Digitalisierung und Musikhochschule
Einst hiess es, dass die Digitalisierung die Musikbranche zerstöre. Inzwischen ist klar, dass die Digitalisierung diese auch wieder aufgebaut hat. Welche Rolle spielen die neuen Technologien in der Ausbildung? In dieser und den folgenden Nummern wird dieser Frage nachgegangen, angefangen mit Eindrücken von der Kalaidos Musikhochschule und der Hochschule für Musik FHNW Basel.
Ingo Laufs — Man kann sich wahrhaftig nicht darüber beschweren, dass der Begriff «Digitalisierung» zu selten im täglichen Sprachgebrauch genutzt wird. Welche Einsatzmöglichkeiten, welche Entwicklungen und welche Vorteile sind für das Studium an einer Musikhochschule durch Digitalisierung vorstellbar? Dieser Frage ging die Kalaidos Musikhochschule nach, indem sie den gesamten Komplex Musiktheorie sozusagen auf den digitalen Prüfstand stellte.
Im Verlauf einer langen Arbeitsphase entstand so für die Einzelbe-reiche der Musiktheorie (Tonsatz, Gehörbildung, Höranalyse und Stilkunde, Formenlehre und Analyse, Akustik, Instrumentenkunde und Musikgeschichte (mit den Adaptionen im Jazz/Pop-Bereich)) ein System, das mehrere Unterrichtsarten in sich vereinigt. So besteht jeder der genannten Bereiche aus Unterrichtseinheiten in verschiedener Gewichtung mit unterschiedlicher ECTS-Anrechnung, und jede Unterrichtseinheit besteht aus einem Komplex aus Einzelunterricht, Gruppenunterricht, Unterricht mit Dozierenden und Unterricht ohne Dozierenden sowie einem relativ hohen Anteil an Selbststudium.
Der Unterrichtsstoff steht den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für eine bestimmte Zeit über das hauseigene Kommunikationsportal zur Verfügung; so können die Studierenden ihn immer wieder abrufen und als Hilfestellung nutzen. Der grösste Teil dieser beschriebenen Situation wird online vermittelt, auch Prüfungen werden auf diese Art und Weise möglich. Studierende können also demnächst entspannt im heimischen Wohn- oder Arbeitszimmer ihren Theorieunterricht erhalten und ihre Prüfungen schreiben – was keineswegs gleichbedeutend mit fehlender Kontrolle ist. Mit Kontrolle ist das Nachvollziehen der Lernfortschritte gemeint, das Gewährleisten des Fortschritts in der Bewältigung des Lehrstoffes, also eine Betreuung, welche über das Unterscheiden zwischen «richtiger» und «möglicher» oder gar «falscher» Lösung hinausgeht. Denn letzteres lässt sich technisch leicht lösen, indem man die möglichen Lösungen dem Lernenden einsehbar macht. Hingegen ist ein kommentiertes Feedback nötig, richtig und falsch muss innerhalb eines ästhetischen Bezugsrahmens verstanden werden können. Gemeinsam mit einigen ihrer Kooperationspartner wird die Kalaidos Musikhochschule diese bisher nur mit einzelnen, freiwilligen Studierenden getestete Version ab April testen.
Eine weitere, sicher zu diskutierende Einsatzmöglichkeit digitaler Medien wäre die Anerkennung von Videoaufnahmen bzw. Links zu Youtube-Aufnahmen als Zulassungsprüfung im künstlerischen Bereich. Sicher gibt es viele Vorteile bei der physischen Präsenz, den Live-Klang, die Persönlichkeit. All das ist deutlicher wahrnehmbar, wenn man sich gegenüber sitzt. Aber ist es im Zeitalter der Digitalisierung und der Globalisierung nicht auch erlaubt, nicht nur über die Fragen der Nutzbarmachung dieser Entwicklungen für das Studium an einer Musikhochschule nachzudenken, sondern sie anzuwenden, sei es auch nur versuchsweise? Wer nicht probiert, kann nicht ablehnen. Und so hat sich die Kalaidos Musikhochschule, die schon lange Aufnahmeprüfungen via Youtube akzeptiert, wenn sie von Studierenden aus entfernten Ländern eingereicht werden, entschlossen, auch in ihrem Stipendienwettbewerb diese Form der Bewerbung und Teilnahme zu akzeptieren.
Somit sind die Chancen der Digitalisierung für eine Musikhochschule deutlich. Die Digitalisierung ermöglicht zum einen das anschauliche Aufbereiten der Lehrinhalte: Bild, Ton und Analyse können zum einen zusammengebracht und die zu lehrenden/lernenden Aspekte fokussiert und an den Beispielen pointiert aufbereitet werden. Zum anderen können diese Inhalte über die Dauer einer traditionellen Unterrichtsstunde hinaus dauerhaft einsehbar bleiben. So wird die Zeit des Lernens verlängert. Das als «Blended Learning» bezeichnete Lernen kann also zu einer vertieften Form des Lernens führen.
Natürlich sind auch die Risiken zu beachten. Diese bestehen in einer allzu menschenfernen, quasi ausschliesslich auf das technisch Realisierbare reduzierten Darbietungsform der Lehrinhalte. Das Risiko besteht darin, den Menschen – und damit die Lehrperson – überflüssig machen zu wollen. Das wird nicht gelingen. Die Materie ist zu komplex, ferner ist die Lehrperson ein Bezugspunkt, welcher in seiner Funktion nicht zu unterschätzen ist. Die Lehre bekommt ein «Gesicht». Häufig – insbesondere bei Kreativaufgaben – entstehen Probleme, welche über das «Realisieren von Tönen» hinausgehen. Hier ist die persönliche Ansprache und Betreuung unumgänglich.
Die Studierenden müssen selbstverständlich auch über passende technische Voraussetzungen verfügen. Dies hängt von der Aufmachung der digitalen Medien ab. Es gibt zum Beispiel käuflich zu erwerbende Programme im Bereich Gehörbildung (Earmaster), für welche den Hochschulen Gruppenlizenzen vergeben werden. Hierfür ist ein Rechner mit Kopfhörer notwendig, zum Thema »Vom Blatt Singen» zusätzlich ein Mikrofon. Für die meisten Fälle sollte aber die Grundausstattung genügen, also: Internetzugang, Rechner mit Audio- und Videofunktion, Emailzugang, denn das Lehren muss mit jenen Möglichkeiten gelingen, über welche die Studierenden meistens verfügen, ohne sich in Unkosten stürzen zu müssen. Die Hochschulen ihrerseits benötigen Lehr-Lernplattformen, welche einen Zugriff den Studierende den Zugriff auf die Inhalte erlauben.
Ingo Laufs
… ist Fachbereichsleiter und Dozent für die Fächer Tonsatz, Analyse, Formenlehre, Arrangement, Komposition an der Kalaidos Musikhochschule.
Elke Hofmann — Der innovative Einsatz digitaler Technologien in der Lehre ist zum Attraktivitätsmerkmal einer Hochschule geworden. Die Verwirklichung des alten Traums von einer zeitlichen und örtlichen Flexibilisierung von Lehre ist ein Segen überall dort, wo Wissen möglichst individualisiert an viele Menschen vermittelt werden soll. Gleichzeitig bedeutet sie immense Herausforderungen, sowohl für die Entscheidungsträger über Investitionen im Umfeld rasant veraltender Technologien, als auch für die Lehrenden, die ihre medialen und didaktischen Kompetenzen den Anforderungen der jungen Studierendengeneration fortlaufend anpassen müssen.
Der digitale Wandel birgt für die tradierten, hoch individualisierten Lehrformen professioneller Musikausbildung andere Fragestellungen und Herausforderungen als für die typisch universitäre Wissensvermittlung.
Selbst mit Hilfe modernster digitaler Technologien lässt sich physische Präsenz, unerlässlich für die Vermittlung der künstlerischen und technischen Essenz der Beherrschung eines Instruments bzw. der Stimme oder des kreativen Prozesses einer Improvisation oder Komposition, bisher noch nicht in befriedigender Form übertragen. So scheint gerade im Kerngeschäft einer Musikhochschule, dem künstlerischen Einzelunterricht und den begleitenden Kleingruppenunterrichten, die verlockende zeitliche und örtliche Flexibilisierung derzeit (noch) nicht erreichbar. Für die Wahl des Studienortes bliebt bisher die Anziehungskraft der Hauptfachlehrkraft, zusammen mit der Attraktivität des Campus in Hinblick auf weitere praktische Erfahrungen im gewählten Hauptfach oder dessen Spezialisierung, ausschlaggebend.
Im Rückblick auf die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte scheint es eine Frage der Zeit, dass sich auch dieses Paradigma ändern wird; die bereits bestehenden Technologien werden europaweit intensiv beforscht und generieren schon jetzt eine neue Kultur der musikalischen Interaktion.
Digitale Medien prägen längst den Alltag an der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel: Studierende und Lehrende spielen aus digital repräsentierten Noten auf Tablets, verwenden Online-Bibliothekskataloge und wissenschaftliche Rechercheportale und machen die eigene musikalische und/oder wissenschaftliche Arbeit in Webpräsenzen oder Social Media mittels digitaler Video- und Audioaufnahmen oder Live-Streaming sicht- und hörbar.
Innerhalb der tradierten Lehrformen entwickeln Lehrende digitale Werkzeuge für die Vermittlung spezieller Inhalte (z.B. Intonation/Stimmungssysteme) und erproben digital gestützte Prüfungsformate; Pädagogikstudierende beschäftigen sich mit der Didaktik von Lehrvideos. Learning Management Systeme und kollaborative digitale Gruppenräume ermöglichen neue Qualitäten in der Nutzung der Kontaktzeit.
Als eine von neun Hochschulen des Verbundes der Fachhochschule Nordwestschweiz befindet sich die Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel zudem in einer Umgebung, die sich mit der Überführung der Lehre in die digitale Zukunft intensiv auseinandersetzt. So wird die FHNW in den kommenden Jahren für ihre neun Hochschulen spezielle Räume einrichten, die ihren Lehrenden Ausprobieren digital unterstützter Lehrformen ermöglichen, Impulse zur Entwicklung digitaler und medienpädagogischer Kompetenzen geben, eine Plattform zur Präsentation innovativer Lehre entwickeln und den Diskurs über die Idee von der Zukunft exzellenter Lehre fördern. Hierbei hat sie den Anspruch, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Teilhochschulen gerecht zu werden und gleichzeitig interdisziplinäre Synergiepotentiale zu nutzen. Für die Umsetzung individueller Projekte bietet die FHNW den Lehrenden kompetetitive Anreize; so konnten David Mesquita und Florian Vogt von der Schola Cantorum Basiliensis unserer Hochschule eine der ersten Förderungen des Lehrfonds für ihr Projekt «Singing upon the (note)book» gewinnen, in dessen Rahmen eine interaktive Website zu bestimmten Aspekten der historisch orientierten Gehörbildung entwickelt wird.
So sieht sich die Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel Teil eines umfassenden Prozesses, der die bewährte Exzellenz ihrer Lehre mit Umsicht in eine erfolgreiche Zukunft führen wird.
Elke Hofmann
… ist seit September 2018 Beauftragte für Digitalisierung an den drei Instituten der Hochschule für Musik FHNW Basel.