Warnsignal Schmerz
Weniger Spielen kann bei akuten Schmerzen schon helfen. Chronische Schmerzen zwingen zum Überdenken ganzer Lebenskonzepte. Dies ist meist nur mit fachlicher Hilfe machbar.
Martina Berchtold-Neumann — In der musikermedizinischen Sprechstunde ist das Thema Schmerz leider sehr häufig und ein Leitsymptom bei einem Grossteil musikerspezifischer Erkrankungen. Zu unterscheiden ist zwischen einem akuten und einem chronischen Schmerz. Die IASP (International Association for the Study of Pain) beschreibt folgende Unterschiede: Dem akuten Schmerz kommt eine Warn- und Schutzfunktion zu. Er ist in der Regel an erkennbare Auslöser gekoppelt, meist umschreibbar lokalisiert und wird von autonomen sowie endokrinen Aktivierungs- und Stressreaktionen begleitet. Von chronischen Schmerzen spricht man ab einer Dauer von drei bis sechs Monaten. Sie können sowohl im Zusammenhang mit einer anhaltenden Erkrankung als auch abgelöst von strukturellen Veränderungen als eigenständige Erkrankung auftreten.
Chronische Schmerzen prägen zunehmend die Lebensgestaltung. Kennzeichnend sind die komplexen biologischen, psychischen und sozialen Interaktionen. Ein akuter Schmerz löst meist angemessene Verhaltensweisen auf. Der Gang zum Arzt kann dafür sorgen, dass sich jemand um diese Leiden kümmert. Durch die Chronifizierung verliert der Schmerz hingegen seine positive protektive Wirkung. Das Leben mit dem Schmerz wird zum Normalzustand mit der Gefahr einer resignativen Lebenseinstellung. Die Therapie von chronischen Schmerzen erfordert Geduld und Ausdauer sowie ein multimodales und interdisziplinäres Vorgehen.
Der Schmerz birgt zwei Aspekte in sich – einerseits ist er eine Sinneswahrnehmung, andererseits ein Affekt. Man kann vom Schmerz nicht sprechen, ohne zugleich das Widrige in ihm anzusprechen – er ruft die Motivation hervor, ihn schleunigst loszuwerden. Ausserdem ist der Schmerz ein Tyrann. Meist ohne grosse Vorankündigung bricht er in unser Leben ein und macht sich darin breit. Ab diesem Moment okkupiert er unsere Existenz. Er nimmt uns gefangen.
Epidemiologische Studien ergeben ein recht einheitliches Bild: 40 bis 60 Prozent der Orchestermitglieder und Instrumentallehrpersonen an Musikschulen leiden unter Rückenschmerzen, die die Musikausübung beeinträchtigen. Aber auch bereits Studierende leiden unter körperlichen Beschwerden. Es ist davon auszugehen, dass mindestens 45 Prozent von ihnen wegen musikerspezifischer gesundheitlicher Probleme eine Sprechstunde aufsuchen.
Die Therapie von Schmerzen
Bei der Schmerzentstehung und -chronifizierung wirken körperliche und psychische Fehlfunktionen zusammen. Der Schmerz macht die Leistungsgrenzen sichtbar. Wurde der eigene Körper bis anhin instrumentalisiert, um musizieren zu können – oft auch gegen offensichtliche physische Warnsignale – so tritt er selbst in den Mittelpunkt und fordert «sein Recht». Musikerinnen und Musiker müssen sich also selbstreflektierend auf sich beziehen und Übepraktiken, Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Verpflichtungen kritisch hinterfragen. Es sind dies unter anderem Fragen nach dem Selbstkonzept, der Leistungsorientierung und der Einstellung zum Musikberuf. Während bei akutem Schmerz etwa eine temporäre Abstinenz oder Reduktion des Instrumentalspiels erfolgreich sein kann, fordert der chronische Schmerz ein viel prinzipielleres Umdenken des gesamten Lebenskonzeptes. Dies ist meist nur mit Unterstützung von Fachpersonen aus den Bereichen der Medizin, der Psychologie, der Physiotherapie und anderer Therapierichtungen zu bewerkstelligen.
Die Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) verfügt schweizweit über solch einen Pool von Fachpersonen, die je nach individueller Problemlage hinzu gezogen werden können. Einen Einblick in das Thema gibt ausserdem das diesjährige Symposium «Warnsignal Schmerz» in Luzern. Hier werden die wichtigsten aktuellen Sichtweisen und Erfahrungen, auch aus unseren Musikersprechstunden vorgestellt und diskutiert.
Martina Berchtold-Neumann
… ist Diplompsychologin FSP und Präsidentin SMM
Cette année, le symposium de la SMM sera consacré à « la douleur comme signal d’alarme ». Il aura lieu le 27 octobre à Lucerne.