Noch lange nicht in die Jahre gekommen
Das Schreiben über Musik hat in der abendländischen Kultur eine lange Tradition. Forschungsprojekte an der Hochschule Luzern – Musik lenken den Blick auf fast über 100 Jahre Musikkritik von Tonträgern.
Elena Alessandri, Antonio Baldassarre — Das Schreiben über Musik hat in der abendländischen Kultur eine lange Tradition. Bereits Plato hatte vor mehr als zweitausend Jahren über die ethischen Dimensionen von Musik und deren politischen Konsequenzen reflektiert. Im Zuge der langjährigen Geschichte des Schreibens über Musik entwickelte sich abseits philosophischer oder theologischer Reflexion eine Professionalisierung der kritischen Auseinandersetzung mit musikalischen Artefakten, die sich ab dem 18. Jahrhundert zu einer eigenständigen und seit dem 19. Jahrhundert zusätzlich zu einer wirkungsmächtigen reflektierenden Diskursform über Musik etablierte. Fand die musikkritische Reflexion vorerst in musikalischen Fachzeitschriften statt, wie etwa in der von Friedrich Rochlitz und Gottfried Christoph Härtel 1798 in Leipzig gegründeten «Allgemeinen musikalischen Zeitung», verlagerte sich diese während des 19. Jahrhunderts zunehmend ins Feuilleton der Tagespresse, wofür die Laufbahn des noch heute als Inbegriff der professionalisierten Musikkritik geltende Eduard Hanslick ein Beispiel bietet: Seine Kritiken erschienen ab 1864 gar weitestgehend auf der Frontseite der Wiener «Neuen Freien Presse»; ein eindeutiges Indiz der Wirkungsmacht der musikalischen Kritik im 19. Jahrhundert.
Aufgrund der Reproduzierbarkeit von Kunst – der bekanntlich Walter Benjamin mit seinem Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter der Reproduzierbarkeit» (1936) einen epochalen Essay gewidmet hat – hat sich die Musikkritik im 20. Jahrhundert neben der ursprünglichen Werk- und Aufführungskritik auch Tonaufnahmen zugewendet. Daraus erwuchs in den letzten 100 Jahren eine eigenständige Reflexionstradition, deren Haupt-fokus auf dem eigentlichen Klangerlebnis losgelöst von herkömmlichen Aufführungskontexten liegt. Dieser einzigartige Quellenkorpus liefert neuartige Informationen darüber, wie erfahrene Zuhörer*innen Musik wahrnehmen, konzeptualisieren, beschreiben und letztlich auch bewerten. Damit rücken Fragen, wie Rezensionen von Tonaufnahmen inhaltlich und sprachlich gestaltet sind, in Vordergrund, etwa: Worüber wird eigentlich berichtet? Welche Bewertungskriterien werden angeführt? Wie wird begründet, dass eine Einspielung besser als die andere sei? Und welche Rolle spielt die Musikkritik überhaupt im Kontext des heutigen digitalen Markts klassischer Musik? Mit solchen und weiteren Fragen hat sich das Kompetenzzentrum Music Performance Research der Hochschule Luzern – Musik (HSLU M) in den letzten 10 Jahren intensiv beschäftigt. In Zusammenarbeit mit dem Conservatorio della Svizzera italiana wurde zunächst von 2010 bis 2012 das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderte Projekt Reviews Reviewed realisiert. Die Erkenntnisse bildeten die Basis für die ebenfalls an der HSLU M entstandene und vom Royal College of Music in London angenommene Dissertation «Evaluating Recorded Performance» (Elena Alessandri, 2014). Darauf folgte schliesslich ein zweites vom SNF geförderte Projekt Review Impact (2016-2020), in dem die aus der Dissertation gewonnenen Erkenntnisse im Kontext des Musikmarktes analysiert wurden.
Im Kern der Projekte wurde ein Korpus von über 900 Rezensionen von Tonaufnahmen mit Klaviermusik aus dem Klassikrepertoire inhaltlich analysiert, die zwischen 1923 und 2018 in der Schweiz, in Deutschland und in England publiziert wurden. Die Auswertung der über 450 000 Wörter umfassenden Textquellen zeigt, wie divers und nuanciert die musikkri-tische Auseinandersetzung mit Tonaufnahmen ist.
Inhaltlich wird – der Natur der Sache geschuldet – die Performance am stärksten gewichtet. Allerdings werden auch viele andere Aspekte, wie etwa die Interpret*innen, das eingespielte Werk, das Instrument oder die Aufnahme-, Produktions- und Marketing-Bedingungen zur Sprache gebracht. Auf der deskriptiven Ebene zeigt sich, dass neben den musikalisch technischen Parametern, wie Rhythmus, Agogik, Dynamik oder Phrasierung, wofür eine etablierte Begrifflichkeit zu bestehen scheint, Kritiker*innen eher in Metaphern und Vergleiche ausweichen, wenn sie über allgemeinere musikalische Aspekte wie Stil, Charakter und Struktur schreiben. Insgesamt konnten 42 Themen für die Beschreibung von Tonaufnahmen ermittelt werden. Einige dieser Themen gewinnen bzw. verlieren an Gewichtung im Verlauf der Zeit, so z.B. erreichten Aspekten für die Beschreibung von technischen Aufnahme- und Produktionsprozessen einen Höhepunkt in den 1950er bis 1970er Jahren, während sie ab den 1990er Jahren an Bedeutung verloren.
Im Gegensatz zur grossen Themenvielfalt, wie die Aufnahme beschrieben wird, zeigt sich hinsichtlich der Kriterien für die Beurteilung eine gewisse Stabilität. Über den fast 100 Jahren umfassenden Textkorpus erweisen sich sieben Beurteilungskriterien als äusserst dauerhaft: drei Kriterien für die ästhetische Evaluation (Intensität, Kohärenz, Komplexität), drei Kriterien für die Beurteilung der Leistung der/des Interpret*in (Sicherheit, Verständnis, Anstrengung) sowie ein Kriterium, das die Abhängigkeit der Einspielung vom Kontext berücksichtigt. Was allerdings in diesem Zusammenhang auffällt ist, dass bei der Beschreibung oder Beurteilung einer Interpretation die rein technisch-musikalischen Parameter oft in Aussagen über die Person hinter der Performance eingebettet sind bzw. um diese Dimension erweitert werden. D.h. die technische Aussage «das Tempo wird gesteigert» wandelt sich zu «die Pianistin geht mit dem schneller werdenden Tempo ein Risiko ein, dass sie allerdings souverän bewältigt». Damit wird die Performance unter Einbezug von Annahmen über das, was der/die Pianist*in gedacht, beabsichtigt oder gewagt hat, beschrieben bzw. beur-teilt, und die drei oben erwähnten leistungsfokussierten Kriterien, nämlich Sicherheit, Verständnis und Anstrengung, werden als tragende Stützen in das ästhetische Werturteil eingebunden. Mit einer solchen Haltung würdigen die Kritiker*innen die besondere Bedeutung, die die menschliche Leistung für die Wahrnehmung und Anerkennung der Performance hat. Dadurch scheint die unter Musiker*innen weit verbreiteten Befürchtung, dass die musikalische Aufführung eines Tages durch Learning Machines und Algorithmen ersetzt werde, zumindest relativiert.
Die Textanalyse dokumentiert auch, dass die sieben Beurteilungskriterien von den Kritiker*innen nicht im Sinne einer Checkliste behandelt werden. Es wird nicht erwartet, dass eine Performance alle Kriterien erfüllt, und Kritiker*innen bewerten die Performance nicht nach dem Prinzip «je mehr desto besser». Vielmehr würdigen sie den Umstand, dass eine Performance jeweils das Produkt einer Kombination unterschiedlicher Eigenschaften ist. Als relevant für eine musikalisch wertvolle Einspielung erweist sich – wie bei einer köstlichen Mahlzeit – die Gewichtung und Dosierung von sowie das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Ingredienzien, wie etwa Komplexität und Kohärenz; Sicherheit und Verständnis. Diese Erkenntnis ist auch für den Hochschulkontext relevant, da bei Prüfungssituationen oft die Tendenz herrscht, jeweils einen vorgegebenen Katalog von vermeintlich neutralen Kriterien einzeln und für sich von oben nach unten abzuarbeiten, anstatt die Beziehungen und Abhängigkeiten der Kriterien der aktuellen Interpretation entsprechend zu gewichten.
Die aus der Textanalyse gewonnenen Resultate wurden des Weiteren in Interviews mit professionellen Kritiker*innen aus der Schweiz, Deutschland und Grossbritannien einbe-zogen und bestätigt. In diesen In-terviews kam auch die Rolle der Musikkritik von Tonträgern mit klassischer Musik, ihre Funktion und Bedeutung zur Sprache. Hinsichtlich des Profils sehen sich Kritiker*innen trotz der zunehmend prekärer werdenden Arbeitsbedingungen weiterhin als verantwortungsvolle und der Sache verpflichtete Vermittler*innen zwischen den Produzent*innen, Künstler*innen und Konsument*innen: Prinzipien wie Integrität, Respekt und Klarheit spielen bei ihrer Tätigkeit eine belangvolle Rolle. In einem fast nur noch digitalen und von Laien-Urteilen geprägten Musikmarkt sehen die Experten*innen ihre Funktion nicht in der Abgabe von Kaufempfehlungen, sondern in der Anleitung und Orientierung zum Hören. Hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang, dass einem klaren und nachvollziehbaren Urteil hohe Priorität zukommt. Die Bedingungen des heutigen Musikmarkt lassen allerdings bei den Kritiker*innen grosse Zweifel an der Bedeutung ihrer Tätigkeit aufkommen: Diese Besorgnis verdichtet sich in der in den Interviews oft aufgewor-fenen Frage, ob die professionelle Musikkritik heute noch überhaupt von Belang sei.
Von diesem Zweifel ausgehend wurde eine Online-Umfrage unter Hörer*innen klassischer Musik lanciert. An dieser Umfrage nahmen 1‘200 Personen aus 62 Ländern teil. Entgegen der stereotypen und von dem Zweifel der Kritiker*innen genährten Erwartung, gaben interessanterweise etwa zwei Drittel der Teilnehmenden an, dass sie Musikrezensionen von Tonträgern lesend oder hörend rezipieren. 80% der Teilnehmenden erwarten von einer Musikkritik, dass sie konstruktiv, respektvoll und objektiv ist. Im Einklang mit den Kritiker*innen erwarten Musikhörer*innen zudem ein differenziertes und begründetes Werturteil, das ihnen als Wegleitung fürs Hören dienen kann. Allerdings wird dabei das Profil der Autorenschaft (professionell vs. amateurhaft) als zweitrangig erachtet: die Konsument*innen legen vielmehr den Hauptfokus auf die Qualität des Textes und nicht darauf, ob die Autor*innen eine professionelle Ausbildung haben oder nicht.
In einem Online-Experiment hat sich diese Einschätzung der Umfrage aber nicht bestätigt. Proband*innen zweier Gruppen wurden mit derselben anonymisierten professionellen Musikkritik konfrontiert: Gruppe 1 erhielt die Information, dass der Text aus der Feder einer/eines professionellen Autor*in stammt, während Gruppe 2 mitgeteilt wurde, dass der Text von einer/einem Amateur*in mit Musikkenntnissen verfasst wurde. Interessanterweise wurde bei der Gruppe 1 der Text als etwas brauchbarer und vertrauenswürdiger eingestuft. Das Wissen darum, ob ein Text von einem Experten oder einem Amateur stammt, hatte aber keinen Einfluss auf das Kaufverhalten bzw. auf die Bereitschaft der Probanden*innen, die rezensierte Tonaufnahme zu erwerben, denn diese war lediglich davon abhängig, wie positiv die Kritik ausfiel.
Zusammengefasst: Die in den letzten 10 Jahren im CC Music Performance Research der HSLU M durchgeführten Studien belegen, dass Musikkritiken über den Zweck der Kritik hinaus wichtige Erkenntnisse darüber liefern, wie Musik wahrgenommen, beschrieben und bewertet wird. Diese Form des Schreibens ist äusserst komplex und nuanciert sowie stark durch rhetorische Mittel geprägt. Die Funktion und Bedeutung der professionellen Musikkritik werden zwar von der ausübenden Zunft zunehmend als problematisch eingestuft. Die Resultate zeigen aber, dass die Musikkritik eine wichtige Rolle bei der Vermittlung zwischen den Stakeholdern und bei der Orientierung und Anleitung des Musikhörens hat.
In einem kompetitiven Musikmarkt, der immer mehr mit rein quantitativen Werten Musik beurteilt und von schnellen Entscheidungen getragen wird (Ranking, Verkaufsquoten, Likes, Sterne, Benotungen usw.), laden uns Musikkritiker*innen ein, uns auf die qualitativen Eigenschaften der Musik und ihre Realisierung einzulassen. Und gerade deshalb kommt der Musikkritik eine verantwortungsvolle Rolle auch im digitalen Musikmarkt zu. Ihre Werturteile sind weiterhin gefragt und erwünscht, weil sie uns daran erinnern, dass man sich beim Hören von und der kritischen Auseinandersetzung mit Musik nicht nur auf eine unterhaltsame Reise begibt, sondern sich auch auf ein bereicherndes Abenteuer einlässt.
Dr. Elena Alessandri
… ist Leiterin Kompetenzzentrum Music Performance Research an der Hochschule Luzern – Musik.
Prof. Dr. Antonio Baldassarre .
… ist Vize-Direktor und Leiter Ressort Forschung & Entwicklung an der Hochschule Luzern – Musik.
> www.hslu.ch/reviewimpact