Der neue Alltag
Zahlreiche Lockerungs-massnahmen seitens des Bundes ermöglichen eine zaghafte Rückkehr zur Normalität – wie auch immer diese ausschaut. Studierende von Schweizer Musikhoch-schulen blicken zurück und nach vorne.
George Marti — «George & Jam», eine wöchentliche Konzertreihe, war gerade gut gestartet, als am 16. März der grosse Lockdown ausgerufen wurde: Alle Jams waren bis Ende Mai durchorganisiert, meine letzten Pädagogik-Examen für den 1. April perfekt vorbereitet, weitere Gigs, Anlässe, Projekte und die Ferien aufgegleist. Und dann der Lockdown! Alles stand still. Alles war fertig. Annulliert. Plötzlich waren nur noch ich und meine Musik. Ein neues Abenteuer.
Schon nach kurzer Zeit startete die ZHdK mit Fernunterricht. Und es machte Spass! Haben Sie schon Drum-Sessions mit Flip-Flops und Holzkisten erlebt? Es klang fan-tastisch. Alle Ressourcen wurden eingesetzt und evaluiert. Neu wa-ren auch die einzigartigen online Feierabend-Bier-Treffen, welche das Rektorat organisierte. Es ergaben sich sehr schöne Gespräche, endlich waren wieder alle da und konnten die fehlenden inspirierenden Momente im Toni Areal ein wenig kompensieren. Es waren die täglichen Kontakte, der Austausch, das Proben mit den Bands, all die Menschen, die mir fehlten. Die gute Zusammenarbeit mit den ZHdK-Dozenten im Einzel-, Ensemble- oder Big Band-Unterricht habe ich schon immer sehr geschätzt. Während der virtuellen Zusam-menarbeit erlebte ich eine sehr intensive Aufmerksamkeit und gegenseitiges Verantwortungsbewusstsein. Diese kostbaren Momente gaben viel Vertrauen und Zuversicht. Plötzlich verbrachte ich fast täglich Zeit auf dem Hometrainer oder genoss Corona-konforme Spaziergänge in der Natur. So lange hatte die Bewegung im Alltag zu wenig Platz gehabt. Ich fühlte mich gut. Zufällig traf ich am Waldrand alte Freunde, die ich viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Immer wieder wurde ich so überrascht. Vom neuen Alltag und von mir.
Ich konnte spontan entscheiden, intensiv arbeiten oder auch bewusst eine Pause an der Sonne geniessen. So fand ich neben dem Studium Zeit, mein zweites Masterprojekt zu planen oder an der Postproduktion von «Playas» weiter zu arbeiten. Schliesslich hat mich Pfarrer Andreas Maurer eingeladen, einen online-Gottesdienst für die reformierte Kirche Zug durchzuführen. Dabei improvisierte ich in der Werkstatt der Zugerland Verkehrsbetriebe zu den Themen «Unterwegs-Sein», «Wertschätzung», «Resilienz» und «Abschied». Ein spezielles Engagement, das mir persönlich sehr viel bedeutet hat. Gleichzeitig war es für mich ein Abschluss des Lockdowns. Ich spürte plötzlich die Lockerung, die Massnahmen hatten gewirkt, das Innehalten, das Dranbleiben und das Weiterentwickeln haben sich gelohnt.
Mit meinen Auftraggebern bin ich in regelmässigem Kontakt, die Jams kann ich wieder aufnehmen. Sobald es die Situation erlaubt, beginne ich neu aufzubauen. Neue Ansätze sind entstanden. Konzerte und kulturelle Veranstaltungen kommen zurück, vorsichtig und klein. Aber gut und stark. Wir werden wieder live spielen und alle eine neue, tiefere Leichtigkeit und Freude empfinden.
George Marti
… studiert im Master Musikpädagogik Jazz und Pop an der ZHdK.
Jonas Inglin — Im Nachhinein fühlt es sich an, als sei alles rasant schnell gegangen. Zuerst, mit den ersten Nachrichten aus Wuhan, überkam mich schleichend eine Unsicherheit, der ich aber vorerst wenig Beachtung schenkte. Doch kaum eine Woche später stieg Tag für Tag das Bewusstsein darüber, dass dieses Coronavirus mich sehr wohl auch betreffen würde. Zuerst wurde noch darüber gesprochen, welche Vorkehrungen getroffen werden müssten, um Konzerte durchzuführen, und teils wurden sogar bereits konkrete Massnahmen geplant. Aber mit der Pressekonferenz des Bundesrates vom 16. März war schnell klar, dass nichts davon realistisch ist, und meine dunkle Vorahnung bestätigte sich: Ich würde in nächster Zeit keine Probe leiten, kein Konzert spielen oder dirigieren und auch unterrichten würde ich vorerst nicht.
Von da an erlebte ich in vielerlei Hinsicht eine Achterbahnfahrt: meine grundsätzliche Stimmung, meine Motivation, mein Sicherheits- aber auch mein Selbstwertgefühl – alles schwankte. Obwohl ich mich in einer sehr komfortablen Situation befinde (mein Einkommen ist dank verschiedener Festanstellungen nicht zu stark betroffen, meine Wohnsituation ist fantastisch, und ich habe die Möglichkeit, so lange zu üben wie ich will), war es nicht immer einfach. Es wurden einige Projekte abgesagt oder verschoben, auf die ich mich sehr gefreut hatte, darunter auch die Tournee mit dem Duo Amstad Inglin, die mir besonders am Herzen lag. Ich begann mich zu fragen, warum ich denn überhaupt üben sollte, wenn ich ja in nächster Zeit sowieso nicht spielen würde, ja, warum man überhaupt irgendetwas tun sollte, wenn quasi alles rundherum stillsteht.
Antworten darauf habe ich verschiedene gefunden. Die wohl schönste ist, dass man eben Aktivitäten auch der Aktivität wegen ausüben kann. Ich spiele ausserordentlich gerne Posaune, also brauche ich eigentlich keinen weiteren Grund dafür. Eine banale, selbstverständlich wirkende Erkenntnis, und doch hatte ich es zwischenzeitlich vergessen: Ich bin gerne Musiker, weil ich gerne spiele. Natürlich ist es schöner, mit Mitmusikerinnen und Mitmusikern, mit Publikum, mit Applaus, mit Bier nach dem Konzert zu spielen. Aber auch allein, ganz ohne Zuhörerinnen und Zuhörer und nur für sich selbst ist es etwas Wundervolles, und ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen eine solch schöne Erkenntnis aus dieser Krise mitnehmen können.
Jonas Inglin
… studierte an der HSLU – Musik Profil Klassik, gefolgt von einem Master of Arts in Musikpädagogik mit Minor Jazz Performance.
Fabian Ziegler — Statt Konzerte, Unterricht, und Vorlesungen dominieren Zoom-Meetings, ungewohnte Übe-Umgebungen und Einsamkeit den Alltag von uns Musikstudierenden. Die Corona-Krise und deren Einschränkungen treffen die Szene der Kunstschaffenden besonders hart. Auch für uns als Colores Trio ist das ein spezieller Moment mit besonderen Herausforderungen. Trotz allem versuchen wir, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen und sind so gesehen ungeahnt produktiv – allerdings auf ganz anderen Ebenen. Social Distancing trifft uns als Kammermusikensemble wie ein Pfeil Achilles‘ Ferse. An grosse Konzerte, Produktionen und eigens gesteckte Ziele war bis vor kurzem nicht einmal mehr ansatzweise zu denken. Streaming über Social-Media-Kanäle ist nur ein schwacher Trost. Auch die Motivation, produktiv zu üben, liess innert den ersten Wochen rapide nach. Gleichzeitig taten sich jedoch rasch ganz neue Bereiche abseits vom Instrument auf, denen sonst im gewohnten Alltag oft und gerne zu wenig Aufmerksamkeit zu Teil wird. Administrative Themen wie Website-Gestaltung, öffentliches Social Media-Auftreten, das Erkundigen über Angebote der Streaming-Dienste, aktuelle Lebensläufe, gute Fotos… rundum eine Generalsanierung der Ensemblestruktur. Ebenso hat sich in dieser langen Phase des Ausharrens auch eine ganze Menge an Zeit gefunden, neue Ziele zu formulieren, Themen der Musikbranche zu diskutieren und vor allem unsere Ideen und Meinungen auszutauschen. Kurzum sind wir wieder ein grosses Stück vorangekommen, und der in Zukunft zu beschreitende Weg steht klar vor uns. Diese Zeit, die uns alle vor enorme Herausforderungen aller Art stellt, birgt jedoch auch die Chance, die Hektik des Alltags loszuwerden, um gelassen und mit neuer Motivation wieder durchzustarten. Wir freuen uns, bis wir wieder gemeinsam musizieren dürfen und fiebern ebenso auf die kommenden Konzerte hin.
Fabian Ziegler
… studiert Schlaginstrumente (Master Music Pedagogy – instrumentale/vokale Musikpädagogik – Klassik) an der ZHdK.
Sandro Erni — Im Januar habe ich erstmals von COVID-19 gehört, aber ich hätte natürlich nie vermutet, dass dies mein Musikerleben derart beeinflussen wird. Als im Februar in Italien die Fallzahlen plötzlich anstiegen und im März dann die Konzerte, die ich besuchen wollte, und auch die, in welchen ich spielen sollte, verschoben oder abgesagt wurden, wurde mir bewusst, dass dies mein musikalisches Wirken in grossem Ausmass beeinflussen dürfte.
Die Hochschule hat uns regelmässig per Mail informiert. Man bekam auch viele Massnahmen durch die Pressekonferenzen des Bundesrates mit, etwa die Veranstaltungsverbote und Schulschliessungen. Ich erinnere mich, als ich nach drei Stunden Tonsatzunterricht die Push-Mitteilung mit der Bekanntgabe der Schulschliessungen erhielt, diese gelesen habe und realisierte, dass wohl die nächsten Wochen oder Monate nicht mehr so sein werden wie gewohnt.
Mein musikalisches Leben hat sich teilweise sehr stark verändert, blieb aber in einigen Bereichen auch unverändert. Die drastischste Veränderung ist, dass ich bis zum 31. Juli keinen Präsenzunterricht bei meinem Professor haben darf. Da ich schon vor der Pandemie ein gutes Mikrofon besass, kann mein Professor einigermassen gut nachvollziehen, wie ich spiele. Jedoch gehen sehr viele Aspekte über den Online-Unterricht verloren: Zum Beispiel die kleinen, für die Musik essenziellen Nuancen, seien sie im Klang oder sonst in der Musik, welche nicht über ein Mikrofon übertragen werden können. Am meisten stört mich beim Online-Unterricht, dass es bei Zoom manchmal kleine Verbindungsprobleme gibt, die das Programm aufzuholen versucht, womit der Rhythmus aufgrund der daraus resultierenden Temposchwankungen der Übertragung für das Gegenüber schlecht nachvollziehbar wird. An Auftritten fehlte es mir in dieser Zeit erstaunlicherweise nicht so sehr. Ich konnte in verschiedenen Tele-Gottesdiensten spielen. Dies war gut, um die Auftrittsroutine nicht zu verlieren, und ich möchte hier allen Kirchgemeinden ein grosses Dankeschön aussprechen, da diese vielen Musikern auch in solchen Zeiten immer noch schöne Auftrittsmöglichkeiten ermöglichten.
Was ich jedoch sehr bedaure sind die ausserkirchlichen Engagements, die plötzlich wegfielen. Gerade die kammermusikalischen Aktivitäten, aber auch verschiedene Orchesterkonzerte mit Programmen, auf die ich mich schon einige Zeit sehr gefreut hatte. So auch die Podien der Trompetenklasse, ist es doch schade, dass man die neu erarbeiteten Werke nicht einem Publikum präsentieren kann.
Ich bin froh und erleichtert, dass sich die Fallzahlen in der Schweiz sehr gut stabilisiert haben, das Gesundheitssystem nicht überlastet wurde und daher diese Lockerungen nun möglich sind. Es ist nachvollziehbar, dass die Hochschulleitung den Präsenzunterricht bis zum nächsten Semester abgesagt hat, so dass die ausländischen Studierenden die Möglichkeit hatten, zu ihren Familien zurückzukehren. Jedoch bedaure ich es sehr, dass der Präsenzunterricht bis in den August eingeschränkt bleibt, obwohl rein lockerungstechnisch mehr möglich wäre. Grundsätzlich sehe ich mich als 17-Jähriger nicht in der Situation, andere kritisieren zu dürfen. Doch zwei Wünsche habe ich: ich hoffe, dass der normale Präsenzunterricht möglichst bald wieder erlaubt ist, da die Studierenden und die Professoren, welche vor Ort sind, Zeit und die räumlichen Möglichkeiten dazu hätten. Und ich hoffe, dass solch innovativen Formate, wie ich sie persönlich durch Engagements im kirchlichen Bereich erlebt habe, weiterhin stattfinden und bei ähnlichen Krisen vielen Musikern eine gewisse Unterstützung bieten.
Sandro Erni
… studiert Trompete, ist Jungstudent des PreCollege Musik der ZHdK und besucht das Kunst- und Sportgymnasium Rämibühl in Zürich.
Catalina Paredes — Ich komme aus Santiago de Chile, einer Stadt mit fast sechs Millionen Einwohnern, in der sich viele unterschiedliche Realitäten begegnen. Südamerika hat unglaublich viele Facetten, eine soziale Distanz existiert dort praktisch nicht, man grüsst und verabschiedet sich stets mit Küssen und Umarmungen. Auch wird viel getanzt, und im öffentlichen Verkehr gibt es kaum Platz zwischen den vielen Menschen. Das Jahr 2019 endete mit vielen sozialen Spannungen in Südamerika, und infolge der Klimakrise ist die Armut stärker spürbar. Doch unsere Geschichten sind stets voller Schwierigkeiten, und Krisen sind wir uns gewohnt – immer wieder stehen wir auf.
Im Januar vernahm ich, dass die Hochschule die Anweisung gab, dass Studierende aus China zu Hause bleiben sollen. Als im Februar ein Mitstudent nach China reiste brachte ich ihm seinen Kontrabass zum Bahnhof – und da merkte ich: es ist ernst. Dann ging alles sehr schnell. Als die Schliessung vom Toni-Areal (für mich wie mein Zuhause) bekannt wurde nahm ich alles mit, was ich dort hatte: Noten, Pflanzen, Bögen, Kleider – und natürlich mein Instrument. Die Mitteilung vom 27. März, dass ausländische Studierende so rasch als möglich in ihre Heimat reisen sollen, versetzte mich in Panik. Ich fing an, über alles nachzudenken, was mit der Heimreise zusammenhing: Fliegen oder nicht? Die Mietwohnung kündigen? Was will ich? Was kann ich? Nun, ich blieb hier und verbrachte den Rest der folgenden drei Monate alleine zu Hause und übte. Normalerweise habe ich viele Proben, und für mich gibt es keine bessere Mission als in einem Ensemble die Basslinie zu spielen. Seit März habe ich aber nie mehr mit jemand anderem musiziert. Es gab sehr produktive Wochen und andere, die einfach schrecklich waren. Und irgendwann hatte ich auch keine Lust mehr, täglich Instant-Suppe zu essen. Ich war froh, dass die Hochschule während der Krise verschiedene Links für psychologische oder finanzielle Hilfe angab. Am meisten stärkte mich der unglaubliche Humor und die Energie meiner Lehrer Wies de Boevé und Duncan McTier. Sie haben alles gegeben, damit es mir gut ging, sie haben sogar Meisterkurse organisiert!
Nun bin ich froh, dass Lockerungen kommen. Ich habe zwar noch etwas Angst, dass es wieder einen Ausbruch gibt, aber ich bleibe optimistisch, dass sich die Situation in der Schweiz weiter verbessert (leider kann ich dasselbe nicht über mein Heimatland sagen). Endlich kann ich wieder planen, Kollegen treffen, ein Bier trinken. Aber ich denke, dass in mir nichts mehr so sein wird, wie es war. Ich will keine Angst haben, aber bewusster durch die Welt gehen. Ich bin froh und dankbar, hier zu leben und zu studieren. Trotzdem frage ich mich, ob sich das alles lohnt? So weit weg von zu Hause entfernt zu sein in einer solchen Krise? Doch meine Antwort lautet vorerst: Ja, auch wenn mein Herz in Chile ist.
Ich habe viel gelernt in den letzten Monaten: wie zerbrechlich alles ist, wie wichtig Kommunikation ist, wie wertvoll körperlicher Kontakt ist, aber auch wie wunderbar Einsamkeit sein kann, wie undiszipliniert ich bin, wie globalisiert die Welt ist, welche Leute sich wirklich um mich kümmern, wie sehr ich meine Mama vermisse und dass es Zeit ist, einen Freund zu haben. Das Einzige, was ich sicher in meinem Leben habe sind die Musik und mein Kontrabass. Jetzt wird die Arbeit in Kammermusikgruppen viel wertvoller, und vielleicht ist es eine Chance, die Musik aus den Theatern zu holen. Musik braucht ein frisches Publikum, wir müssen den Menschen klassische, moderne und zeitgenössische Musik näher bringen. Ein Konzert ist nicht nur ein Moment der Entspannung, sondern auch ein Moment des Lernens. So wünsche ich mir, dass alle Menschen dieser Welt ein Zuhause haben, lieben und geliebt werden. Dass Staaten und Nationen unseren Planeten ernst nehmen und wir verstehen, dass es wichtiger ist, in die Wissenschaft und die Gesundheitsdienste zu investieren anstatt in Waffen und Kriegsmaterial. Der gegenwärtige Grad der Globalisierung ermöglicht es uns, besser zu verstehen was Ursprung und Ziel von allem ist. Aber es ist nicht so, dass wir mehr brauchen, es ist so, dass wir mit weniger in Frieden leben können.
Catalina Paredes
… studiert Kontrabass (Bachelor Musik – Klassik – Instrumental/Vokal) an der ZHdK.