Kann man Volksmusik komponieren?
Ein eigentliches Studium der Volksmusikkomposition gibt es (noch) nicht. Die Hochschule Luzern – Musik ist aber ein Kompetenzzentrum für Volksmusik, weswegen in dieser Ausgabe verschiedene Exponenten zu dieser Thematik Stellung nehmen.
MvO — Dominik Flückiger studiert an der Hochschule Luzern und beschäftigt sich intensiv mit der Komposition von Volksmusik. Das Komponieren beschäftigt ihn seit dem 14. Lebensjahr. Inspiriert von anderen Musikstilen, experimentierte er zunächst am Klavier und probierte Klänge aus, die mit Volksmusik gar nichts zu tun hatten. Mit 16 Jahren legte er den Fokus auf die Volksmusik und konnte diese im «traditionellen» Sinne rasch komponieren. Durch das Studium setze er sich dann mit den komplexeren Formen des Komponierens auseinander und machte sich musiktheoretische Überlegungen. Das Komponieren ist für ihn ein freier Prozess, bei dem viele verschiedene Stile zusammenfliessen. Frei bedeutet für ihn das Volksmusikalische. Frei verpflichtet aber trotzdem dazu, sich jeden Ton und jeden Akkord genau zu überlegen. Flückiger komponiert zahlreiche Werke für die Volksmusik-Formation Alpinis der Hochschule Luzern. Dabei hat er auch gelernt, wie welches Instrument klingt und was die verschiedenen technischen Möglichkeiten der Instrumente sind.
Flückiger unterteilt das Komponieren von Volksmusik in drei Kategorien. 1. Eine Neukomposition gleicht der alten, traditionellen Volksmusik, zum Beispiel mittels Stilkopie eines bestimmten Volksmusikkomponisten. Diese Art fällt jenen einfach, die schon viel Erfahrung mit Volksmusik haben, und sie eignet sich besonders, um andere möglichst rasch mitspielen lassen zu können. 2. Man komponiert im Stil der traditionellen Volksmusik, lässt dies aber modern klingen, etwa durch progressive Harmonik. Manchmal reicht es schon, wenn ein Volksmusikstück anstatt in Dur in Moll gespielt wird. Auch der Ablauf eines Stücks kann frei gestaltet sein, sei es durch die Ergänzung einer Introduktion oder die Improvisation über eine spezifische Stelle. Bei dieser Kompositionsart wird der «Volksmusik-Groove» beibehalten. Ebenfalls bereichernd kann der Einbezug von fremder Volksmusik sein. Bei den ersten beiden Varianten wird in der Regel nur ein Leadsheet mit der ersten und zweiten Stimme und den dazugehörigen Akkordsymbolen notiert, das Arrangement entsteht dann beim Spielen. Bei der 3. Kategorie wird die Musik in der Regel komplett ausgeschrieben und arrangiert. Das ist dann der Fall, wenn die Volksmusik mit anderen Musikstilen kombiniert wird. Dank dem Musikstudium sind einem die verschiedenen Stile bekannt, für das Komponieren bedarf es aber noch vertiefter musiktheoretischer Kenntnisse. Ob das noch Volksmusik ist? Flückiger ist der Ansicht, dass solche Kompositionen zwar «modern» oder «neu» klingen, aber keiner anderen Musikrichtung als der Volksmusik zugeordnet werden können.
Matthias von Orelli im Gespräch mit Albin Brun (Gastdozent an der Hochschule Luzern) und Kristina Brunner (Schwyzerörgeli-Studium im Hauptfach an der Hochschule Luzern, unterrichtet das Fach an den Musikschulen der Region Gürbetal und der Stadt Luzern).
Albin Brun, kann man Volksmusik-komposition überhaupt studieren? Ist Luzern dafür ein Zentrum und welche Rolle spielt dabei die Hoch-schule als Ganzes?
AB: Es gibt keinen eigentlichen Studiengang für Volksmusikkompo- sition in der Schweiz. Da aber Luzern die einzige Hochschule ist, wo man im Schwerpunkt Volksmusik studieren kann, nimmt sie schon eine Vorreiterrolle ein. Die Studierenden können aus einem grossen Angebot von Wahlfächern wählen und sich bei Dozenten wie z.B. Markus Flückiger auch mit Volksmusikkomposition auseinandersetzen. Zudem gibt es das hochschuleigene Volksmusik-Ensemble Alpinis, das ich momentan leite, welches sich als eigentliches Labor versteht, wo die Studierenden ihre Kompositionen mitbringen können, die wir dann gemeinsam erarbeiten und auch an Konzerten aufführen. Da man sich an der Hochschule für ein Profil Klassik oder Jazz entscheiden muss, kommen alle Studierenden zwangsläufig auch mit anderer Musik in Berührung. So hat z.B. der Akkordeonist Fränggi Gehrig im Minor Komposition bei Dieter Ammann belegt (und 2016 den Volksmusikpreis der Fondation SUISA gewonnen). Diese stilübergreifende Ausbildung und das gelernte Handwerk schlagen sich dann natürlich in den Kompositionen von jungen Musikern wie Marcel Oetiker, Pirmin Huber, Christoph Pfändler, Maria Gehrig, Nayan Stalder oder Adrian Würsch nieder. Bisher waren ja die meisten Volksmusikkomponisten Autodidakten, insofern denke ich, dass durch den Einfluss der Hochschulausbildung vermehrt auch anspruchsvollere und komplexere Kompositionen zu hören sein werden. Was aber nicht heisst, dass die «einfachere» Musik verdrängt werden soll! Die Volksmusik lebt ja von einer grossen Vielfalt, daran soll sich nichts ändern, es geht überhaupt nicht um eine Akademisierung. Aber es ist schön zu sehen, wie die Volksmusik im Kern lebendig ist und sich an den Rändern in verschiedenste Richtungen weiterentwickelt.
Was ist Ihr Eindruck, Kristina Brunner?
KB: Ein explizites Studium für Volksmusik-Komposition gibt es nicht. Im Bachelor studieren alle Studentinnen und Studenten im Hauptfach ein Instrument im Profil Jazz oder Klassik. Dazu besuchen sie den Schwerpunkt Volksmusik, indem die Komposition bei vielen in irgendeiner Form zum Thema wird. Das letzte Semester des Theorieunterrichts besteht dann aber für alle Studierenden darin, ein Stück zu komponieren und aufzuführen. Dazu hat man Einzelunterricht bei einem Kompositionsdozenten. Bis auf dieses Semester ist das Komponieren jedoch nicht obligatorisch. Im Masterstudium hat man dann die Möglichkeit den Minor Komposition zu wählen und sein Wissen in diesem Bereich zu vertiefen.
Wie unterscheidet sich das Komponieren von Volksmusik von anderen Kompositionsvorgängen, etwa in der Klassik?
KB: Da ich mich mit anderen Kompositionsstilen zu wenig auskenne, kann ich nur aus meiner eigenen Sicht antworten. Ich denke, dass man unter dem Begriff Volksmusik sehr viele Möglichkeiten und Freiheiten hat. Bei mir entsteht vieles durch das Improvisieren und Ausprobieren, wodurch für mich das Komponieren auch etwas sehr Intuitives hat. Im Allgemeinen denke ich auch, dass die Musikstilrichtungen und deren Kompositionsstile heutzutage nicht mehr so klar definiert sind und die Grenzen fliessend sind. In der traditionellen Volksmusik bestehen die Melodien meist aus Akkordbrechungen und Tonleiterabschnitten, die dann mit den Hauptstufen (I, IV, V, manchmal noch II oder VI) harmonisiert werden. Dieses Gerüst kann man mit anderen Einflüssen erweitern oder ergänzen. So entsteht ein sehr vielseitiges Feld, das ich in seiner ganzen Bandbreite sehr schätze.
Inwieweit wird das Komponieren an der Hochschule gefördert?
KB: Ich wurde vor allem von meinem Hauptfachdozent Markus Flückiger dazu ermuntert, eigene Stücke in den Einzelunterricht oder in die Ensemble Probe mitzubringen. Gerade im Volksmusik-Ensemble Alpinis, das sich immer wieder aus verschiedenen Studenten zusammensetzt, hat man die Möglichkeit, vieles auszuprobieren. Durch die grosse Bandbreite an Instrumenten kann man mit der Zeit herausfinden, welche Instrumente sich gut eignen oder worauf man technisch bei einem Arrangement schauen muss. Durch das eigene Ausprobieren und die Feedbacks der Dozierenden konnte ich sehr viel lernen. Im Schwerpunkt Volksmusik wird man grundsätzlich immer dazu ermutigt, eigene Stücke zu komponieren und zu spielen. Damit wird die Eigenständigkeit der Studentinnen und Studenten enorm gefördert, was ich sehr schätze.
Was ist das Individuelle, Einzig- artige bei der Volksmusik aus kompositorischer Sicht?
AB: Die Volksmusik lebt stark von Melodien, d.h. ohne erkennbare Melodie wird eine Komposition kaum als Volksmusik wahrgenommen. Einen allzu intellektuellen Zugang schränkt das schon mal ein. Und dann gibt es natürlich einen grossen Fundus an Tradition, an dem man sich reiben kann. Man kann Althergebrachtes ausdehnen, erweitern, aufbrechen, und man kann Erwartungen unterlaufen. Zudem geben Klangpotential und Spielweise von typischen Volksmusikinstrumenten wie Schwyzerörgeli, Hackbrett oder Halszither noch einiges her.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Pro-duktivität im Sektor der Volksmusik – ist diese besonders vielfältig, orientiert sie sich an Trends?
AB: Die Szene der Neuen Volks- musik, wie ich sie erlebe, ist relativ überschaubar. Trotzdem ist sie sehr vielfältig und lebt von individuel- len Persönlichkeiten. Jede von ihnen hat wieder eine eigene Ausrichtung. Nachdem in der Volksmusik über eine lange Zeit eher wenig Innovation passierte, ist seit einigen Jahren eine richtige Aufbruchstimmung zu spüren. Durch diese Öffnung interessiert sich plötzlich auch ein Publikum für diese Musik, das vorher überhaupt keinen Zugang hatte. Neben der Hochschule Luzern haben auch Festivals wie Alpentöne Altdorf oder Stubete am See in Zürich einen wichtigen Ein- fluss auf die Entwicklung dieser Szene. Auch Institutionen wie das Haus der Volksmusik in Altdorf, das Rothuus in Gonten oder Klangwelt Toggenburg tragen mit einem vielfältigen Kurs- angebot zur Lebendigkeit der Volksmusik bei.
Offenheit
Welche sind die Trends, die in der aktuellen, zeitgenössischen Volksmusik festgestellt werden können?
AB: Es gibt keine offenkundigen Trends, denen nachgeeifert wird. Aber wie gesagt, die Offenheit gegenüber anderen Stilen ist augen- und ohrenfällig, vielerorts fallen die Scheuklappen weg. Einen grossen Einfluss hat sicher die skandinavische Volksmusik, man lässt sich aber auch von Jazz, Klassik, Minimal-Music, Pop, Rock, Improvisation, elektronischer Musik etc etc inspirieren. Da wird experi-mentiert und ausprobiert, dass es eine Freude ist!
Wie beurteilen Sie den komponierenden Nachwuchs auf dem Gebiet der Volksmusik?
AB: Sehr vielversprechend. Wenn ich hier an der Hochschule Leute wie Kristina Brunner oder Dominik Flückiger erlebe, die es faustdick hinter den Ohren haben, muss man sich über die Zukunft der Volksmusik keine Sorgen machen.
KB: Wenn ich etwas komponiere, beabsichtige ich meist nicht bewusst, Volksmusik zu komponieren. Für mich ist es sehr wichtig, mich frei zu fühlen und keine starren Regeln befolgen zu müssen. So geschieht bei mir vieles auch aus der Improvisation heraus. Wenn ich auf dem Schwyzerörgeli oder Cello eine Idee habe, die mir gefällt, versuche ich diese zu vertiefen und daraus ein Stück zu machen. So entstehen meist Stücke, die von der Form oder Motivik her mit der Volksmusik verbunden sind, ohne dass dies aber meine konkrete Absicht war. Ich fasse den Begriff Volksmusik für mich persönlich aber auch weit und schliesse die Musik aus anderen Kulturen mit ein. Für mich ist das Komponieren immer auch eine Chance, mich musikalisch weiter zu entwickeln. Ich finde es sehr spannend und befriedigend, Musik nicht nur zu interpretieren, sondern auch selber zu entwickeln. Jedes Stück ist so ein ganz persönlicher Ausdruck und hat für mich eine besondere Bedeutung.
Link zum Bachelor of Arts in Music, Schwerpunkt Volksmusik: