Wo und wer ist das Nicht-Publikum?

Schwindende Abo- und Besucherzahlen im Bereich des klassischen Konzertes sind heute nicht nur auf Grund von COVID 19 keine Seltenheit mehr – sie sind eher die Regel. Um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wurde dieses Publikumssegment mit verschiedenen Studien bereits weitgehend erforscht.Nur, wäre es nicht sinnvoller, wenn man viel mehr jenen Gehör verschafft würde, die zwar privat gerne Klassik hören, jedoch nicht oder nur sehr selten Konzerte besuchen? Denn von Nicht-Besuchern weiss man noch recht wenig.

Michael Bühler — Von weltweit abnehmenden Besucher- und Abonnentenzahlen beim klassischen Konzert zu berichten, ist nun wirklich nichts Neues mehr. Und dass das Durchschnittsalter eben dieses Publikums rasant ansteigt und ergraut (Stichwort: Silver-Society), ist selbst schon ein alter Zopf (einzige Ausnahme scheint Asien, wo das Publikum zwar genau wie im Rest der Welt rasch altert, aber dessen Haarpracht einfach nicht ergraut). Vor diesem Hintergrund erscheinen Befürchtung des aussterbenden Klassik-Publikums nachvollziehbar. Oder doch nicht? Denn Gemäss Erhebungen1 ist davon auszugehen, dass klassische Kultureinrichtungen gerade einmal 4.5 Prozent der potenziellen Nutzer von kulturellen Angeboten in ihre Häuser bringen können.

Wo – oder viel wichtiger: wer – sind also die anderen 95.5 Prozent?

Bis in die 1980er Jahre waren Veranstalter von klassischen Konzerten auf Grund hoher Auslastungszahlen und gestützt auf den Bildungsauftrag, resp. der damit verbundenen staatlichen Subventionen, weitgehendst von der unternehmerischen Pflicht befreit, sich dafür zu interessieren, wer im Publikum sitzt und welche Erwartungen an einen Konzertbesuch gestellt werden. Da klassische Musik zur Allgemeinbildung gehört(e), musste sie allen zugänglich gemacht werden. Wer genau «alle» sind, interessierte daher kaum.

Seitdem die Erfolgsgeschichte des klassischen Konzertes eingebrochen ist2, bemühen sich Forschung und Veranstalter vermehrt, die Erwartungen des anwesenden Publikums besser zu verstehen, um auf die individuellen Erwartungen (deren Erfüllung heute ein grösserer Stellenwert hat) eingehen zu können. Während die Kultur-Besucherforschung also mittlerweile ein viel bearbeitetes Forschungsfeld von Kultursoziologie, Kunstpsychologie oder Kulturmanagement ist3, wurde die eigentlich viel wichtigere Gruppe der Nicht-Besucher eher wenig untersucht, obwohl doch diese eigentlich im Zentrum des Interesses dieser Kultureinrichtung stehen sollten.

Das veränderte Kultur- und Konsumverhalten macht die Sache nicht einfacher. Der oder die typische Konzertbesucher/in, dem/der klare Merkmale (wie z.B. hohe Bildung, gehobenes Einkommen und gesellschaftliche Position etc.) zugewiesen werden konnten, wurde von kulturellen «Allesfressern», die sich durch Nutzung unterschiedlicher kultureller Angebote auszeichnet, verdrängt. Dieses zeichnet sich aber nicht durch Beliebigkeit aus, sondern vielmehr durch eine unvoreingenommene und tendenziell offene Haltung gegenüber anderen Kunst- oder Musikgenres.

Und anstelle der früheren Klassengesellschaft dominiert heute ein Nebeneinander verschiedener Lebensstile, die sich in bestimmten Szenen und Milieus wiederfinden4.

Für entsprechende Marketing-Bemühungen sollten also die Interessen, die sozio-demographische Struktur, aber auch die Erwartungen von Menschen dieser Lebensstile von zentralem Interesse sein.

Es stellen sich also zwei Hauptfragen:

a) Wer sind all diese Menschen, die nicht (oder kaum) zu klassischen Konzerten gehen?

Welchen kulturellen Hintergrund haben Sie? Leben sie in einer Partnerschaft? Haben sie Kinder? Welchen Musikgeschmack haben sie? Was machen sie in der Freizeit am liebsten? Welche finanziellen Mittel stehen ihnen für die Freizeitgestaltung zur Verfügung?

Aber noch viel wichtiger b) Warum gehen sie nicht zu klassischen Konzerten?

Sagt ihnen der gesellschaftliche Rahmen nicht zu? Geht in ihrem Freundeskreis sonst niemand zu solchen Veranstaltungen? Oder ist es einfach eine Frage des Musik-Geschmacks?

Gerade bei Letzterem muss man sich vor Augen halten, dass wir versuchen, uns mit unserem Geschmack von anderen zu unterscheiden und uns so sozio-ökonomische zu definieren. Mit einem Besuch einer kulturellen Veranstaltung und all seinen rituellen, habituellen und distinktiven Begleiteffekten definieren wir uns also als einzigartiges Individuum im sozialen Umfeld.

Indem ich mich an einem klassischen Konzert «richtig» zu verhalten weiss, hebe ich mich von denjenigen ab, die dies nicht können oder wollen.

Ein Besuch eines Konzertes ist also aus soziologischer Sicht5 auch Ausdruck eines Lebensstils und geht weit über den Genuss von Musik hinaus.

Ob ich ein Konzert besuche oder nicht, hängt aus Sicht der Medienforschung aber auch vom erlebten oder erwarteten Unterhaltungswert ab6. Dabei geht es – gerade bei kulturellen Veranstaltungen – nicht nur um affektive Befriedigung, also Spass zu haben oder vom Alltag abgelenkt zu werden, sondern auch um kognitive Herausforderung, also das Nachdenken über das soeben Erlebte. Positiv zum Unterhaltungserleben scheint ebenfalls beizutragen, wenn die Zuschauer etwas Persönliches über die Protagonisten erfahren7. Die These, dass das emotionale Involvement des Publikums verstärkt und damit das Gesamterlebnis aufgewertet werden könnte, indem sowohl die inhaltliche als auch persönliche Nähe zum Publikum gefördert wird8, scheint also auch hier bestätigt zu werden.

Leider muss aber festgestellt werden, dass zwar verschiedene Bereich der kommerziellen Unterhaltungsindustrie, also z.B. die Filmindustrie, TV-Shows oder Video-Games, bereits intensiv erforscht wurden, konkrete Ergebnisse oder Erkenntnisse von klassischen Konzerten liegen demgegenüber leider kaum vor.

Gerade vor dem Hintergrund des sich veränderten Kultur- und Konsumverhaltens erscheint es deshalb für Veranstalter und Musiker/innen zentral, besser zu verstehen, was das Publikum motiviert, ein Konzert zu besuchen – oder eben nicht.

Damit in Zukunft diese und andere Fragen nicht nur gestellt, sondern auch beantwortet werden können, hat sich die Kalaidos auf die Fahne geschrieben, sich dieser Thematik intensiv zu widmen. So werden sich die unterschiedlichen Disziplinen der angewandten Forschung praxisorientiert und vorausschauend mit eben diesen Fragen auseinandersetzen und den Studierenden die Erkenntnisse unmittelbar zur Verfügung stellen, damit diese optimal vorbereitet werden und es so gelingt, neue Möglichkeiten zu schaffen und eigene Kompetenzen als auch individuelle Lösungen für diese Herausforderung zu finden.

Noten

1. Schmidt, S. / Wilhelm, A. (2010): Feizeitverhalten.

2. Tröndle, M. (2011): «Das Konzert».

3. Tröndle, M. (2019): Nicht-Besucher-forschung.

4. Tröndle, M. (2019): Nicht-Besucher-forschung.

5. Blaukopf, Kurt (1982): Musik im Wandel der Gesellschaft.

6. Tsay-Vogel M./ Nabi R (2015): The power of positive action.

7. Tal-Or, N/Hershman-Shitrit M (2015) Self-disclosure and the liking of parcitipants in reality TV.

8. Tröndle, M. (2019): Nicht-Besucher-forschung.

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