«Geschichten für Ruth»
Urs Frauchigers neue Essay-Sammlung «Geschichten für Ruth» fasziniert durch eine subtile Vielschichtigkeit, die Leben, Kunst und Literatur als ein Ganzes erleben lässt.
Lucas Bennett — Mit «Geschichten für Ruth» legt Urs Frauchiger, der am 17. September seien 85. Geburtstag feierte, neun tiefgründige und zutiefst persönliche Essays vor.
Drei der Texte stellen explizit musikalische Themen in den Vordergrund, obschon die Musik auch in den anderen Texten weithin präsent ist. Am Anfang steht ein Essay über Mozarts «Zauberflöte» und Schwierigkeiten ihrer Deutung und Interpretation vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Libretto und Musik – welches nicht mit Kritik am sogenannten Regietheater spart. Der später zuweilen erlebten Trivialisierung des Stoffes stellt Frauchiger seine erste als Kind erlebte Aufführung gegenüber. Diese Verbindung von Biographischem und späterer Reflexion ist charakteristisch für das ganze Buch, welches man deshalb wohl auch (aber nicht nur) als innere Biographie in Momentaufnahmen verstehen kann.
Grossartig ist das Portrait des legendären Cellisten Pablo Casals (1876-1973). Es gelingt Frauchiger hier, im Rückblick auf seine Begegnungen mit Casals das Besondere dieser Überfigur, für Nachgeborene nur noch über Aufnahmen erlebbar, vorstell- und fassbar zu machen – auch für Nicht-Cellisten.
Nicht weniger faszinierend ist das folgende, der portugiesischen Cellistin Guilhermina Suggia (1885-1950) gewidmete Kapitel. Akribisch spürt Frauchiger dem Lebensweg der heute nur mehr wenig bekannten Künstlerin und den spärlichen greifbaren Aufnahmen nach. Nicht nur erfährt die Biographie Casals, mit welchem sie eng verbunden war, dabei eine wertvolle Ergänzung, sondern es wird der bekannteren «Meistererzählung» eine weniger bekannte weitere Erzählung zur Seite gestellt: Auch das ist Geschichte.
Eine (Wieder-) Entdeckung sind auch die Verweise auf Leben und Werk des Schriftstellers und Journalisten Joseph Victor Widmann (1842-1911), dessen fein in den Text eingewobene Zitate und Positionen das Bild eines bedeutenden Denkers und Literaten, der von Zeitgenossen (und der Nachwelt) gerne unterschätzt wurde.
Vieles wäre noch zu erwähnen, genannt seien hier noch zwei besonders eindrückliche Momente; ein Spaziergang zum corona-bedingt verschlossenen Berner Rosengarten, der gleichwohl vielfältige und tiefe Einblicke eröffnet, eine fabelhaft geschilderte ausgedehnte Wanderung des Autors mit seinem Sohn durch die Toskana, die sich dem Leser gleichzeitig als geschichtliche und kulturelle Landschaft öffnet.
Die verschiedenen Ebenen der Essays, Biographisches, Künstlerisches, Literarisches, gehen nahtlos ineinander über, bedingen sich gegenseitig und verweigern sich dadurch einer eindimensionalen, linearen Lesart. Der Autor lädt uns indessen zu einer Deutung ein, indem er die Konzepte von «Bedeutung» und das Bild des «roten Fadens» zur Diskussion stellt. Wir würden sagen: Bedeutung stellt sich in diesem Buch allenthalben ein: als Sinnzusammenhang der geistigen und künstlerischen Einflüsse, die ein Leben geprägt haben. Dabei lassen sich unzählige rote Fäden entdecken und verfolgen. Eine ungemein bereichernde und bewegende Reise.
«Geschichten für Ruth» erscheint am 2. November.
Urs Frauchiger: Geschichten für Ruth. Essays. Zytglogge, 140 Seiten.