Mutiges neues Chorkonzept in Luzern

Vor drei Jahren führte der Boys Choir Luzern eine «Carmina Burana» in choreografierten Tableaux auf. Jetzt doppelte er mit dem gleichen Konzept nach: «Bilder (k)einer Ausstellung» im April im Maihof Luzern.

Ballett der unausgeschlüpften Küken. Foto: Manuela Jans

Der 2011 von Andreas Wiedmer und Regula Schneider gegründete Boys Choir Luzern kann eine kurze und eindrückliche Erfolgsgeschichte vorweisen. Einladungen ans Europäische Jugendchorfestival in Basel, die Aufführung von Carmina Burana 2021 im Maihof Luzern, die Schweizer Erstaufführung von Les Choristes am KKL 2023 und vieles mehr zeugen von einer zielgerichteten Chorarbeit. Der Identifikationsfaktor ist hoch. Die Kinder bleiben bis über den Stimmbruch hinaus dabei und wechseln meist nahtlos in den Herrenchor. Die Knaben- und Herrenstimmen bilden heute dank einer kompetenten und ambitionierten Aufbauarbeit einen Kinder- und Jugendchor, der zu den besten Europas gehört. Besonders in letzter Zeit regnete es Auszeichnungen. Wettbewerbsgewinne und Goldmedaillen im In- und Ausland sind fast schon selbstverständlich geworden.

Il vecchio castello. Foto: Manuela Jans

Energie umwandeln

Um Knaben zum Chorsingen zu bringen, bedarf es heute anderer Rezepte, als einen zappligen Haufen ruhig zu stellen und Kinderlieder aus dem Liederbuch vortragen zu lassen. «Knaben der 4. bis 6. Klassen, die singen, gelten unter Gleichaltrigen als extrem uncool», sagt Regula Schneider. Sie hält es deshalb für sinnvoll, diese Altersgruppe separat zu betreuen, um ihre speziellen Anlagen und Bedürfnisse ideal fördern zu können. Knaben in dem Alter haben viel Energie. Es gelte, diese zu nutzen und in musikalische Energie umzuwandeln.

Chorleiter Andreas Wiedmer sagte im Porträt des Chores in der Sternstunde Musik des Schweizer Fernsehens (23.09.23): «Singen ist für die Jungen lange ein Nebenprodukt, sie könnten eigentlich auch Fussball spielen. Es geht darum, in der Gruppe zusammen zu sein, sich fordern zu lassen und sich mit den andern zu messen.» Werde zu lange am Gleichen gearbeitet, langweilten sie sich schnell. Auf ein Ziel hin zu arbeiten und häufiges Auftreten seien wichtig, um sie bei der Stange zu halten.

Sanfte Klänge zum Auftakt

Das Hauptereignis des Konzertabends im Maihof war die Uraufführung von Modest Mussorgskis Bilder einer Ausstellung in der Bearbeitung von Regula Schneider.  Vorangestellt war die Mass of the Children von John Rutter (Uraufführung, New York 2003), ein eingängiges, musicalähnliches Werk mit den traditionellen Messtexten, ergänzt mit zusätzlichen religiösen Texten. Rutter hatte es in seiner Zeit als Knabensopran immer aufregend gefunden, mit Erwachsenen zusammen an einem Konzert mitwirken zu dürfen. Deshalb schrieb er später dieses Stück für gemischten Chor und Kinderchor.

Der Boys Choir Lucerne in John Rutters Kyrie: Awake my soul. Foto: Manuela Jans

Das Ad-hoc-Orchester unter der Leitung von Philipp Hutter klang präzis und verband sich sehr gut mit dem Gesang. Die Sopranistin Samantha Herzog, der Bariton Andreas Wiedmer und die Chormitglieder Loris Sikora und Jonathan Kionke hatten wohlklingende solistische Einsätze. Der Charakter des Stücks wurde durch meist weiche, anmutige Bewegungen des Chores illustriert. Das «Qui tollis» erhielt durch markante Armbewegungen eine besondere Note. Auffallend war die selbstverständliche Bühnenpräsenz der jungen Leute, welche sich im darauffolgenden Werk noch stärker akzentuieren sollte.

Musikalische Bildbetrachtung

Zum 10-jährigen Bestehen 2021 führte der Chor Carl Orffs Carmina Burana auf. Als zusätzliche Herausforderung übernahmen die Chormitglieder die Choreografie selbst. Dabei wurde besonderer Wert auf die Umsetzung der Bildlichkeit des Werks gelegt. Der Erfolg der Aufführung weckte den Wunsch, ein weiteres Stück im gleichen Stil zu gestalten. Der Weg zu Bilder einer Ausstellung von Mussorgsky war nicht weit, zumal es sich hier um eine Art musikalische Bildbetrachtung handelt. Bewegungen und Bildinterpretationen sind in der Musik bereits angelegt.

Jetzt ging es noch darum, Gesang und Texte einzubauen. Regula Schneider nahm die Bearbeitung für Kammerorchester von Bruno Peterschmitt als Vorlage und arrangierte aus den Melodielinien eine Gesangspartitur, mehrheitlich unisono mit einigen mehrstimmigen Abschnitten. Co-Leiter Marcel Fässler schrieb dazu einen poetischen Text, der von Mussorgskis imaginärem Museumsbesucher stammen könnte. Bis auf eines versah Schneider alle Bilder mit Gesang – und es hat funktioniert! Die Originaltonarten des Stücks erwiesen sich als gut singbar. Wo es etwas hoch wurde, setzten die Herren schon mal auf elegante Weise das Falsett ein. Zusätzlich zu den rund 45 Knaben- und Herrenstimmen trat ein Frauen-Projektchor mit noch einmal an die 25 Stimmen in Erscheinung.

Der Gnom. Foto: Manuela Jans

Klare Bewegungsmuster, ausdrucksstarke Gesten

Trotz gut singbarer Musik ist es immer eine Herausforderung, gleichzeitig zu singen und sich zu bewegen. Die Choreografin Yvonne Sieber verzichtete auf zu komplexe Tanzfiguren und beschränkte sich meist auf klare Bewegungsmuster und ausdruckstarke Gesten, die den Inhalt der Bilder verdeutlichten. Eine starke Lichtregie unterstrich das Bühnengeschehen vortrefflich. Nach einem wirkungsvollen Aufmarsch der Chöre wuselten Zwerge im ersten Bild «Gnomus» über die geräumige Spielfläche des Maihof. In «Tuileries» hatten die Knaben einen erfrischenden Auftritt, während die Herren und Damen in «Bydlo» mit dem einfachen Motiv des Hinkens Wirkung erzielten.

Beim «Ballett der unausgeschlüpften Küken» waren wieder die Knaben im Mittelpunkt. Obwohl sie zunächst hinter dem Orchester aufgestellt waren, klang ihr Gesang präsent und kompakt. «Samuel Goldenberg und Schmuyle» wurde von neun Herren bestritten. Das Solo übernahm Jonathan Kionke mit seiner makellosen Counterstimme. Er ist seit Jahren Mitglied des Chors und studiert inzwischen Gesang an der Zürcher Hochschule der Künste. Mit aussagekräftigen Armbewegungen sorgten die Darstellenden im Bild «Die Hütte auf Hühnerbeinen» für inhaltliche Assoziationen. «Das grosse Tor von Kiew» war als monumentales Schlussbild gestaltet.

Zum Schluss Das grosse Tor von Kiew. Foto: Manuela Jans

Ausgabe 05/2024 – Focus «Stabspiele»

Tchiki-Duo: Jacques Hostettler und Nicolas Suter. Foto: Holger Jacob

 

Inhaltsverzeichnis

Focus

Wie zwei Seiten eines einzigen Instruments
Das Tchiki-Duo spielt Bach oder Scarlatti auf Marimbas – Interview

Ursprung und Verbreitung der Stabspiele
Kurze kompakte Geschichte

Die unbekannteren Verwandten des Drumsets
Mallets an Musikschulen

Vom Explorieren zum Musizieren
Die Rolle der Stabspiele im Orff-Instrumentarium

 (kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

Echo

Künstliche Kunst
Festival Interfinity in Basel

Partitions d’occasion en mobilité douce
Vendre par un triporteur

Auf die Pandemie folgt eine Blütezeit
26. Ausgabe von m4music

God save the «Nachwuchsarbeit»
Junger Chor Solothurn

Radio Francesco
Das Versprechen

Die Stimme einer «stummen Nation»
Das Afghan Youth Orchestra in Genf

Chatten über den Instrumentalunterricht im Aargau
Valentin Sacher und Andreas Schlegel

Carte blanche
für Jürg Erni


Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Das Xylofon im Glaspalast
Rätsel von Pia Schwab

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Orpheus als Bilderreigen und Musikcollage

Nach vierjähriger Pause präsentiert Musikwerk Luzern Beni Santoras multimediale Inszenierung des Orpheus-Mythos. Das Basler Vokalensemble Domus Artis singt Jacopo Peris Oper «Euridice» inmitten einer filmischen Revue.

Premiere von «… und er schaute zurück» im Moderne Karussell am 11. April 2024. Foto: Musikwerk Luzern / Priska Ketterer

Beni Santora hat Musikwerk Luzern 2015 gegründet, um moderne Klassiker wie Béla Bartók oder Igor Strawinsky in neuartigen Konzertformaten aufzuführen. Das filmische Element hat ihn dabei stets interessiert. So hat er als Cellist auch Filmregie studiert und sich zum Kameramann weitergebildet. Seine multimediale Collage zur Orpheus-Mythologie … und er schaute zurück zeugt von dieser Doppelbegabung. Die Musik bekommt Zeit und Raum, um zu wirken.

Der technische Aufwand ist jedoch enorm. Die notwendige Infrastruktur fanden Santora und sein Team im ehemalige Kino Moderne. Durch den Umbau zum «Moderne Karussell» ist daraus ein grosszügiger Raum mit drei Kinoleinwänden entstanden. Fünf Hochleistungsprojektoren stehen zur Verfügung, um 360-Grad-Projektionen zu ermöglichen.

Sanft belebte Bilder

Für seine filmische Umsetzung suchte Santora weltweit nach Orpheus-Darstellungen aus 4000 Jahren Kulturgeschichte. Diese bekannteste Liebesgeschichte der Antike hat Künstler seit jeher inspiriert. Orpheus ist der griechische Held, der in die Unterwelt hinabstieg, um seine geliebte Eurydike aus dem Totenreich zurückzuholen. Bei der Rückkehr hätte er jedoch nicht zu ihr zurückschauen dürfen. Er tat es doch und verlor sie ein zweites Mal.

Die ausgewählten Bilder projiziert Santora wie in einer Galerie nebeneinander an die drei Wände: eine antike Bronze, ein frühbyzantinisches Mosaik, griechische Statuen, ein Gobelin aus dem 17. Jahrhundert oder Ölgemälde aus der Romantik. Diese Galerie-Perspektive zieht sich als roter Faden durch die Produktion. Ähnlich wie Mussorgski in den Bildern einer Ausstellung kehrt Santora immer wieder zu ihr zurück.

Foto: Musikwerk Luzern / Priska Ketterer

Grundsätzlich arbeitet er mit stehenden Bildern, die er sanft belebt. Er zoomt eines der Sujets heran, vergrössert Ausschnitte oder bewegt einzelne Figuren, und das über die drei Screens hinweg. Die Luzerner Agentur 360 Emotion hat diese «Ausstellung in bewegten Bildern» mit modernster Technik umgesetzt.

Als Zuschauer sitzt man in bequemen Kinosesseln mittendrin. Dank der ruhigen Dramaturgie hat man genug Zeit, sich die Bilder genauer anzusehen. Die Figuren werden durch die Vergrösserungen lebendig und kommen einem nahe. Längst vergangene Zeiten tauchen raumfüllend auf.

Livemusik und Tonaufnahmen

Und die Musik? Hier wagt Santora einen Dialog zwischen der Liveaufführung von Jacopo Peris Oper Euridice und Aufnahmen, die er zu den Bildern einspielt: antike römische Festmusiken, mehrstimmige Madrigale, Sinfonisches von Franz Liszt, Claude Debussy, Igor Strawinsky, Hans Werner Henze und Philipp Glass, stets mit Bezug zur Orpheus-Thematik.

Auch wenn diese Tour d’Horizon durch die Musikgeschichte auf die jeweils dargestellte Kunst abgestimmt ist, strengen die ständigen stilistischen Wechsel an. Besonders heikel aber ist das Nebeneinander von Livemusik und dem Surround-Klang über Lautsprecher. Kaum hat man sich in die Eigenart der Renaissancemusik eingehört, wird man von einer Tonaufnahme jäh wieder herausgerissen.

Doch mit der Zeit gewöhnt man sich auch daran. Peris Oper ist die musikalische Instanz, zu der man immer wieder zurückkehrt, sie bildet den erzählerischen Rahmen. 1600 in Florenz uraufgeführt, ist sie die älteste vollständig erhaltene Oper der Musikgeschichte. Überraschenderweise kann sich dieses schlichte Werk im multimedialen «Gesamtkunstwerk» gut entfalten.

Das Basler Vokalensemble Domus Artis sang die fünf Partien an der Premiere vom 11. April mit engagierter Hingabe, begleitet von Guilherme Barroso an der Theorbe und Inés Moreno Uncilla am Cembalo. Die konzertant auftretenden Sängerinnen und Sänger packten die Aufmerksamkeit mit ihrer lebendigen Artikulation und natürlichen Phrasierung.

In der Hauptpartie des Orpheus rührte einen der Tenor Cyril Escoffier mit einem hingebungsvollen Lamento. Sein warmes Timbre passte auch gut zum klaren hellen Sopran von Jaia Niborski, welche die stolze Eurydike gab. Und die reiche Farbpalette des Ensembles kam in den beschwingteren Chorliedern eindrücklich zur Geltung. So enorm der Aufwand für diese Orpheus-Produktion auch war, sie hat dem antiken Stoff ein stimmiges, modernes Gesicht gegeben.

Weitere Aufführungen: 24. und 25. April sowie 2., 3. und 5. Mai. Ab 25. April bis 13. Juni ist eine verkürzte Version ohne Domus Artis jeweils Do bis So, 16 bis 21 Uhr, zu sehen.

musikwerkluzern.ch

Foto: Musikwerk Luzern / Priska Ketterer

Neue Dozenten an der ZHdK

Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) hat auf das Herbstsemester 2024 zwei neue Hauptfachdozenten ernannt: Linley Marthe für E-Bass und Petter Eldh für Kontrabass Jazz und Pop.

Petter Eldh (links) und Linley Marthe unterrichten ab Herbst in Zürich. Fotos: Dovile Sermokas (Eldh) und Jeff Ludovicus (Marthe)

Als Kontrabassist, Produzent und Komponist habe Eldh, schreibt die ZHdK, «einen einzigartigen Stil geschaffen, der die Grenzen jeglicher Musikgenres hinter sich lässt.» Als Bandleader und Mitwirkender habe er mit Künstlern wie Django Bates, Kit Downes, Jameszoo und Christian Lillinger zusammengearbeitet, was zu wegweisenden Alben führte, die «sein breites Spektrum an künstlerischen Fähigkeiten zeigen und die von elektronischer Musik bis Avantgarde-Jazz reichen.»

Auch der E-Bassist Linley Marthe überwinde mit seinem Schaffen Grenzen und Genres: Sein «kulturelles Erbe dient als reiches Geflecht, das Groove-Musik und die vielschichtigen Rhythmen des Jazz mit den Melodien Afrikas und den komplexen Kompositionen Indiens verwebt. Seit 2003 war Linley Marthe ständiges Mitglied des Joe Zawinul Syndicate, wo er durch seine einzigartigen Performances ein globales Publikum faszinierte. Besonders bemerkenswert ist der Grammy Award, den er für die 75th Birthday-Tour des Zawinul Syndicate im Jahr 2007 erhielt. Kurz vor seinem Tod ernannte Joe Zawinul Linley Marthe zum künftigen Leader des Syndicate. Seither ist Linley Marthe mit den renommiertesten Jazz & World Artists rund um den Globus unterwegs.»

Dem «ausbündigen Meister» auf der Spur

Im Rahmen des 40. Festivals Alte Musik Zürich fand eine Tagung zum böhmischen Komponisten Jan Dismas Zelenka (1679–1745) statt. Die Veranstaltung am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich wurde konzipiert und geleitet von Esma Cerkovnik.

Zelenka-Gedenktafel in Louňovice pod Blaníkem, dem Geburtsort des Komponisten fotografiert 2014 von Ivan Rozkošný/Wikicommons

Unter dem Titel Du hochgepriesener, vollkommner Virtuos: Jan Dismas Zelenka und seine Zeit bot die Tagung vom 16. März Einblicke, Einordnungen und neue Aspekte zu den vielen offenen Fragen rund um Zelenkas Leben und Werk: Wer war dieser Komponist, der sich selbst den Beinamen des «reuigen Schächers», Dismas, gab? Welche musikalischen Entwicklungen brachte der von seinem Zeitgenossen Johann Sebastian Bach hoch geschätzte Zelenka nach Dresden? In sechs Vorträgen wurden sozialgeschichtliche, ideengeschichtliche, musiktheoretische und aufführungspraktische Fährten verfolgt.

In ihrer Einführung beleuchtete Esma Cerkovnik (Zürich) den Topos des Virtuosentums ausgehend von einem Lobgedicht Johann Gottlob Kittels, eines Zeitgenossen des Komponisten, der Zelenka im «Wettstreit der Music» als «vollkommner Virtuos» bezeichnete. Anschliessend stellte Jóhannes Ágústsson (Reykjavík) neue Quellen zu Zelenkas frühen Dresdner Jahren vor mit besonderem Augenmerk auf jesuitische Kontexte. Thomas Hochradner (Salzburg) ordnete die Bedeutung von Zelenkas Lehrzeit bei Johann Joseph Fux kritisch ein. Dabei nahm er die bisherige Forschung, namentlich die Untersuchungen Friedrich Wilhelm Riedels und Wolfgang Horns, als Ausgangspunkt für eine neue Gewichtung der bekannten schriftlichen Zeugnisse. Václav Kapsa (Prag) präsentierte die böhmischen Netzwerke des Komponisten, wobei neben tschechischen Elementen in seiner Musik der musikalische Austausch zwischen Prag und Dresden – beides Wirkungsorte Zelenkas – im Vordergrund stand.

Angelika Moths (Zürich) stellte musiktheoretische Betrachtungen in Zelenkas Œuvre an. Vor dem Hintergrund von Johann David Heinichens Generalbass-Traktaten betonte sie die innovative Harmonik des Komponisten. Laurenz Lütteken (Zürich) untersuchte die Ouvertüre Hipocondrie aus ideengeschichtlicher Perspektive. Zeitgenössische Begriffsdefinitionen der Hypochondrie und Einblicke in Athanasius Kirchers Musikphilosophie boten neue Aspekte zu Zelenkas Musikverständnis in diesem Werk. Schliesslich berichtete der Organist und Dirigent Adam Viktora (Prag) von den Bezügen zu kirchlichen Kontexten mit Ausblick auf die Zelenka-Rezeption zur Zeit der sozialistischen Tschechoslowakischen Republik und präsentierte aufführungspraktische Überlegungen zu Zelenkas Musik.

Die Referentinnen und Referenten der Tagung liessen den «ausbündigen Meister» als eine vielseitige Figur der Musikkultur seiner Zeit lebendig werden und boten in ihren Beiträgen und den anschliessenden Diskussionen viele Denkanstösse für die künftige Musikforschung.

God save the «Nachwuchsarbeit»: Junger Chor Solothurn

Was ursprünglich als Corona-Projekt begann, bereichert seit 2021 das musikalische Leben der Region an der Aare. An Ostern präsentierten rund 25 junge Erwachsene unter der Leitung von Lea Scherer und Joël Morand ihr drittes Programm.

Joël Morand und Lea Scherer leiten den Jungen Chor Solothurn. Foto (Ausschnitt): Sara Affolter

Der Werdegang seiner Co-Leitung ist bezeichnend für den neuen Projektchor: Selbst in der Kindheit bereits mit der Passion für Chormusik und gemeinsames Singen infiziert, engagieren sich Lea Scherer und Joël Morand seit Jahren an den zwei grossen örtlichen Chorschulen. So sind nahezu alle Sängerinnen und Sänger des Jungen Chors im Solothurner Mädchenchor oder bei den Singknaben der St.-Ursen-Kathedrale ausgebildet worden und teilweise dort aktiv – und welch ein Pfund das ist, liess sich am 4. April beim Konzert in der Franziskanerkirche Solothurn hören.

Just Good Music

Ein anspruchsvolles britisch-schweizerisches A-cappella-Programm unter dem Titel God save the Queen music! hatten Lea und Joël zusammengestellt und vor gut besetzten Reihen mit zahlreichen jungen Zuhörenden war rasch klar: Hier wird auf hohem Niveau musiziert.

Martha von Castelbergs O bone Jesu liess klare Höhen und einen erstaunlich samtenen Tiefklang hören, gute Diktion und klare Vokalführung in Ich hebe meine Augen auf von Willy Burkhard. In der herausfordernden Kirchenakustik zwei Sätze der Messe pour double chœur von Frank Martin zu präsentieren, meisterte das junge Ensemble mit Bravour. Mit homogenem Klang (und der offensichtlichen Schulung in Vokalmusik der Renaissance) überzeugte Music divine von Thomas Tomkins, ebenso der Pyramid Song von Radiohead.

Eindringlich interpretierte das Ensemble Advance Democracy von Benjamin Britten aus dem Jahr 1938, ein Werk, welches im Vorfeld des 2. Weltkriegs zur Verteidigung demokratischer Werte aufrief. Erwähnenswert ist auch, dass auf jeglichen inszenatorischen «Firlefanz» (Zitat aus dem Publikum) verzichtet wurde und die Musik die «Queen» des Abends war.

Basisausbildung lohnt sich

Der Junge Chor Solothurn zeigt auf berührende Weise, wie wertvoll alle Bemühungen in der musikalischen Kinder- und Jugendausbildung sind. Die unzähligen Stunden Stimmbildungs-, Proben- und Projektarbeit bilden eine Basis, auch für das beeindruckende Niveau, auf welchem hier musiziert wird.

Auch wenn die Ressourcen vielleicht noch nicht allzu üppig sind und es an Zeit für zukünftig zwei Projekte pro Jahr mangelt: Hohe Ambition und Zuversicht, sich in einem stimmigen Umfeld musikalisch zu beweisen, strahlen die jungen Sängerinnen und Sänger aus. Der Junge Chor Solothurn kann auf ein unterstützendes Umfeld in der Stadt zählen und ist Mitglied des kantonalen Chorverbands.

Zwischen Jugendchor und 60+

Das Angebot schliesst eine Lücke, auf die viele junge (semiprofessionelle) Sängerinnen und Sänger stossen, sobald sie den Jugendchören entwachsen: Wo können sie mit hohem Anspruch weitersingen, sich mit Gleichaltrigen (in jedem Fall mit «Nicht-60+») musikalisch weiterbilden, gute Programme präsentieren? Unichöre haben vielleicht nicht das erhoffte Niveau, der «gap» zu den bestehenden Erwachsenenchören und den traditionellen Amateurchören scheint mitunter gross.

Die bescheidene und offensichtlich mit Herzblut engagierte Leitung des Jungen Chors versetzt die Sängerinnen und Sänger, die nur zu einem kleinen Teil eine professionelle Musikerlaufbahn anstreben, in die Lage, sich eine eigene musikalische Heimat zu errichten. Die Möglichkeit einer identitätsstiftenden musischen Betätigung im nur vermeintlich abgeschriebenen «Chorverein», noch dazu für ein begeistertes Publikum, ist in Solothurn nunmehr vorhanden.

Die nächste Generation schickt sich an, das Chorleben in der Schweiz weiterzuentwickeln und das regionale Kulturleben zu bereichern.

jungerchorsolothurn.ch

Auf die Pandemie folgt eine Blütezeit – m4music

Die 26. Ausgabe des Musikfestivals m4music war ausverkauft und geprägt von Aufschwung und Kreativität. Zu den grossen Themen gehörte nebst der Nachhaltigkeit insbesondere die künstliche Intelligenz und ihre Auswirkungen auf die Musikszene.

Foto: Jeremie Dubois

Über 6000 Interessierte besuchten Ende März 2024 m4music, das Popmusikfestival des Migros-Kulturprozents. Laut Festivalleiter Philipp Schnyder hat die Schweizer Musikszene dargelegt, dass sie ein Jahr nach der Pandemie erneut blüht, sich kreativ und voller Tatendrang präsentiert. «Trotz einiger struktureller Probleme schreitet die Professionalisierung voran», zeigt er sich überzeugt. Dies habe sich auch in den Diskussionen des Conference-Programms niedergeschlagen, an dem rund 1600 Professionals teilgenommen haben. «Es ist ein grosser Wille spürbar, gemeinsam Fortschritte zu erzielen in Fragen der Diversität und Awareness, Nachhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit, aber auch bei wirtschaftlichen Themen.»

Im Rahmen der verschiedenen Panels wurde unter anderem über «Fair Pay in der Musikszene» oder «Tiktok als Karrierebooster» diskutiert und auch ein Blick hinter die Kulissen von Förderinstitutionen geworfen. Unter dem Titel «Festival Utopias» berichteten Vertreterinnen und Vertreter kleiner Musikfestivals aus der Schweiz darüber, wie sie auf die voranschreitende Klimakrise reagieren: Während das in der Nähe von Lugano stattfindende Facciamo la Corte zugunsten eines möglichst geringen ökologischen Fussabdrucks nur noch Musikschaffende aus der Schweiz verpflichtet, achtet das dreitägige Buatsch-Festival im bündnerischen Tersnaus auf nachhaltige Infrastruktur und darauf, so wenig Abfall wie möglich zu produzieren.

Die Region als Zielpublikum

«Zu unseren Anliegen zählt, dass sich unser Publikum mit dem Veranstaltungsort und den dort lebenden Menschen verbunden fühlt», erklärte Eli Müller, die Teil des Organisationskollektivs von Buatsch ist. «Mit unserem Event sprechen wir in erster Linie Leute aus den umliegenden Tälern und der Region an.»

«Wir verstehen unser Festival in erster Linie als Geschenk an den Weiler Le Cerneux-Godat, auf dessen Boden der Event stattfinden kann», betonte Loris Vettese, der künstlerische Leiter des Tartare-de-Miettes-Festivals im Jura. Es zeichnet sich dadurch aus, dass das Publikum selbst bestimmen kann, wieviel Eintritt es bezahlt.

Das Tartare de Miettes verzichtet auf jegliches Sponsoring, erhält aber 6000 Franken vom Staat, was einem Zehntel des Budgets entspricht. «Wir leben vor allem davon, was unsere Besucherinnen und Besucher zu zahlen bereit sind – auch bei den Getränken», ergänzt Vettese. Das Konstrukt funktioniere, weil ausser dem technischen Personal niemand Lohn erhalte. «Was letztlich beweist, dass wir alle sehr privilegiert sind. Andernfalls wäre es uns gar nicht möglich, so viel Freiwilligenarbeit für das Festival aufzubringen.»

Propere Musik auf SRF 3?

Das Panel «Eine Liebesgeschichte: Die SRG und die Schweizer Musikindustrie» machte seinem Titel alle Ehre: Gilles Marchand, Generaldirektor der SRG, und gleich vier seiner Programmleiter betrieben zunächst viel Eigenlob. «Die Vielfalt unseres Programms entspricht der Vielfalt der Schweizer Musik», beweihräucherte Marchand die Arbeit seines Unternehmens. Dass nicht alle seine Sichtweise teilen, wurde deutlich, als Chris Wicky, Co-CEO der Schweizer Musikagentur Irascible, die Bühne betrat. Zwar sei es durchaus beeindruckend, was die SRG leiste, doch auf ihn wirke die von SRF 3 gespielte Musik ausgesprochen harmlos.

Michael Schuler, Musikleiter von SRF, verteidigte die Programmierung und erläuterte, man dürfe das Publikum nicht irritieren. «Sonst wechselt es rasch zu Streamingdiensten wie Spotify.» Moderatorin Maria Victoria Haas warf ein, dass Songs von Schweizer Musikschaffenden auf SRF 3 vorwiegend in der Nacht zu hören seien. Auf die Frage, weshalb Musik einheimischer Künstlerinnen und Künstler nicht vermehrt auch tagsüber gespielt werde, antwortete Schuler ausweichend: «Wir haben uns in dieser Hinsicht extrem gesteigert.» Immerhin: Alle Anwesenden waren sich einig, dass die SRG und die Schweizer Musikschaffenden voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. «Ich hoffe, dass wir künftig enger zusammenarbeiten», schloss Schuler.

KI anwenden

Zu den heiss diskutierten Themen am m4music gehörte insbesondere die künstliche Intelligenz (KI) und ihre Auswirkungen. In seinem Keynote-Talk «Musik und KI» widmete sich der deutsche Musiker und Labelbetreiber Florian Kreier (alias Angela Aux) nicht zuletzt der Frage, wie sich die KI von Kunstschaffenden verwenden lässt. «Wer ein Handy nutzt, nutzt bereits KI», betonte der 41-Jährige und versuchte, seinem Publikum die Angst vor der neuen Technologie zu nehmen. Er lobte namentlich die Vorzüge von Softwarekomponenten wie den sogenannten Stem Separation Tools, die mithilfe von KI die einzelnen Instrumente eines Tracks isolieren, so dass man sie studieren kann. Erstaunlicherweise klingt die neue Single von Angela Aux, Traveler of the Mind, aber keineswegs nach Science-Fiction, sondern erinnert vielmehr an ein eingängiges, aber harmloses Klangpotpourri, das sich beim Pop der Siebzigerjahre bedient.

 

Armin Rüeger im Mittelpunkt

Der Bischofszeller Apotheker Armin Rüeger war mit Othmar Schoeck, dem international bekannten Komponisten aus Brunnen, befreundet. Für drei Opern Schoecks hat er die Libretti verfasst. Eine Sonderausstellung des Historischen Museums Bischofszell rückt den vielseitig Begabten in den Mittelpunkt.

Christa Liechti und die Ausstellung «Armin Rüeger – mehr als der Textdichter von Othmar Schoeck» Foto: Historisches Museum Bischofszell

Die Vernissage der Ausstellung «Armin Rüeger – mehr als der Textdichter von Othmar Schoeck» findet am 19. April um 18 Uhr in der Schniderbudig Bischofszell beim Museum an der Marktgasse 4 statt. Auf rueeger-schoeck.ch sind Informationen über die Freundschaft der beiden zu erfahren, ebenso detaillierte Angaben zur Ausstellung und den Begleitveranstaltungen.

Christa Liechti, Präsidentin der Museumsgesellschaft Bischofszell, lässt sich in der Medienmitteilung vom 3. April wie folgt zitieren: «Sie [Rüeger und Schoeck] gingen verschiedene Wege und blieben sich doch immer nah. Das macht die Sonderausstellung so spannend.»

Weitere Informationen über diesen Link.

Künstliche Kunst – Interfinity 2024

Künstliche Intelligenz treibt alle um. An der Basler Fasnacht 2024 war sie eines der häufigsten Sujets. Am Festival Interfinity ging es einige Wochen später um ihre Auswirkungen auf die Kunst, insbesondere die Musik.

Künstliche Intelligenz an der Basler Fasnacht. Foto: Daniel Lienhard

 

Die 2018 in Basel unter dem Namen Basel Infinity Festival gegründete Reihe unter der Leitung des Pianisten und Musikmanagers Lukas Loss hat sich auf die Fahne geschrieben, interdisziplinäre Veranstaltungen zwischen Musik und Wissenschaft auszurichten. Ein dreitägiger Zyklus widmete sich dieses Jahr innerhalb des zu Interfinity umbenannten Festivals vom 18. bis 20. März dem Thema «Artificial Art», den Möglichkeiten von moderner künstlicher Intelligenz (KI) (oder Artificial Intelligence, AI) und deren Auswirkungen auf Kunst und Gesellschaft. Da es zu diesem Thema durchaus noch Informationsbedarf gibt, wurden am ersten Abend im neuen Novartis-Pavillon in einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion die wichtigsten Aspekte und Problematiken von KI erörtert. Moderiert von Gerd Folkers (ETH Zürich) diskutierten Bianca Prietl und Heiko Schuldt (Universität Basel), Damir Bogdan (CEO Quantum Basel), Frank Petersen (Leiter Forschung Naturstoffe Novartis) und Jan Mikolon (Quantum Basel, IBM).

Nicht mehr wegzudenken

Es ist eine Tatsache, dass sich KI in vielen Gebieten etabliert hat. Die Umwälzung ist ähnlich bedeutend wie etwa die Erfindung des Fotokopierers, des Internets oder des Smartphones, und man weiss nicht, wohin die Reise geht. Einen Weg zurück gibt es nicht mehr, und die Gesellschaft ist gezwungen, sich damit zu arrangieren. Ob eine strenge Regulierung sinnvoll wäre, ist umstritten, da immer Schlupflöcher existieren. Ethische Regeln sind in der Wissenschaft meist kurzlebig.

In unterschiedlichen Gesellschaftsmodellen wird KI auch unterschiedlich eingesetzt: In China ist «social scoring», also die totale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger, bereits Realität, während KI in Europa eher zur Zeitersparnis bei Bewerbungen und Ausschreibungen verwendet wird. In der Wissenschaft hat sich KI bereits weltweit durchgesetzt, aber in kürzester Zeit werden sich auch Schulen intensiv überlegen müssen, wie KI sinnvoll zu brauchen ist. Die Universität Basel fördert explizit die Auseinandersetzung mit KI, Angehörige aller Fakultäten sollten fähig sein, sie einzusetzen. Transparenz dürfte ein Zauberwort im Umgang damit sein, ihr Zutun und Anteil sollte kenntlich gemacht werden.

Heiko Schuldt hielt in einem Interview der Basler Zeitung fest: «Man muss sich nicht [vor KI] fürchten. Es ist jedoch sehr wichtig, zu verstehen, wie KI funktioniert und wo ihre Grenzen sind. Was KI kann: innerhalb grosser Datensätze verschiedene Informationen miteinander in einen Zusammenhang bringen. Was KI nicht kann: zwischen wahr und falsch unterscheiden.» KI kann auch nicht eigenständig kreative Prozesse auslösen, könnte aber zumindest theoretisch einen spannenden Kriminalroman auf der Basis aller bisher existierenden Krimis generieren. Man war sich auch einig, dass KI nicht unhinterfragt verwendet werden soll, sieht man doch, dass bei der KI-unterstützten Berufsberatung Frauen zum Studium der Psychologie, Männern aber zu IT und Ingenieurwesen geraten wird. Dass durch KI verschiedene Berufe obsolet werden, ist ein Problem, das nicht vernachlässigt werden darf, ebenso wie die in der Zukunft geringere Wochenarbeitszeit. Ist der Mensch fähig, mit der «eingesparten» Zeit etwas Sinnvolles anzufangen?

Künstliche Paradiese

Am zweiten Abend präsentierte der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer einen launigen Text zum Thema «Künstliche Paradiese». Das Paradies kann sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise präsentieren: Für den greisen François Mitterand war es wohl ein Ortolan-Essen, für das Fettammern, kleine Vögel, in einem grotesken, tierquälerischen Ritual zur Befriedigung exquisiter Gelüste zubereitet werden. Einen Gipfel an raffinierter Künstlichkeit stellen die drei Androiden dar, welche die Neuenburger Uhrmacher Vater und Sohn Jaquet-Droz und ihre Mitarbeiter 1774 dem Publikum präsentierten. Diese Automaten, ein Schreiber, ein Zeichner und eine Organistin, begeisterten europäische Schaulustige während Jahrzehnten.

Ein eher absurdes künstliches Paradies schuf sich August Engelhardt um 1900 in der Südsee, wo er sich nur von Kokosnüssen, die ewiges Leben verhiessen, ernähren wollte. Er starb – von Unterernährung und Krätze gezeichnet – frühzeitig, und die von ihm gegründete «kokovorische» Sekte löste sich auf. Auch Albert Hofmanns in Basel erfundenes LSD war ein Weg in ein problematisches künstliches Paradies.

Einen Kontrapunkt zu Sulzers Essay bildeten Klavierwerke von Bach (arr. Siloti), Bartók, Ornstein und Skrjabin, die nicht durch die Wirkung von Drogen entstanden sind, sondern ihre Eigenständigkeit der Beschäftigung mit Volksmusik, der Erfahrung der Emigration und einer esoterischen Weltanschauung verdanken. Der hervorragende Interpret war der weissrussische Pianist Denis Linnik.

Der Pianist Denis Linnik (oben) am Interfinity-Festival mit dem Publikumsvotum über die Chopin-Kopie (unten). Fotos: Daniel Lienhard

Mensch vs. Maschine

Den Abschluss bildete in der Voltahalle ein mit über 300 Personen sehr gut besuchter und vom Basler Erziehungsdirektor Conradin Cramer mit einer kurzen Rede eröffneter Abend mit einem interessanten Konzept: Fünf Komponistinnen und Komponisten schufen je fünfminütige Werke im Stil von Bach, Chopin, Brahms, Messiaen und Bartók für unterschiedlich besetzte Ensembles. Der lettische Komponist Platons Buravickis «komponierte» Gegenstücke mit KI, interpretiert von den gleichen Musikerinnen und Musikern. Die Interpretationen waren durchwegs ausgezeichnet. Zwischen den Aufführungen gab Henry Legg eine mit Videokunst spektakulär unterstützte Einführung in KI.

Das Publikum konnte jeweils mit QR-Code darüber abstimmen, welche Version eines Stücks es für menschengemacht hielt. Man konnte gespannt sein, ob eine Unterscheidung möglich sein würde. Das Publikum irrte sich aber schliesslich bei keinem der Werke, obwohl es zum Beispiel in der KI-Version von Messiaen einige ausgezeichnete Takte gab, die absolut vom französischen Meister hätten stammen können. Das Klavierquintett im Stil von Brahms von Johannes Raiser und speziell das Quartett für Violine, Klarinette, Klavier und Schlagzeug von Amador Buda im Stile von Bartók waren so überzeugend komponiert, dass man sie problemlos in einem «normalen» Konzert spielen könnte. Obwohl dieses Fazit vielleicht wie eine Plattitüde wirkt: Man hatte den Eindruck, dass die KI-Stücke schülerhaft klangen und ihnen die emotionale Tiefe fehlte. Aber KI kann ja noch Fortschritte machen …

Alte oder neue Musik: Zum Unterricht in historischer Aufführungspraxis

Den Ausführungen von Elizabeth Dobbin und Thomas Drescher zur Lage der historischen Aufführungs- und Ausbildungspraxis (SMZ 1_2/24) sollen hier ergänzend noch ein paar Gedanken angefügt werden, die vor allem die Zukunft betreffen.

Detail aus dem Basler Musikmuseum. Foto: SMZ

Der Ausbildungsbereich «Alte Musik» ist in der Regel beschränkt auf die Zeit vom Frühmittelalter bis ins 19. Jahrhundert, das heisst, auf den Bereich der «alten Instrumente». Mit der Entwicklung der modernen Instrumente im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ergab sich ein passender Grund, den Bereich nach vorne einzugrenzen. Nun sind aber Brahms, Mahler, Strawinsky und Boulez ebenfalls bereits alte Musik. Auch die Musik des späten 19. und des 20. Jahrhunderts müsste also im Bewusstsein ihres historischen Kontexts erforscht, gelehrt und aufgeführt werden. Für das 20. Jahrhundert ist dieser Anspruch aus gutem Grunde seit Anbeginn eingelöst. Es fehlt also nur noch das späte 19. Der Geltungsbereich der historisch informierten Aufführungspraxis und der dazu passenden historisch informierten Ausbildung ist, so meine nicht nur ich, notwendigerweise auszudehnen auf den Zeitbereich vom Frühmittelalter bis gestern. Die Verbindung von Forschung, Lehre und Aufführung, die Paul Sacher einst als Grundkonzept für die Basler Schola postulierte, erscheint für jede Musikausbildung sinnvoll. Auch im Bereich der mittlerweile längst akademisierten Ausbildung im Jazz. Wenn eine Bigband ein Stück von John Coltrane spielt, dann müssen die Soli im Coltrane-Stil vorgetragen werden. Die Solisten müssen zu solch historischer Aufführungspraxis (technisch und ästhetisch) in der Lage sein, das heisst ausgebildet werden.

Was für Wissen braucht es zum Können

Die Lehrenden müssen sehr viel wissen. Ihren Lernenden aber müssen sie vor allem Handlungsfähigkeit beibringen. Hier liegt meines Erachtens ein grosses Missverständnis beim Anspruch der historischen Informiertheit in der Ausbildung. Sie ist selbstverständlich (auch!) eine Disziplin der wissenschaftlich-historischen Forschung und abhängig davon. Die Resultate solcher Forschung aber sind für die Ausbildung angehender Musiker propädeutisch. Sie sollen nicht einfach in Worten weitergegeben und gelehrt werden, ihre Ergebnisse müssen bei den Lernenden vor allem zur praktischen Anwendung gebracht und so fruchtbar gemacht werden. Hat ein Lernender auf diese Weise «musikalische Handlungskompetenz» erworben, wird er auch die Formulierungen der Komponisten auf ganz andere, nämlich direkte Weise erkennen, einschätzen- und bewerten können. Mit anderen Worten: Für angehende Musiker ist die Ausbildung zum Denken in Tönen wichtiger als diejenige zum Reden oder Vielwissen über Musik. Damit soll die Bedeutung und der Wert des Redens und Wissens keineswegs kleingeredet werden. Es geht nur um die Prioritäten. Gefördert werden soll im Unterricht mit Vorrang das implizite Wissen und erst in zweiter Linie das explizite solche.

Abschied vom vorgefertigten theoretischen Instrumentarium

Kollegen aus dem angrenzenden Ausland berichten mir, wie dieser Denkansatz an ihren Hochschulen diskutiert und wie sehr dessen Realisierung manchenorts als Wunschziel angestrebt wird. Dies bedingt nicht nur die Formulierung neuer Curricula und die sukzessive Anstellung entsprechend ausgebildeten Lehrpersonals, es bedingt auch den Abschied von vielen immer noch ziemlich heiligen Kühen. Dazu gehört etwa das theoretische System der Harmonielehre, mit dem manchenorts die Musik zwischen Monteverdi («da wird’s ja bereits so’n bisschen tonal») und Mahler analysiert wird. Dazu gehört die systematische Formenlehre, mit deren Vorgaben man nach wie vor Kunstwerke vermisst. Dazu gehört wohl schlicht das meiste vorgefertigte theoretische Instrumentarium. Es führt notwendigerweise zur Einengung und nicht selten auch zur bleibenden Deformation des Blick- bzw. Hörwinkels.

Aufeinander bezogene Fächer vermitteln ein Gesamtbild

Die Unterrichtscurricula an Instituten für historische Aufführungspraxis unterscheiden sich nicht nur im Bereich der Hauptfächer (alte Instrumente, Spieltechniken, Ästhetik), sondern auch und ganz besonders im Pflichtfachbereich von denjenigen landesüblicher Musikhochschulen. Dargestellt am Beispiel der Basler Schola: Hier folgen die Kernfächer Satzlehre, Gehörbildung, Notationskunde und Musikgeschichte einem einheitlich historisch differenzierten Ausbildungsplan. Dank dem chronologischen Vorgehen in allen diesen Fächern entstehen viele innere Beziehungen, wird derselbe Gegenstand von unterschiedlichen Standpunkten beleuchtet und betrachtet. Diese Fächer werden ergänzt durch die ebenfalls in chronologischem Vorgehen angebotenen Fächer Quellen- und Instrumentenkunde, den Pflichtfächern Gregorianik (Modalität in der Einstimmigkeit), Historischer Tanz, Improvisation und Verzierungslehre sowie, je nach Arbeitsbereich, auch Generalbassspiel. Für alle Studierenden kommt dazu noch das Pflichtfach Gesang (Stimmbildung, historische Singpraxis). Der Kanon der aufeinander bezogenen Fächer vermittelt den Studierenden ein Gesamtbild, in das sie ihre Arbeit im Hauptfach stellen können. Sie verfügen über einen detailreichen Hintergrund und ein auf allen Ebenen vertraut gewordenes Umfeld. Sie erhalten damit die nötigen Grundlagen für ihre ästhetischen Entscheidungen als Interpreten.

Aufgeteilt ist der Gesamtbereich in die stilspezifischen Arbeitsbereiche bzw. Studiengänge: 1) Mittelalter/Renaissance, 2) Renaissance/Barock/Klassik und schliesslich 3) Barock/Klassik/Frühromantik. (Dieses Ausbildungskonzept geht zurück auf einen Entwurf von Wulf Arlt im Jahre 1970. Es wurde danach erweitert und ergänzt durch Peter Reidemeister und später durch dessen Nachfolgerinnen und Nachfolger.)

Die genannten Arbeitsbereiche liessen sich wie folgt weiterdenken: 4) Klassik/Frühromantik/Hoch- und Spätromantik, 5) Romantik/Neue Musik in der ersten Hälfte des 20. Jh. /Musik nach dem zweiten Weltkrieg. Die Bereiche 1) und 2) blieben wohl den darauf spezialisierten Instituten vorbehalten, an den meisten Musikhochschulen bestünde das Standard-Angebot wie bisher aus den Bereichen 3), 4) und 5). Ausbildungsprogramme könnten als Module frei zusammengestellt werden.

 

Markus Jans unterrichtete von 1972 bis 2010 an der Schola Cantorum Basiliens historische Satzlehre.

Ausgabe 04/2024 – Focus «Schaffhausen»

Annedore Neufeld in Schaffhausen. Foto: Holger Jacob

Inhaltsverzeichnis

Focus

In Schaffhausen arbeiten wir zusammen, die Wege sind kurz
Interview mit Annedore Neufeld, u.a. engagiert bei Musik-Collegium und Bachfest tätig

Schaffhauser Jazzfestival
Spiegel des helvetischen Schaffens

Kleine Stadt mit grossem Herzen für verrückte Musik
Schaffhausen als Hochburg des Do-it-yourself-Pop
Link zu Hanspeter Künzlers Playlist Schaffhausen

Es geht um etwas ganz Grosses
Die Musikschule Schaffhausen und ihre Singschule

Chatten über … die kulturelle Atmosphäre in Schaffhausen
Sonix und Joscha Schraff

 (kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

 

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

 

Echo

Beethoven lebt im Emmental
Das Langnauer Orchester und sein grosses Beethoven-Projekt

Radio Francesco
Accoucher | Gebären

«Ein bisschen an den Basler Madrigalisten riechen»
Erster Schweizer Chorleitungspreis «Swiss Made»

Un parcours hors du commun
Raymond Meylan

Il faut arrêter d’être obsédé par la question de la modernité
Entretien avec Karol Beffa, compositeur, pianiste et écrivain

Chancengerechter Instrumentalunterricht im Aargau
Diskussionsbeitrag von Andreas Schlegel
Link auf musikbildung-aargau.ch

Alte oder neue Musik: Zum Unterricht in historischer Aufführungspraxis
Überlegungen zur Zukunft von Markus Jans

Carte blanche
für Werner Bärtschi


Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Gender-Pay-Gap im 19. Jahrhundert
Rätsel von Rudolf Baumann

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Ausgabe für CHF 8.- (+ CHF 2.- Versandkosten) bestellen

Arthur Furers Werk lebt auf

Am Wochenende vom 23./24. März 2024 findet in der Petruskirche Bern zum 100. Geburtstag von Arthur Furer (1924-2013) ein Festival mit Werken des Berner Komponisten, Musikers und Musikpädagogen statt. Die künstlerische Leitung liegt bei Kaspar Zehnder, Furers Neffe.

Arthur Furer mit Kaspar Zehnder 2003 in Prag. Foto: zVg

Als Neffe von Arthur Furer durfte ich bereits als Jugendlicher vom grossen musiktheoretischen Wissen des Komponisten profitieren. Bis heute zehre ich von der Grundlage in Harmonielehre und Analyse, welche mir mein Onkel vermittelt hat. Noch zu seinen Lebzeiten konnte ich mich revanchieren und mich in zahlreichen Konzerten und Aufnahmen mit seinem Schaffen auseinandersetzen. Dabei war es mir stets ein Anliegen, dafür auch Interpretinnen und Interpreten der jüngeren Generationen zu gewinnen.

Da Arthur Furer wegen eines Gehörleidens ab den 1990er-Jahren nur noch vereinzelt komponierte, war ihm die Wiederaufführung seiner früheren Werke die eigentlich grösste Freude. Er sass dann mit ausgeschalteten Hörgeräten im Konzert und beobachtete aufmerksam Bühne und Publikum. Mit unvermindert charmantem Lächeln pflegte er sich bei den Musikerinnen und Musikern zu bedanken.

Komponist, Geiger, Bratschist

Die Ausführenden waren sehr oft seine Freunde. Allen voran die Geiger Rudolf Brenner und Ulrich Lehmann, aber auch das Berner Symphonieorchester, wo Brenner sowie Lehmann als Konzertmeister und Furer selbst als Geiger wirkten. Dann auch das Berner Kammerorchester, wo Furer Solobratschist war, das Kammerensemble Radio Bern, von dem einige Aufnahmen für Soloinstrumente und Kammerorchester existieren, und die Camerata Bern, für die er in den 1980er-Jahren eine virtuose Musik für Streicher schrieb.

Anlässlich der Einweihung des neuen Inselspitals wurde sein Werk Portum inveni uraufgeführt. Für das Jubiläum 800 Jahre Bern schrieb er die Kantate Aus Zeit und Leid, deren Uraufführung durch die Chöre des Gymnasiums Neufeld (Leitung: Döfe Burkhardt) und das BSO ein Ereignis war. Furers Solosonate und die Musica per Viola sola waren beim ersten Max Rostal-Wettbewerb für Violine und Viola die Pflichtstücke.

Arthur Furer war ein Berner in Bern und für Bern. Dafür wurde ihm 1984 der Grosse Musikpreis des Kantons Bern verliehen.

Dirigent, Musikpädagoge

Von seiner Heirat 1951 bis zu seinem Tod 2013 hat er in der Petrus-Kirchgemeinde gelebt und dort auch lange den Kirchenchor geleitet. Während Jahrzehnten wirkte er als Musiklehrer am Städtischen Lehrerinnenseminar Marzili. Aus dieser Zeit stammen die exemplarischen Aufnahmen der Zyklen Jahreszeitenlieder, Blumenlieder und Kathedrale für Elite-Frauenchor. Furer war ein extrem strenger, aber auch charismatischer Lehrer, Musiker und Dirigent. Seine grossartigen Aufführungen von Bachs h-Moll-Messe und von Schuberts As-Dur-Messe liegen über 40 Jahre zurück, bleiben mir aber unvergesslich. In seinen späten Werken, namentlich in Lob der Gottheit bringt Furer eine pazifistische und pantheistische Weltanschauung zum Ausdruck.

Die Musik von Arthur Furer war nie avantgardistisch, aber stets akribisch durchdacht, anspruchsvoll in jeder Hinsicht und klanglich meisterhaft. Er selbst äusserte sich dazu: «Keiner zeitgenössischen Schule verbunden, suche ich für jede neue Komposition den dem Gehalt des Werkes dienenden und mir momentan entsprechenden persönlichen Stil.»

Verein Music Research & Discoveries

Veranstalter des Festivals ist der von Kaspar Zehnder im September 2023 gegründete Verein Music Research & Discoveries. Der Verein bezweckt die Erforschung und Entdeckung von neuer, wenig bekannter oder in Vergessenheit geratener Musik sowie deren Herausgabe, Aufführung und/oder Aufnahme, was dem Vereinsgründer ein grosses Anliegen ist. Die Vereinstätigkeit wird finanziert durch freiwillige Beiträge der Mitglieder, Spenden und Zuwendungen von Dritten, Erträge aus Veranstaltungen, Sponsorenbeiträgen und Beiträgen der öffentlichen Hand.

Weitere Informationen und detailliertes Programm: kasparzehnder.com

Manuskriptseite einer Komposition von Arthur Furer. Bild: zVg

«Ein bisschen an den Basler Madrigalisten riechen»

Nur wenige Absolventinnen und Absolventen des Masters in Chorleitung finden eine Anstellung in einem professionellen Chor. Mit dem Schweizer Chorleitungspreis «Swiss Made» soll nun dieser Berufseinstieg gefördert werden.

Masterclass Chorleitung mit Maija Gschwind; Raphael Immoos stehend im Hintergrund Foto: Benno Hunziker

Die Schweizer Musikhochschulen bieten ausgezeichnete Ausbildungsangebote für Chorleitende. So weit, so gut, aber was mit den Absolventinnen und Absolventen nach der Ausbildung geschieht, liegt grundsätzlich nicht mehr im Zuständigkeitsbereich der Hochschulen. Raphael Immoos, ehemaliger Professor für Chorleitung an der Basler Musikhochschule und seit zehn Jahren Leiter des traditionsreichen Gesangsensembles Basler Madrigalisten, setzt sich mit diesem Übergang auseinander: «Für hochkarätig ausgebildete Chorleitende mit Masterabschluss gibt es nach dem Studium zu wenige weiterführende Angebote. Es klafft eine Lücke zwischen Studium und Beruf.» Es gebe zwar hervorragende Masterclasses fürs Chordirigieren, wie kürzlich jene mit Florian Helgath und der Zürcher Sing-Akademie, doch bildeten solche Angebote eher die Ausnahme. Die meisten Chorleitenden verrichteten ihre Arbeit im Amateursektor und bekämen selten die Chance, mit professionellen Ensembles zu arbeiten. Wenn also Chorleitende Karriere mit professionellen Chören machen wollen, sind sie nach dem Studium auf Fördergefässe angewiesen.

Wettbewerb und Masterclass in einem

Immoos hat sich vorgenommen, zusammen mit seinem Profichor für diesen Bedarf ein Angebot zu entwickeln. Nachdem er im letzten Jahr die Lehrtätigkeit aufgegeben hatte, war die Zeit reif dafür. Der Internationale Lyceum Club war bereit, unterstützend mitzuwirken. Diese Institution ist seit vielen Jahren unter anderem als Sponsorin von Musikwettbewerben der besonderen Art aktiv. Viele weitere Geldquellen mussten freilich genutzt werden, um das Unterfangen umsetzen zu können. Ein Wettbewerbskonzept völlig neu zu denken und entwickeln zu dürfen, bedeutete für die Madrigalisten eine grosse Chance. Immoos war es wichtig, einen Wettbewerb mit Fördercharakter zu entwickeln, der sich nachhaltig auf die Fortentwicklung der Teilnehmenden auswirken kann.

Das Besondere an seinem Wettbewerbskonzept sind die Coachings in Form von Workshops und Masterclasses. Donnerstag bis Samstag, 15. bis 17. Februar, gab es fachliche Einzelbetreuung durch Raphael Immoos und Körperschulung durch die Physiotherapeutin und Dozentin Johanna Gutzwiller sowie insgesamt zweieinhalb Stunden Probezeit pro Teilnehmenden, während der die vorgegebenen Stücke mit dem Chor unter Aufsicht des Dozenten und der Dozentin erarbeitetet wurden. Samstagnachmittag war Generalprobe, und am Abend erklang das von Radio SRF 2 Kultur aufgezeichnete Konzert. Die fünf Finalteilnehmenden, die aus den elf Bewerbungen ausgewählt wurden und für die Coachings je einen Betrag von 800 Franken zahlten, «durften ein bisschen an den Madrigalisten riechen», schmunzelte Immoos.

Alle zwei Jahre soll der Wettbewerb in Zukunft durchgeführt werden – so der Plan –, und in den Zwischenjahren darf der Preisträger oder die Preisträgerin ein Projekt mit den Madrigalisten planen, proben und aufführen. Jeder Teilnehmer, jede Teilnehmerin erhält neben dem Zertifikat für die Finalteilnahme eine professionelle Tonaufnahme und ein Video- Dokument, die es ihnen erlauben, sich für anspruchsvolle Anstellungen zu bewerben

Anspruchsvolle Literatur, gedrängtes Konzertprogramm

Das Programm war vom Veranstalter vorgegeben worden. Es handelte sich ausschliesslich um zeitgenössische Schweizer Musik. Ausgehend von Heinz Holligers komplexem und gesellschaftskritischem Werk hölle himmel nach Gedichten von Kurt Marti hatten sich die jungen Kandidatinnen und Kandidaten mit Stücken von Thüring Bräm, Walter Courvoisier, Conrad Beck, Hans-Martin Linde, Javier Hagen und Frank Martin auseinanderzusetzen – wahrlich keine leichten Aufgaben. Immoos war es wichtig, dass alle mindestens ein Stück von Heinz Holliger einstudierten, das sie in kürzester Zeit zur Konzertreife bringen mussten.

Im Verlauf der Aufführung wechselten sich die vier Dirigentinnen (Maija Gschwind, Anna Kölbener, Chiara Selva, Deborah Züger) und der eine Dirigent (Grégoire May) am Pult in rascher Folge ab. Auch für die Sängerinnen und Sänger stellte diese spezielle Situation eine Herausforderung dar und sei nicht mit einer «normalen» Konzertsituation zu vergleichen, wie die Altistin Isabelle Gichtbrock in der Pause vor der Preisverleihung zu bedenken gab. Nichtsdestotrotz vermochten die erfahrenen Chorleute manch packenden musikalischen Moment zu kreieren. Die beiden Teilnehmerinnen Chiara Selva und Deborah Züger äusserten sich in der Pause begeistert vom Konzept und betonten, dass sie in der kurzen, intensiven Zeit sehr viel lernen könnten.

Deborah Züger wurde von der dreiköpfigen Jury, bestehend aus Georg Grün (Dirigent Kammerchor Saarbrücken), Jessica Horsley (Dirigentin) und Lukas Bolt (Musikkommission des Schweizerischen Chorverbands) schliesslich zur Gewinnerin erkoren, eine weitere Rangierung gab es nicht. Es sei nicht mehr als eine Momentaufnahme, welche man nicht zu ernst nehmen sollte, betonte Grün und schlug vor, die Jury beim nächsten Mal auf fünf oder gar sieben Köpfe aufzustocken.

Um die Beurteilung auf mehrere Instanzen zu verteilen, könnte man sich ausserdem überlegen, eine weitere Stimme dem Chor zu geben. Auch ein Publikumspreis würde der Veranstaltung gut anstehen. Chor und Publikum urteilen oft aus anderen Blickwinkeln als eine Jury. Dies würde das Verdikt, das ja hinter dem Weiterbildungsaspekt zurückstehen soll, etwas relativieren.

 

 

 

AMG-Ehrenmitgliedschaft Ton Koopman

Die Allgemeine Musik-Gesellschaft Zürich hat den niederländischen Musiker Ton Koopman für seine Verdienste ausgezeichnet.

Ton Koopman und der AMG-Präsident Heinrich Aerni bei der Übergabe der Ehrenurkunde. Foto: AMG

Am 4. März 2024 hat die Allgemeine Musik-Gesellschaft Zürich (AMG) dem Organisten, Cembalisten, Dirigenten und Hochschullehrer Ton Koopman die Ehrenmitgliedschaft für seine Verdienste um das internationale Musikleben und insbesondere die Pflege der Alten Musik verliehen.

Die Feier fand im Lesesaal der Musikabteilung der Zentralbibliothek Zürich im Predigerchor statt. Rund 80 Personen wohnten der Feier bei, darunter die niederländische Botschafterin Karin Mössenlechner. Es spielten das Chava Consort (Renaissance-Flöten), Claire Genewein (Traverso), Martin Zeller (Gambe), Ulrike-Verena Habel (Cembalo, Orgel) und Ton Koopman (Orgel); zudem sang der junge Countertenor Constantin Zimmermann. Die Laudatio hielt Laurenz Lütteken (Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich).

Angewandte Musik-Kinesiologie in der Schweiz

Seit 30 Jahren geben Marianne und Wenzel Grund ihr umfassendes Wissen an professionelle Musikschaffende weiter in Beratung, Therapie und Ausbildung. Der Ausbildungsgang «Angewandte Musik-Kinesiologie» wurde neu konzipiert. Einige Hintergründe und Praxisbeispiele.

Folo: vladislavgaijc/depositphotos.com

Die Musik ist ein uralter Weg, die Resonanzfähigkeit des Menschen zu schulen. Schon in frühen Zeiten im Tibet, Ägypten und im antiken Griechenland wurde Musik zur Heilung eingesetzt. Klänge wirken unmittelbar über das Ohr (und dessen Nervenverbindungen zum Gehirn) auf den gesamten Organismus. Jeder Mensch kann natürlicherweise harmonische Klänge von disharmonischen unterscheiden. Dieses Harmoniebedürfnis ist auch in der Psyche verankert.

Ganzheitliches Gesundheitssystem

 Die Angewandte Musik-Kinesiologie erkennt Stressmuster auf der körperlichen, emotionalen und mentalen Ebene. Sie versteht es, die ordnenden Strukturelemente der Musik (Rhythmus, Melodie, Harmonie, Klangfarbe u.a.m.) zu nutzen, um die eigene Persönlichkeit in Einklang zu bringen und die Gesundheit auf allen Ebenen in Balance zu bringen. Mit der richtigen Schwingung (Schallwellen) wird das Gehirn sozusagen auf Heilung programmiert.

Prägende Erfahrungen und Emotionen, die wir nicht richtig verarbeitet haben, speichert unser Körper langfristig auf der Zellebene ab. Dadurch tragen wir unbewusste Blockaden und Konflikte mit uns herum, die unseren natürlichen Energiefluss hemmen, unsere Lebensfreude dämpfen und auf Dauer krankmachen können. Da wir diese inneren Konflikte wortwörtlich «verkörpern», können wir über den Ausdruck unseres Körpers zum ursprünglichen Problem gelangen. Grundannahme der Angewandten Kinesiologie ist, dass wir mittels kinesiologischem Muskeltest als «Biofeedbacksystem», die im Körper gespeicherten Informationen ablesen können. Das Erlernen wirkungsvoller Selbstaktivierungs- und Korrekturtechniken ermöglicht zudem, individuell die richtigen Impulse zu setzen.

Die Dimensionen der Angewandten Musik-Kinesiologie

 

1. Hilfe bei berufsspezifischen Themen von Musikschaffenden, Bühnenkünstlerinnen und -künstlern

Zum Beispiel: körperliche und mentale Disposition herstellen, Lampenfieber, Prüfungsängste, Lernblockaden bei schwierigen Stellen, Auswendigspielen, Umgang mit Kritik, Stress mit Kolleginnen und Kollegen, in Orchester, Ensemble, Schule usw. Blockaden der Kreativität und Inspiration, das Verhältnis zum eigenen Instrument, Intonationsprobleme, Vorbereitung auf Wettbewerbe, Stress auf bestimmte Tonarten, Intervalle und Musikwerke, ungünstige Bewegungsmuster, Muskelverspannungen, bis hin zur Selbstdarstellung, Marktwert und Selbstmanagement.

2. Impulse für den professionellen Musikunterricht

Dieser Teil richtet sich an Musiklehrpersonen in Schule, Musikschule oder an der Hochschule. Es geht darum, die eigene Arbeit zu schätzen und soll helfen, Frustrationen zu überwinden, die heute mit dem Einzel- und Gruppenunterricht in Musik ohne Zweifel verbunden sind.

Musikpädagoginnen und -pädagogen tragen, ob bewusst oder unbewusst, die Verantwortung für den Fortbestand unserer Musikkultur. Sie versuchen, Ideale, Werte und bewährte musikalische Traditionen zu pflegen und zu erhalten und deren Wertschätzung den Schülern, Schülerinnen und Studierenden zu vermitteln. Dieser Versuch ist oft mühsam und mündet bisweilen in Resignation.

Hier mögen die Impulse aus der Angewandten Musik-Kinesiologie mit verschiedenen integrativen und kreativen Übungen dazu dienen, die Motivation des Lehrenden sowie des Lernenden zu fördern.

3. Neuer Berufszweig in den die Heilung unterstützenden Therapieformen

Hier werden die Elemente der Musik in Verbindung mit Kinesiologie im therapeutischen Bereich eingesetzt (aktives Musikhören) und wir befassen uns mit Fragen wie: Welches Instrument kann heilsam wirken, welcher Dreiklang, welches Musikstück aus welcher Epoche?

Die klassische Musik hat sich diesen Bereich bisher noch nicht erschlossen. Dabei wird gerade die harmonisierende und heilende Kraft der sogenannten «Klassik» in Zukunft eine grosse Bedeutung bekommen. Die harmonikalen Gesetzmässigkeiten dieser Musik entsprechen den universellen Lebensgesetzmässigkeiten, in die wir alle eingebunden sind. Deshalb beschreitet man mit der Angewandten Musik-Kinesiologie natürliche Heilungswege und setzt sich dabei mit den Krankheits- und Heilungsprinzipien der Miasmen auseinander, welche sich während eines ganzheitlichen Heilungsprozesses abspielen.

Einen Schwerpunkt bildet dabei auch die typengerechte Atemenergetik, da sie unseren Lebensrhythmus bestimmt. Über den Atem steuern wir all unsere Lebensfunktionen wie Kreislauf, Stoffwechsel, Motorik, Sinneswahrnehmung und Gehirnfunktionen.

Die richtige Art und Weise der Kommunikation bestimmt heutzutage über Erfolg und Misserfolg unseres Tuns. Wichtige Impulse, wie wir authentisch und klar mit unserem Umfeld interagieren können, erhalten wir über die Testung des individuellen Lern- und Wahrnehmungstypus nach der berühmten Verhaltensforscherin Dawna Markova.

Weitere Themen der Angewandten Musik-Kinesiologie sind: Erfahren des eigenen Lebenstons (mit welchen Themen komme ich immer wieder in Resonanz?), die Heilkraft der Musik gezielt nutzen, Zeitmass und Heilung, Klang und Farben, ungünstige Verhaltensmuster erkennen und ablösen, Umgang mit Kritik, Lebensharmonie und Tonarten sowie zahlreiche ganzheitlich orientierte Tipps zur Gesundheitsförderung (Organ-Konflikt Heilung), im Speziellen bei chronischen Leiden.

4. Ein musikalischer Weg zur Spiritualität

Wer sich schon einmal von Musik hat «verzaubern» lassen, wer sich einmal selbst vergessen hat im Erleben der Musik und tief berührt aus dieser Erfahrung wieder aufgetaucht ist, der hat eines der grössten Geheimnisse der Musik erahnt: Sie hat die Kraft, uns in andere Dimensionen des Erlebens zu entrücken, uns auf eine höhere Schwingungsebene zu bringen.

Aus der Sicht der Angewandten Musik-Kinesiologie ist der Mensch mehr als nur eine biologische Maschine, die denkt und fühlt; der Mensch ist in erster Linie ein geistiges Wesen. Die Angewandte Musik-Kinesiologie möchte alle Ebenen, die körperliche, emotionale, mentale und spirituelle im Menschen wieder vereinen.

Im Bereich der «esoterischen Kunst» und im Bereich der Popkultur ist eine solche Verbindung – wenn oft auch auf seichtem Niveau – bereits zu finden. Klassische Musikerinnen und Musiker, die sich mit Spiritualität beschäftigen, stehen heute oft noch alleine da und werden oftmals von ihren Kolleginnen und Kollegen als sonderlich betrachtet. Die Angewandte Musik-Kinesiologie möchte einen Impuls geben, klassische Musik und Spiritualität zu verknüpfen. Viele grosse Komponisten waren spirituell orientiert, äusserten sich auch darüber und es ist keineswegs so, dass es nur eine östliche oder ostasiatische Tradition diesbezüglich gibt. Dies ist wichtig zu betonen, denn viele gute Anregungen kommen aus dem Osten, was uns oft die eigene Kultur vergessen lässt.

Der amerikanische Präventivmediziner und Psychiater John Diamond schreibt in seinem Buch Lebensenergie in der Musik: «Die Funktion der Musik bestand von allem Anfang an in der geistigen Erbauung des Hörers, in der Stärkung seiner Lebensenergie. Wir wissen alle, dass die Musik diese Kraft hat und doch denken wir selten daran, wenn wir musizieren, wenn wir ein Konzert besuchen oder wenn wir eine CD kaufen; oder wir haben den eigentlichen Grund für die Existenz von Musik vergessen.»

Praktische Fallbeispiele

1. Lampenfieber einer Pianistin

Eine Klientin, die 44-jährige Pianistin K. aus der ehemaligen DDR, erzählte mir von den Erziehungsmethoden, die sie in der Schule für musisch begabte Kinder «genossen» hatte. Diese Massnahmen hatten zur Folge, dass sie schon im Alter zwischen 8 und 12 Jahren «verstummte». Im Internat gab es keine Privatsphäre und keine vertrauenswürdigen Bezugspersonen. Sie und alle Kinder wurden nur nach Leistung bewertet und zum Teil auch misshandelt. So kam es bei K. dazu, immer mehr Lust dabei zu empfinden, sich zu quälen – beim Üben und Musizieren.

Sie las mit 12 Jahren bevorzugt Erwachsenenromane über Sklavinnen und identifizierte sich mit den Figuren. Seit der Pubertät litt sie mehr und mehr unter Lampenfieber beim Vorspielen. Nach ihrer Emigration in den Westen spielte K. zehn Jahre lang kein Klavier mehr. Nach dieser Pause fing sie wieder an zu üben. Musik machte ihr wieder Freude. Sie gab auch wieder Konzerte – wenn da nur nicht das grosse Lampenfieber wäre!

 Bei der ersten Sitzung zeigte sich schon bei den Vortests (Vorbereitung klarer Muskelfunktionen), dass sie «linkshirnig» an die Dinge heranging. Deshalb machte ich zuerst etliche kinesiologische Integrationsübungen mit ihr, damit sie im Körper spürte, was es heisst, in der Mitte zu sein. Ich gab ihr die Hausaufgabe, diese Übungen vor und nach dem Üben durchzuführen.

Dann testeten wir zum Thema Lampenfieber Begriffe aus dem Verhaltensbarometer aus. Zum Begriffspaar «still – vernachlässigt» kam eine Altersrückführung mit den Stufen 41 – 21 – 16 – 12 – 8 – 6 hinzu. Wir führten eine Stressablösung mit dem Thema «still – vernachlässigt» auf allen Altersstufen durch. So schlossen wir die erste Sitzung ab.

Beim zweiten Termin wurde, da K. kurz vor einem Konzert stand, eine so genannte «Terminbalance» mit zwölf Muskeln durchgeführt. Die Klientin dachte an ihr Konzert, während ich die den Meridianen zugeordneten Muskeln testete. Es zeigte sich eine Milz-Pankreas- und Kreislauf-Sexus-Überenergie sowie eine Unterenergie bei Blase und Dickdarm. Da der Blasenmeridian als Ursache Unterenergie anzeigte, aktivierten wir zunächst die dazu gehörigen neurolymphatischen und neurovaskulären Zonen. Dann folgte ein emotionaler Stressabbau (ESA) mit den zum Blasenmeridian gehörenden Entsprechungen wie Frieden, Stöhnen, Wasserelement, die wir mit dem Konzert in Zusammenhang brachten.
K. begann sich wohlzufühlen bei der Vorstellung, wieder auf der Bühne zu musizieren und bewusst mit dem Publikum durch Musik zu kommunizieren (Wasserelement).

Wenige Tage nach ihrem Konzert erzählte sie freudenstrahlend über ihren Auftritt. Sie habe sich wohlgefühlt und erstmalig in ihrem Leben Gratulationskarten von Konzertgästen erhalten. Eine wichtige Erkenntnis war, dass man seine Vergangenheit nicht verurteilen soll, egal wie sie ausgesehen hat. Das Leben findet jetzt statt. Nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Die Kollegin zeigte mir, wie wichtig es ist, seine Vergangenheit ins jetzige Leben zu integrieren, um sich wieder frei bewegen zu können. Jahre später erhielt ich von K. folgendes Feedback: «Ich danke Dir herzlich für die allumfassende Arbeit an der Seele und am Körper. Es gibt keine Worte, die annähernd meine Begeisterung und Dankbarkeit ausdrücken können.»

2. Wenn Zähne erzählen könnten …

Anfang Jahr kontaktierte mich Klient B. mit der Frage, ob ich ihm bei seinen Zahnschmerzen helfen könne. Er ist ein sehr engagierter Leiter eines pädagogischen Institutes. Ich erfuhr, dass er nicht nur beim Essen (Äpfel und anderes Obst), sondern auch beim kräftigen Einatmen, starke Zahnschmerzen habe. Das wurde auch bei seinem Spiel auf der Oboe zunehmend störend. Er war bereits bei allen möglichen Zahnärzten und Spezialisten gewesen, ohne den geringsten Erfolg. Im Vorgespräch erwähnte er, dass er häufig von seiner Arbeit überfordert sei, besonders bei zähen Verhandlungen mit Behörden und Vertretern aus Politik und Wirtschaft. Abends könne er schlecht abschalten könne.

Als ganzheitlich denkender Therapeut sind Zähne für mich mehr als nur Kauwerkzeuge. Mit dem Mundraum und den Zähnen offenbart sich für jeden sichtbar – wenn man die «Sprache der Zähne» entschlüsseln kann – der Zustand des gesamten Systems Mensch. Zahngeschichten offenbaren uns einen Prozess und keine Akut-Geschehnisse, sondern systemische Gegebenheiten, langanhaltende Stresszustände etc. Sie melden sich laut Christian Kobau immer dann, wenn an unseren Grundfesten gerüttelt wird. (Christian Kobau ist zwischenzeitlich leider verstorben, er war Facharzt für Zahn- und Kieferheilkunde sowie praktizierender Arzt in Klagenfurt, Österreich, und hat umfangreiche ganzheitliche Betrachtungen im Bereich der Zahnheilkunde vorgelegt.)

Ich entschloss mich, zunächst über den Muskeltest das Stressmuster von B. zu erkennen. Dazu wählte der Klient die Affirmation: «Wenn ich selbständig arbeite, bin ich entspannt, konzentriert und zielstrebig.»

Die erste Behandlungsphase dient der Bestandsaufnahme, wo im Energiesystem Stressoren mittels schwacher Indikator-Muskeln auftauchen. Diese Schwachanzeigen trage ich als Minus auf dem Meridianrad ein. Der nächste Schritt besteht darin, über den Muskeltest herauszufinden, welche Anzeige eine Unterenergie und welche eine Überenergie bedeutet. So wie in der Traditionellen Chinesischen Medizin wird auch in der Kinesiologie das Augenmerk auf die Behandlung der Unterenergie gerichtet. Bei der ersten Sitzung zeigten bei meinem Klienten auf dem Meridianrad an: Milz, Blase, Niere – Unterenergie; Herz, Leber – Überenergie.

Das Meridianrad. Bild: Wenzel Grund

Nach der kinesiologischen Regel, dass die nach einer Überenergie folgende nächste Unterenergie die zu behandelnde Störgrösse ist, folgt die zweite Phase des Tests. Hier teste ich entweder auf Stressanzeige oder auf positive Anzeige aus, welche Heilimpulse für die Unterenergie (in diesem Beispiel die Blase) bzw. für das Stressmuster insgesamt in Frage kommen. Beim Blasenmeridian haben wir das Element Wasser mit dem Stressfaktor Angst. Das Wasserelement insgesamt hat wiederum mit dem Thema Kreativität, Sicherheit/Unsicherheit zu tun. In der Musik gibt es viele Werke, die diesem Element gewidmet sind, denken wir z. B. an die Wassermusik von Händel, die Moldau von Smetana oder das Forellenquintett von Schubert.

Über die Korrektur der angezeigten Meridiane durch die Berührung der neurolymphatischen Zonen und neurovaskulären Punkte sowie das Halten der Anfangs- und Endpunkte der Meridiane konnten wir den Energiekreislauf stabilisieren. Während dieser ersten Korrekturmassnahme lief die zuvor ausgetestete Musik – nämlich das Klaviertrio in g-Moll op. 15 von Smetana. (Dur-Tonarten sind generell immer nach aussen gerichtet, Moll-Tonarten haben immer mit unserer Innenwelt zu tun). So wurde mein Klient schon auf sein Thema eingestimmt. Anschliessend führte ich ein Emotional Stress Release (ESR) durch, bei dem wir auf seine Affirmation eingingen und diese positiv integrierten.

Eine ESR oder ESA ist ein höchst kreativer Akt des Therapeuten, sich vollkommen zurückzunehmen und bei gleichzeitiger höchster Aufmerksamkeit den Klienten in einen leichten Alpha-Zustand zu versetzen, so dass dieser seine Bilder, Farben und so seine Symbolwelt aktivieren kann.

Am Kopf befinden sich viele Energiepunkte unserer feinstofflichen Existenz. Einige von ihnen haben sich als ideal erwiesen, ein Stressfeld im Gehirn zu aktivieren und einen Stress oder eine Blockade abzulösen. Durch das Berühren des Hinterkopfes und der Stirn schalten wir gewissermassen das limbische System (Emotionszentrum) im Gehirn aus, so dass wir ein Problem, so wie es ist, ohne Einmischung von emotionalen Reaktionen, betrachten können.

Die Berührung am Hinterkopf löst die Erinnerung an ein Bild aus. Die Berührung der Stirn (Vordere Stirnlappen) aktiviert das zukunftsorientierte Denken und Handeln. Der Tester merkt die Aktivierung eines Stressfeldes daran, dass die Schädelteile anfangen zu schwingen. Der Kopf wird heiss, der Klient kann zu schwitzen beginnen. Die Ablösung des Stresses merkt der Tester daran, dass der Kopf ruhig und kühl wird. Je sensitiver wir mit unseren Händen arbeiten, umso deutlicher nehmen wir wahr, was in unserem Energiepartner (= Klient) abläuft. Wollen wir den ständigen Informationsfluss, den wir senden und empfangen, nicht alle in der Intuition, dem Fühlen und Ahnen überlassen, müssen wir uns der bedeutendsten Fähigkeit des menschlichen Gehirns anvertrauen, dem Denken in Bildern.

Mit dem Halten der Stirnbeinhöcker und der Hinterhauptlappen ziehen wir die Energie in den Teil des Gehirns, den wir als Zone für bewusstes assoziatives Denken (ZBAD) kennen. Diese Gehirnzone ermöglicht es uns, neue Wege im Umgang mit Situationen zu finden und sie arbeitet – wie gesagt – ohne Emotion. Die Hinterhauptlappen sind für den visuellen Bereich wichtig, haben mit Licht zu tun und arbeiten ebenfalls ohne Emotion. Wir fassen uns ja öfters an die Stirn, wenn wir nachdenken, und oft geht uns dann ein Licht auf. Halten wir nun diese beiden Zonen, dann wirkt das beruhigend und zentrierend. Wir können Situationen in neuem Lichte sehen, indem wir uns in einen Alpha-Zustand begeben. In diesem Alpha-Zustand ist es ein Leichtes, mit geschlossenen Augen in unsere Innenwelt einzutauchen und uns innere Bilder mit entsprechenden Sinnesinputs vorzustellen.

Der ganze Vorgang der emotionalen Stressablösung sollte sanft geschehen, was in den meisten Fällen auch passiert. Es ist nicht nötig, nochmals all unsere Traumata durchleben. Unsere Bilder können wir selbst erschaffen und ändern. Wir müssen uns klar darüber sein, dass alles, was das Gehirn speichert, nichts als Energie ist, die sich in Bildern und Wahrnehmungen ausdrücken kann.

Etwa einen Monat später erschien B. zur zweiten Sitzung. Er sagte mir, seine Symptome hätten sich wesentlich gebessert und er verspüre nur noch in den hinteren Zähnen Schmerzen. Diesmal testete ich das Farb-Ton-Barometer aus. Dabei zeigte Orange mit Stress an. In der ESR fiel B. zum Thema Orange Aggression ein. Über dieses Thema kamen wir auf seinen Arbeitsort zu sprechen. Vor allem eine grosse Yucca-Palme brachte ihn in Rage. Er stellte sich vor, diese Pflanze aus dem Raum zu entfernen, obgleich er sich beim Einrichten des Raumes ausgerechnet diese Pflanze ausgesucht hatte! Nach diesem «Pflanzenopfer» fielen B. noch einige Mitarbeiter ein, die ihn nervlich belasteten.

Zur Stressablösung dieser Thematik entschloss ich mich, mit dem Intervallbarometer (zeigt die Spannungsverhältnisse zwischen zwei Einzeltönen an) zu arbeiten. Dabei zeigte die Sexte an (Gabe der Inspiration, Gefühle mitteilen). Als Symbol für die Integration des Intervalls zeigte das Wort «Ferne» an. Nachdem B. wiederum unter ESR erkannt hatte, wie er sich emotional mitteilen könnte und die «Ferne» als «Weite» vor seinem geistigen Auge erschien, beendeten wir diese Balance. Schon nach kurzer Zeit meldete sich B. und teilte mir mit, er habe keine Zahnschmerzen mehr. Er könne essen und trinken, was er wolle.

Die Erfahrung zeigt mir und dem Klienten: Wenn wir bereit sind, Verantwortung für die eigene Gesundheit und das Leben zu übernehmen, erkennen wir auch die Lösung. Sie liegt in uns selber. Die Fachärzte haben in diesem Fall in der Aussenwelt nach Lösungen gesucht. Zum Beispiel: alle Amalgamfüllungen entfernen, Zähne ziehen, Schmerzmittel geben usw. Doch der Klient fand seine Lösung durch eine Innenschau, zu der ich zwar Impulse gab, aber keine vorgefertigten Anleitungen.

3. Gruppenharmonisierung

Drei junge Frauen kamen in meine Praxis: ein Klaviertrio (Klavier, Violine, Cello). Ich lernte sie bei einem meiner Lampenfieber-Seminare kennen. Während des Seminars zeigte sich, dass nicht das Lampenfieber das eigentliche Thema des Trios war, sondern gelegentliche Spannungen während der Probenarbeit. Die drei jungen Damen kommen ansonsten gut miteinander aus. Dennoch gab es immer wieder Unstimmigkeiten, was sich auf die Konzerte auswirkte. Ich hörte mir einen Satz aus dem Klaviertrio von Fauré an. Dabei wurde mir klar, dass die Aufgabenverteilung innerhalb der kleinen Gruppe zu ungenau ist. Zunächst musste jeder Musikerin klar werden, welche Qualitäten sie mitbringt.

 Der erste Schritt war, den Atemtypus der Musikerinnen festzustellen. Man unterscheidet grundsätzlich zwischen dem solaren oder Ausatemtyp und dem lunaren oder Einatemtyp. Die Qualitäten des solaren Typus sind unter anderem: das gebende Prinzip, die Führung des Tones, zum Beispiel kurze, kraftvolle Einsätze, der detailorientierte Blick und die visuelle Wahrnehmung. Die Qualitäten des lunaren Typus sind zum Beispiel: das aufnehmende Prinzip, die Hellfühligkeit, die bewegliche konstante Kraftverteilung und Arbeitsweise, der Blick für das Ganze.

Bei diesem Klaviertrio war die Pianistin lunar, die Violinistin solar, die Cellistin lunar. Bei der Beobachtung ihres Zusammenspiels fiel mir auf, dass die Violinistin sehr scheu ihre Einsätze gab. Sie hörte mehr auf die anderen, auch wenn sie gerade eine führende Stimme zu spielen hatte. Die lunare Cellistin hingegen wartete oft gespannt auf Zeichen der Geigerin, die aber nur zögerlich kamen. So begann die Cellistin, die Führungsrolle zu übernehmen. Die Pianistin nahm intuitiv das Ungleichgewicht in der Gruppe wahr. Sie versuchte durch ihr Spiel zu vermitteln, war aber dadurch zu wenig bei sich. Zudem klagte sie über kalte Hände.

Ich machte der Geigerin bewusst, dass sie ihre Führungsrolle dort, wo es möglich ist, auch übernehmen kann. Sie versuchte es und brach in Tränen aus, da sie genau davor auch im Alltag Angst hat. Wir führten eine kurze Stessablösung (ESA) auf das Thema «Führungsqualitäten» durch. Dabei merkte sie, welch starke Energie sie über ihre Augen und ihren Blick vermitteln kann. Die lunare Cellistin ermunterte ich, eine lunare Sitzhaltung einzunehmen (entspanntes Kreuzbein, Kopf hochhalten, beweglich bleiben). Sie sollte einfach das aufnehmen, was an Zeichen von der Geigerin kommt. Mit der Pianistin führte ich eine kurze Zentrierungsübung durch, da sie ja auch das Zentrum des Trios bildet. Dann zeichnete jede Spielerin mit genauen Vorgaben zu ihrer Rolle ein kleines Bild von sich. Wir schoben die Bilder auf dem Boden zu einem gemeinsamen Bild zusammen. Ich ermunterte die drei Damen, Ergänzungen nach Belieben mit Buntstiften hinzuzufügen, bis ihnen das Gesamtbild gefiel.

Nachdem dies alles als stimmig empfunden wurde, spielte das Trio mit dem verinnerlichten, farbigen Bild nochmals das Musikstück. Es war nicht wiederzuerkennen. Auch die Gesichter der Musikerinnen drückten die ganze Schönheit der Musik aus, die sie spielten.

 

Neues Konzept

Das neu erarbeitete Konzept der Angewandten Musik-Kinesiologie von Wenzel Grund basiert auf der ursprünglichen Musik-Kinesiologie (MK), die 1991 von Rosina Sonnenschmidt und Harald Knauss von Musikerinnen und Musikern für Musikerinnen und Musiker ins Leben gerufen wurde.

Wenzel Grund. Foto: mk-akademie.ch

Seit 1994 führt Wenzel Grund mit seiner Frau Marianne Grund eine Beratungs- und Therapiepraxis für Musikerinnen und Musiker. Seit 2003 setzt Wenzel Grund als zertifizierter MK-Instruktor im gesamten deutschsprachigen Raum das Werk der Begründer der MK fort. Er bildet auch selbst Musik-Kinesiologinnen und -kinesiologen aus.

Auf dieser Basis entwickelte er aufbauend auf seinem reichen Erfahrungsschatz und seinen Erkenntnissen aus der täglichen Praxis die «Angewandte Musik-Kinesiologie», welche die ganzheitliche Wirkung von Musik auf das Energiesystem des Menschen erfahrbar machen soll. Gleichzeitig geht es aber bei dieser praxisorientierten Methode weiterhin um den stressfreien, kreativen und erfolgreichen Umgang mit dem Musiker- und Musikerinnenberuf mit all seinen Facetten.

Marianne Grund beim Anleiten einer solaren Atemübung. Foto: mk-akademie.ch

Mehr Infos zu Ausbildung und Infoabenden

www.mk-akademie.ch

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