Autismus und Musik

Die Hinweise auf komplexe Zusammenhänge zwischen absolutem Gehör und Autismus verdichten sich.

SMM — Die Fähigkeit, absolut zu hören, ist in den letzten Jahrzehnten auffallend neu bewertet worden. Seit dem 19. Jahrhundert galt es romantisierend als von der Natur oder Gott gegebenes Distinktionsmerkmal «echter» Musikprofis. Als beinahe selbstverständlich galt dabei, dass Absoluthörende in Wahrnehmung und Wiedergabe von Musik genauer seien als nicht absolut Hörende. Genauigkeit wiederum galt unhinterfragt als Qualitätsmerkmal. Genaueres Spiel wurde gerne auch gleichgesetzt mit expressiverem Spiel. Dem Narrativ folgend galten demnach Absoluthörer als eine eigene Kaste von Virtuosen des emotionalen Ausdrucks.

Diese einfachen Zusammenhänge zwischen Emotionalität, Präzision und Absoluthören werden heute allerdings mehr und mehr hinter-fragt. Eine vom Musikphysiologen Eckhart Altenmüller betreute Dissertation der Neurowissenschaftlerin Teresa Wenhart trägt dazu wesentlich bei. Kürzlich hätten, schreibt die Autorin in der Zusammenfassung der Arbeit, zwei Studien von vermehr-ten autistischen Persönlichkeitsmerkmalen bei Musikern und Musikerinnen mit absolutem Gehör berichtet. Mehrere Fallstudien und Studien mit kleinen Stichproben hätten häufiges Vorkommen von absolutem Gehör bei autistischen Personen festgestellt. Darüber hinaus sei in mehreren Untersuchungen beider Populationen ähnliche Gehirnkonnektivität in Bezug auf Über- und Unterkonnektivität des Gehirns berichtet worden. Es sei jedoch noch unklar, wie dieses Zusammentreffen erklärt werden könne. Irritierend für das traditio-nelle Narrativ der Zusammenhänge zwischen Musik, absolutem Gehör und Emotionali-tät ist, dass die Fähigkeit zur kognitiven Empathie im Falle von Autimus gar nicht oder nur schwach ausgeprägt ist, wie etwa eine Studie von Bons, Egon van den Broek und Floor Scheepers («Motor, emotional, and cognitive empathy in children and adolescents with autism spectrum disorder and conduct disorder», Journal of abnormal child psychology. Band 41, Nummer 3, April 2013, S. 425–443) feststellt.

Da sich die kritische Periode für die Ausbildung des absoluten Gehörs mit einer Periode der detailorientierten Wahrnehmung während der normalen kindlichen Entwicklung überschneidet, könnte ein für Autismus typischer detailorientierter «kognitiver Stil», das heisst, «die Veranlagung, eingehende sensorische Informationen auf eine bestimmte Weise zu verarbeiten, als gemeinsamer Rahmen für die Erklärung der Ähnlichkeiten dienen».

Wenhrt untersuchte insgesamt 64 Musikprofessionelle, unter anderm mit Elektroenzephalographie, Messungen autistischer Symptome sowie auditorischen und visuellen Experimenten. Im Allgemeinen zeigten Absoluthörende dabei mehr autistische Merkmale als Relativhörende. Die beobachteten Effekte legen nahe, dass Absoluthörende im Vergleich zu Relativhörenden tendenziell eine stärker auf Details ausgerichtete Verarbeitung und eine weniger kontextbezogene Integration besitzen.

Dies zeigt sich offenbar auch in den Hirnstrukturen. Laut Wenhart weist ein typisches menschliches Gehirn ein effizientes Netzwerks aus stark in sich vernetzten Modulen (Segregation) und wenigen Querverbindungen zwischen diesen Modulen (Integration) auf. In ihrer Studie zeigten Absoluthörenden jedoch gegenüber Relativhörenden weitestgehend reduzierte Integration und Segregation sowie reduzierte interhemisphärische Verbindungen.

Die Studie gibt einen Hinweis darauf, dass absolutes Gehör und Autismus durch Ähnlichkeiten im kognitiven Stil und in der Konnek-tivität des Gehirns in Verbindung stehen könnten. Inkonsistenzen der Ergebnisse spiegelten, so Wenhart, darüber hinaus die Heterogenität des absoluten Gehörs als Phänomen wider.

Literatur:

Teresa Wenhart: Absolute pitch ability, cognitive style and autistic traits: a neuropsychological and electrophysiological study. Dissertation (Tierärztliche Hochschule Hannover), Hannover, 2019.

Das könnte Sie auch interessieren