhilfe. Im Gegenteil: Sie sind umstritten, weil sie die Einsparung in die Zukunft verlagern. Ein deutscher Musiker, der seine Tournee mit dem Kauf eines Waldstückes und gepflanzten Bäumen kompensieren wollte, musste nach kurzer Zeit feststellen, dass seine Bäume einem Schädling zum Opfer fielen. Um die Emissionen zu binden, hätten sie über Jahrzehnte wachsen müssen. Daher gilt grundsätzlich: Zuerst vermeiden, dann vermindern, nur den Rest kompensieren.
Als (tourende) Musiker:innen sind wir allerdings oft eingespannt in ein komplexes Netz aus sozialen und ökonomischen Abhängigkeiten. Umso mehr sind wir darauf angewiesen, dass sich auch die anderen Akteur:innen bewegen. Diesen Prozess können wir beschleunigen, indem wir Nachhaltigkeit zum Thema machen. Immer wieder. Ganz konkret: Fragt die Intendantin eures Konzerthauses, ob die Öl- oder Gasheizung bereits ersetzt wurde und ob der Strom aus erneuerbaren Quellen stammt, gestaltet mithilfe der «Green Rider»-Vorlage euren eigenen Catering-Rider, mit dem ihr Veranstaltende etwa zu vegetarischen und veganen Essen oder dem Verzicht von Plastikflaschen bewegen könnt. Besprecht mit eurer Bookingagentur, wie das Routing eurer Tour effizienter gestaltet werden kann, diskutiert mit euren Mitmusiker:innen darüber, ob es sich tatsächlich lohnt, für dieses eine Konzert hunderte Kilometer zu fahren oder gar zu fliegen. Beantragt bei Förderstellen Unterstützung für nachhaltigeres Reisen (Miete für einen E-Van, Zugtickets, zusätzliche Übernachtung). Aus mehreren Gesprächen wissen wir, dass sich Stiftungen mehr Druck von Künstler:innen wünschen. Schliesst euch Music Declares Emergency oder einer anderen Organisation an. Und dann: Wendet euch ans Publikum: Ob über Songs, Konzertansagen oder Social Media – teilt eure Sorgen hinsichtlich der Klimaerhitzung, formuliert Utopien.
Hier kommt unsere eigentliche Superpower ins Spiel: Als Künstler:innen sind wir ja spezialisiert darauf, Realitäten zu erweitern. Über unsere Musik erschaffen wir laufend neue Orte, vom Schutzraum für unbequeme Gefühle bis zur utopischen Landschaft. In Anbetracht der Klimakrise ist diese Vorstellungskraft höchst gefragt. Es kann nicht genug Musiker:innen geben, die den Kopf in die Wolken strecken, Fragen stellen und Veränderung provozieren: Wie sehen alternative Tourmodelle aus? Wie können diese gleichzeitig ökologisch nachhaltiger, stressfreier und ökonomisch sinnvoller sein?
Was zum Beispiel, wenn jedes Konzertlokal über eine eigene Backline verfügen würde? Wenn unser Gepäck mit Cargo-Bikes im Proberaum abgeholt, zum Bahnhof gebracht und mit dem Transportservice des Zugbetreibers verladen würde und wir ebenfalls entspannt mit dem Zug reisen könnten? Wenn wir während der dreiwöchigen Tour sechs statt 20 Städte bespielen, dafür jeweils für vier Tage an einem Ort bleiben und vier Konzerte in vier Lokalen spielen würden? Wenn diese Residency-Touren gefördert würden? Wenn uns mehr Zeit bleiben würde, die lokale Musikszene kennenzulernen und Kollaborationen aufzugleisen?
Auch unfertige Ideen zu formulieren, kann ein erster wichtiger Schritt sein. Es versorgt jene Menschen mit Nahrung, die darauf spezialisiert sind, unsere Ideen in politische Realitäten zu übersetzen.