Kunst – zur Nachahmung nicht empfohlen
Besonderes aus der «Russischen Pianistenschule».
Frank-Thomas Mitschke — Hört Euch diese Aufnahmen an, liebe Studierende! Aber wartet damit bis nach dem Examen oder dem Wettbewerb!
Schallplatten mit Pianisten der sog. «Russischen Schule» – da kommen einem Namen wie Neuhaus, Goldenweiser und Igumnov in den Sinn, die ganze Heerscharen grosser Pianisten ausgebildet haben. Und einige von ihnen haben uns Aufnahmen hinterlassen, die verstören, aufhorchen lassen, gegen den Strom schwimmen.
Maria Yudina wäre zu nennen. Sie kommt nun gerade nicht aus dieser Tradition, sondern studierte in St. Petersburg bei Felix Blumenfeld, der auch Horowitz unterrichtete. Yudina hat viele Aufnahmen gemacht, die einen «Aha-Effekt» auslösen, die ein Werk in bislang ungewohnter Weise neu belichten. Beethovens op. 106 wäre zu nennen, die aus meiner Sicht misslungenen Brahmsschen Händelvariationen oder auch die B-Dur-Sonate von Schubert. Sie spielt das Thema nicht, sie zelebriert es – noch langsamer als Richter. Die Welt bleibt stehen bei wunderschönen Klängen, während die Zuhörer unruhig werden und sich fragen, wie sie dieses Extremtempo spannungsmässig durchhalten will. Die Yudina fragt sich das nicht, sie macht es einfach nicht. Da, wo das Eingangsthema sich in Bewegung umsetzt, zieht sie das Tempo hemmungslos an und verleiht dem Satz ein anfänglich für unmöglich gehaltenes «con fuoco». Hochinteressant zu hören, individuell – wer sich aber auf eine Prüfung oder einen Wettbewerb vorbereitet, der sollte sich kein Beispiel daran nehmen!
Ein anderer Pianist, der sich die Freiheiten nahm, die er haben wollte, war der bei Goldenweiser ausgebildete Samuel Feinberg. Wer seine Interpretation der beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers von Bach nie gehört hat, dem fehlt ein Meilenstein der Bach-Interpretation. Barock-Puristen mögen mich beschimpfen, und stilistisch-musikwissenschaftlich kann man sicher viel dagegen sagen. Aber: als ich diese Schallplatten vor vielen Jahren bekam und einfach einmal «hineinhören» wollte, bin ich mit den Noten in der Hand den ganzen Abend nicht vom Plattenspieler weggekommen! Faszinierend, nicht zur Nachahmung geeignet – aber was für eine Fantasie, welcher Klangfarbenreichtum, welch grossartige Gestaltungskraft! So spielt jemand, der nicht nur Pianist, sondern auch Komponist war! Der junge Lazar Berman fegte Ende der 50er-Jahre so stürmisch durch die Douze Etudes transcendantes von Liszt, dass er zumindest unter sportlichem Aspekt alles – alles? – alles in den Schatten stellte, das sich sonst noch mit dieser Materie befasst hat (Mazeppa, Eroica!).
Ein letzter Kommentar für heute sei Maria Grinberg gewidmet; sie studierte u. a. bei Igumnov. Wer käme heute auf die Idee, ein vierhändiges Werk von Schubert einfach einmal für zwei Hände umzuschreiben und dieses aufzunehmen? Wozu soll das gut sein, würden wir uns fragen. Die Antwort ist klar: Weil die Plattenwelt sonst um eine wunderbare Aufnahme ärmer wäre! Ich rede von Schuberts Fantasie f-moll D. 940, und wer in der Lage ist, Grinberg dabei zuzuhören, wie sie diese Schubertsche unendliche Trauer in Klavierspiel umsetzt, ohne dass ihm die Tränen kommen, der sollte sich einmal überprüfen.
Wer Interesse an weiteren Exkursionen in die Pianistik hat oder Lust bekommen hat, sich darüber auszutauschen, ist herzlich zur Kontaktaufnahme eingeladen: frank-thomas.mitschke@kalaidos-fh.ch.