Corona – eine Zerreissprobe für Musikschaffende
Das kulturelle Leben wurde vor einem Jahr jäh unterbrochen. Die Zäsur hat nicht nur die Fragilität des eigenen Lebens und Lebensentwurfs aufgezeigt, sondern auch das Bewusstsein geschärft für Abhängigkeiten, die Bedeutung eines intakten Gesundheitssystems sowie den Zusammenhang von sozioökonomischen Bedingungen und Gesundheit.
Die Musikbranche ist einer der am härtesten betroffenen Bereiche. Musikschaffende erleiden gleichzeitig einschneidende Restriktionen ihrer Berufsausübung, fühlen sich als «nicht systemrelevant» entwertet und müssen damit rechnen, dass der bereits hart umkämpfte Markt sich erst verzögert erholen wird. Befragungen in europäischen Ländern ergaben, dass 20–40 % der Musikschaffenden davon ausgehen, sich aus der Musikbranche wegbewegen zu müssen, um ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Musiker*innen schildern gleichzeitigen Drang zum Musizieren und Triggern von Ängsten durch Musizieren – eine seelische Zerreissprobe.
Die Suche nach einem Umgang mit der Ungewissheit
Während sich die Berufsverbände vereint für bessere Rahmenbedingungen und Unterstützungsgelder einsetzen, wird in Beratung und Therapie für Betroffene individuell nach Möglichkeiten gesucht, gesundheitliche Folgen zu minimieren und einen Umgang mit der Ungewissheit zu finden. Üblicherweise stehen in der Musikermedizin Spielbeschwerden im Vordergrund, resultierend aus Über- oder Fehlbeanspruchung bei der Musikausübung. Beispielsweise muskuloskelettale Beschwerden, Tinnitus oder Auftrittsangst. Aktuell sind Existenzsorgen und psychische Symptome Hauptanlass der Kontaktaufnahme.
Aus früheren Krisen weiss man, dass branchenunabhängig zunächst vermehrt Angstsymptome auftreten. Mit einer Latenz von einigen Monaten ist eine Zunahme von Depressionen, Suchterkrankungen und Suiziden zu erwarten. Diese unerfreuliche Erwartung hat sich bestätigt. Entsprechend haben Anlaufstellen ihre Kapazitäten erhöht. Zunächst standen Infektionsängste im Vordergrund, schon bald dominierte die zermürbende Sorge um Beschäftigung und finanzielle Einbusse. Schliesslich kommen Befürchtungen auf hinsichtlich der sogenannten neuen Normalität. Einige Personen haben durch die lange Zwangspause das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verloren. Andere plagen Selbstvorwürfe, als Kunstschaffende zu wenig Kreatives aus der Krisenzeit vorweisen zu können. Häufig ist Unterstützung gefragt, um Motivationsprobleme zu überwinden. Die Beweggründe können z.B. fehlende Anregung, stressbedingte mentale Beeinträchtigung oder depressive Stimmungslage sein.
Musikschaffende sind eine höchst heterogene Gruppe – sowohl bezüglich Persönlichkeit als auch Erwerbsformen. Entsprechend gibt es keine Patentrezepte. Speziell an Musikschaffenden ist, dass sie sich von früher Kindheit an auf das Musizieren fokussiert haben und weniger andere befriedigende Ausgleichstätigkeiten kennen. Ihre Identität ist mit dem Beruf enger verwoben als bei später erlernten Berufen. Oft stellen sie sich unter Leistungsdruck, streben Idealen nach. Ihre Ausbildung ist hochspezialisiert, so können sie schwer auf andere (Erwerbs-) Tätigkeiten ausweichen. Die Debatte um gesellschaftliche Relevanz trifft sie höchstpersönlich. Zusätzlich ist die Annahme verbreitet, dass Kunstschaffende sich Kraft ihrer Kreativität zu helfen wissen, gar durch eine Misere beflügelt werden. Sie trifft nur auf eine Minderheit zu: Meistens reduziert Stress die Kreativität.
Resilienzförderung und individuelle Bewältigungsstrategien als Schutz
Um die seelische Gesundheit zu schützen, nützen allgemeine Resilienzförderung und individuelle Bewältigungsstrategien. Resilienz ist die Fähigkeit, Widrigkeiten und Rückschläge erfolgreich zu meistern. Sie ist keine statische Eigenschaft, sondern kann zu einem gewissen Grad entwickelt werden. Soziale Unterstützung erfahren, einen realistischen Blick mit leicht optimistischer Note bewahren und Selbstwirksamkeit erkennen sind zentrale Faktoren. Auch das Wissen, frühere Belastungen bewältigt zu haben, ist schützend. Diese Erfahrung erwerben junge Menschen in der aktuellen Krise erst und sind daher gefährdeter als Personen mit mehr Lebenserfahrung.
Die mittlerweile bekannten Empfehlungen – Kontakte pflegen, Gedanken auf Positives lenken, Informationsmedien sparsam und gezielt nutzen, für ausreichend Bewegung, ausgewogene Ernährung, regelmässigen Schlaf sorgen – resultieren aus der Resilienzforschung und dem Wissen um den Zusammenhang von Nervensystem, Immunsystem und Psyche. Musiker*innen kommt hier zugute, dass sie schon beim langjährigen Üben gute Selbstdisziplin etabliert haben und wissen, dass Erfolge erst nach vielen Repetitionen zu erwarten sind.
Im Einzelsetting ist Klärung der eigenen Identität, somit Stabilisierung des Selbstwertgefühls, ein häufiges Thema. Besonders vulnerabel sind Personen, die auf äussere Bedrohung übermässig ängstlich-vermeidend reagieren oder übermässig abwehrend-wütend. Wichtig sind Informationen, um die eigene Reaktion zunächst als verständliche, menschliche Reaktion auf die Umstände akzeptieren zu können und um Selbstanforderungen zu relativieren. Dann geht es häufig darum, Spielraum zu erkennen und Ziele zu verfolgen, die selbst beeinflussbar sind – z.B. andere Ausgleichsbeschäftigungen zu erschliessen, neues Repertoire einzuüben, CD-Einspielen oder die Tätigkeit zu diversifizieren. Bereits werden vermehrt Weiterbildungen besucht in Lehrgängen, die auf eine Erweiterung des Berufsfeldes hinzielen, z.B. Kunstvermittlung, Management, Fundraising. Die Aussicht auf einen «Plan B» entlastet – auch wenn er möglicherweise nicht gebraucht wird. Manchmal gelingt es, ohne den äusseren Aufführungsdruck, sein Instrument mit einem Anfängergeist und Experimentierfreude wiederzuentdecken und zu einer sonst überschatteten kindlichen Spielfreude zu finden.
Musik als wichtiger Beitrag zur sozialen Gesundheit
Sehnsucht nach Musik – besonders live performances – ist auch bei Publikum und Amateurmusiker*innen gross. Auch ihnen ist die wichtige Ressource Musik als universelles Mittel, um Emotionen zu verarbeiten und um Gemeinschaft zu erleben, verwehrt. Die Restriktionen beeinflussen die Gesundheit der Gesamtbevölkerung ungünstig. Diese Krise macht nicht nur die prekären Lebensumstände sichtbar, sondern auch den Beitrag, den Musikschaffende an die sozialen Strukturen und die Gesundheit leisten.