Musikstudium online – Notlösung oder Vision
Der pandemiebedingte Wechsel zum Online-Studium scheint für viele Studierende wenig Probleme verursacht zu haben. Aber auch für Musik-Studierende?
Michael Bühler — Von heute auf Morgen verschob sich für Dozierende und Studierende der Bildungsalltag vom gewohnten Umfeld auf damals noch sehr oft ungewohnte Videokonferenzen oder Breakout-Räume – egal ob man sich davor scheute und technisch eingerichtet war, oder nicht.
Wie Studierende im Allgemeinen mit der neuen Situation umgehen und was diese für sie bedeutet, wurde bereits in zahlreichen Studien erforscht.
Aber inwieweit haben diese Erkenntnisse auch für Musik-Studierende Gültigkeit? Der hier vorliegende Stimmungsbarometer zeigt auf, wie Musik-Studierende der Kalaidos die Pandemie erleben.
Für diejenigen, die zumindest einen Teil des Studiums bereits vor dem ersten Lockdown von zu Hause aus im Online-Unterricht absolvierten und damit auch soziale Interaktion und das private Leben bereits entsprechend eingerichtet hatten, sollte der abrupte Wechsel einfacher gefallen sein – diese Schlussfolgerung erscheint zumindest logisch. Und tatsächlich trifft sie u.a. auch für viele Studierende des Gesundheits- oder Business-Administration-Bereiches zu.
Gemäss internen Erhebungen der Careum Hochschule für Gesundheit1, wie auch des Wirtschafts- Departements der Kalaidos2, gelang der Übergang in die Fernlehre schnell und relativ reibungslos, da diese schon vor Corona auf digitale Tools wie Zoom im Unterricht setzte.
Die Befragten äusserten sich positiv über die Zeit- und Geld-Ersparnis für den entfallenden Weg zum Campus, die verbesserte Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit, die erleichterte Familienbetreuung sowie die Möglichkeit, sich dank Headset während der Präsenzveranstaltungen mehr bewegen zu können. Negativ fielen demgegenüber die fehlenden sozialen Kontakte, das fehlende Bewusstsein, dass man sich im Studium befindet, der Zugang zu Literatur und Bibliotheken, die niederschwellige oder fachliche Auseinandersetzung mit dem Lernstoff in Pausengesprächen aus.
Und wie haben Studierende mit Hauptfach Musik diese Umstellung erlebt? Musik als Gefühlskunst lebt vom unmittelbaren, zwischenmenschlichen Austausch von Gefühlen – sowohl zwischen Interpreten beim gemeinsamen Musizieren, als auch im dynamisch-emotionalen Energie-Austausch zwischen Künstlern und Publikum, was – mikrosoziologisch betrachtet – nicht zuletzt für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist.
Die folgenden Einschätzungen basieren auf einer qualitativen mündlichen und schriftlichen Umfrage im November 2021 unter Musik-Studierenden der Kalaidos Musikhochschule. Die Umfrage-Ergebnisse sind als Stimmungsbarometer zu verstehen und erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität.
Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass eine Mehrheit der Befragten überwiegend gute Erfahrungen mit dem angebotenen Online-Unterricht gemacht hat. Hier scheint sich der Umstand, dass dieser schon vor der Pandemie fester Bestandteil der Lehrtätigkeit war, positiv auf die Bewertung auszuwirken, da insbesondere die Dozierenden im Umgang mit den technischen Mitteln, als auch mit den pädagogischen Herausforderungen des Online-Unterrichts (z.B. anstrengende Bildschirmzeit, Ablenkung im häuslichen Umfeld, oder verkürzte Konzentrations-Spanne) vertraut waren.
Während Studierende in den Bereichen Wirtschaft oder Gesundheit mehrheitlich angaben, das Studium effizienter, also zeit- und kostengünstiger gestalten zu können, da z.B. der Weg in die Uni entfällt, standen bei einer Mehrheit der befragten Musik-Studierenden weniger ökonomische, sondern vielmehr qualitative Überlegungen im Vordergrund.
So wurde u.a. die Möglichkeit, das Studium auf diese Weise besser in den Berufs- oder Familien-Alltag zu integrieren, oder aber auch der eigenen Aufnahme- oder Konzentrationsfähigkeit individuell Rechnung zu tragen, von einer Mehrheit der Befragten positiv verzeichnet.
Wie festgestellt, fiel es jenen Studierenden in den Bereichen Gesundheit oder Wirtschaft leichter, mit der sozialen Isolation umzugehen, welche bereits vor der Pandemie im Online-Unterricht «geübt» waren. Demgegenüber scheint der gesellschaftliche oder soziale Kontakt für Musik-Studierende viel schwieriger durch Online-Angebote substituierbar zu sein. Nicht selten werden in unterschiedlichen Antworten Schwierigkeiten in Ermangelung des sozialen oder gesellschaftlichen Austausches mit Kommilitonen zum Ausdruck gebracht. Die Folgen werden mit fehlender Motivation und Kraft, zu Hause wie üblich 6 bis 8 Stunden zu üben, bis hin zu Frust und Einsamkeit angegeben.
In Bezug auf die technischen Herausforderungen werden für Musik-Studierende typische, qualitative Schwierigkeiten zum Ausdruck gebracht, sodass die Übertragungs-qualität der Musik als mangelhaft empfunden wird, um an interpre-tatorischen Aspekten oder an der Klangfarbe zu arbeiten. Im digitalen Zusammenspiel verunsichert die Zeitverzögerung – auch wenn diese heute nur noch wenige Zehntelsekunden beträgt – nach wie vor eine Mehrheit der Befragten.
Hält man sich diese technischen Schwierigkeiten als auch der fehlende Energie-Austausch zwischen Interpreten und Publikum vor Augen, überrascht es nicht, dass sich die Vorspiel-Tätigkeit quasi zu reinen Übungszwecken auf den engsten Familien- oder Freundes-Kreis reduzierte, oder aber gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Und hier macht sich bei einigen ein anderes Problem sichtbar: die fehlende Anerkennung durch das Publikum.
Für einen nächsten Lockdown – den es hoffentlich nie geben wird – wünschen sich die Befragten wenig überraschend mehr Kontakt zu anderen Studierenden z.B. in Online-Seminaren, begleitete Lerngruppen oder interdisziplinäre Arbeitsgruppen.
Die Vorstellungen eines dauerhaften, optimalen Musik-Hybrid-Studium divergieren in dieser Umfrage stark. Gemäss einer leichten Tendenz scheint es aber nach Ansicht der Befragten nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sich der Theorie-Unterricht bis 100% und die Hauptfach-Lektionen bis zu 40% im Post-Corona-Zeitalter in die digitale Welt verschieben.
Hoffen wir also, dass Universitäten und Fachhochschulen sich dieser Herausforderung bewusst annehmen und sich die positiven Effekte dieser Herausforderung nachhaltig zunutze machen.
Noten
1. Conrad, C., Frech, M., Käppeli, A. (2021). Digitales Lehren und Lernen im Studium.
2. Willi Kägi, I. (2020). Livestream-Unterricht aus Studierendensicht.