Basel-Stadt: Musikinitiative «Nein», ESC «Ja»

Am 24. November wurde im Kanton Basel-Stadt bei einer Stimmbeteiligung von 57.15% die Kantonale Initiative «für mehr Musikvielfalt» mit 64.36% Nein abgelehnt und der Grossratsbeschluss vom 11. September 2024 betreffend Ausgabenbewilligung für die Durchführung des Eurovision Song Contest (ESC) 2025 in Basel mit 66.57% angenommen.

In der kleinen Gemeinde Bettingen wurde die Initiative am höchsten mit über 83% verworfen und der Grossratsbeschluss mit knapp 58% angenommen. Die Stimmbeteiligung war hier mit 64.4 % ebenfalls am höchsten. Die Einwohnerinnen und Einwohner Bettingens bilden aber nicht einmal 1% der Gesamtbevölkerung des Kantons Basel-Stadt. In Riehen und Bettingen war die Ablehnung der Initiative höher als die Zustimmung zur Durchführung des ESC. In Basel war es genau umgekehrt.

Die genauen Zahlen:

Kantonale Initiative «für mehr Musikvielfalt»
Basel: 62.14% Nein (183’693 Einwohner, davon CH 110’502, Anteil 86.69, Stimmbeteiligung 56.26%)
Riehen: 76.77% Nein (22’683 Einwohner, davon CH 15985, 12.54%, Stimmbeteiligung 62.82%)
Bettingen: 83.61% Nein (1306 Einwohner, davon CH 985, Anteil 0.77%, Stimmbeteiligung 64.40%)

Durchführung des Eurovision Song Contests (ESC) 2025
Basel: 67.49% Ja
Riehen: 61.52% Ja
Bettingen: 57.72% Ja

Quellen
Einwohnerzahl: https://www.bs.ch/news/2024-bevoelkerung-im-oktober-2024
Abstimmungsresultate: VoteInfo

Grafik
SMZ

Eine Blosslegung, eine Blossstellung

Einen bösen Alptraum zeigt das Zürcher Opernhaus: Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten» in der Inszenierung von Kirill Serebrennikow.

Frau: Susanne Elmark; Ich: Bo Skovhus; Chor der Oper Zürich. Foto: Frol Podlesnyi/Opernhaus Zürich

Im Film The Square (2017) des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund gibt es eine längere Szene, bei der ein urwüchsig «wilder», gorillaartiger Mann mit nacktem Oberkörper, ein eigens dafür engagierter Künstler, eine Vernissagengesellschaft unterhalten soll. Die amüsiert sich zunächst noch, reagiert aber zunehmend irritiert, je aggressiver und hemmungsloser sich der Mann benimmt, bis schliesslich eine Frau gerade noch vor der Vergewaltigung gerettet werden kann. Was da noch einmal «gut geht», ist in Leben mit einem Idioten, der ersten und besten Oper Alfred Schnittkes, grausame Realität, zumindest in der Zürcher Neuinszenierung von Kirill Serebrennikow (der auch Bühnenbild und Kostüme gestaltete).

Der Idiot übernimmt das Leben

Das Ehepaar – Ich (Bo Skovhus) und die Frau (Susanne Elmark) – muss, so die Handlung, einen Idioten aus einer Anstalt bei sich aufnehmen, offenbar weil Ich sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Ich wählt jemanden aus, mit dem er glaubt, tiefsinnige Gespräche führen zu können, der bringt aber nur ein stumpfsinniges «Äch!» heraus. Anfangs scheint das noch ganz amüsant, bald aber wird der Idiot aggressiver. Er schwängert die Frau, die den Fötus abtreibt, dann vergewaltigt er Ich. Die beiden leben in einer Liebesbeziehung, bedrängt nun von der Frau, die der Idiot – oder doch Ich? – schliesslich tötet. Der Idiot verschwindet; Ich wird in die Anstalt interniert. Die Rollen haben sich vertauscht. Diese Anstalt ist fast ständig auf der blossen, weissen, kahlen, kalten Bühne präsent, mithin auch der grossartige Opernhauschor.

Idiot/Double: Campbell Caspary; Ich: Bo Skovhus; Frau: Susanne Elmark; Chor der Oper Zürich. Foto: Monika Ritterhaus

Von der historischen zur existenziellen Deutung

In der zugrunde liegenden gleichnamigen Erzählung von Viktor Jerofejew von 1980 (er verfasste auch das Libretto) trug dieser Idiot noch historische Züge, nämlich jene Lenins, ebenso bei der Amsterdamer Uraufführung von 1992 in der Regie von Boris Pokrowski. Das war kurz nach Glasnost und Perestroika durchaus aktuell und sinnvoll. In späteren Inszenierungen erhielt der Idiot aber ein anderes Gesicht. Lenin sei in die Ferne gerückt, überschattet von einem neuen, selbstgewählten Diktator – und den wollte Serebrennikow nicht auf die Bühne bringen. Der russische Traum – war er je einer? – ist ausgeträumt. Auch andernorts wird ausgeträumt. So erfährt die einst politisch groteske Satire nun in Zürich eine breitere, eine existenziellere Deutung.

Aggressive Instinkte knapp unter der Oberfläche

Die Story zieht über fast zwei Stunden ohne Pause an einem vorbei: in einem stetigen, rastlosen, fast gleichgültigen Tempo. Ein Ereignis reiht sich ans andere, nichts wird opernmässig ausgebadet; die Emotionen scheinen erstickt. Die Handlung erscheint blank und unaufhaltsam. Fassungslos schaut man zu – soll man sich noch unterhalten, über die Absurdität lachen oder doch schon entsetzen? Nackt, ja fast schon entblösst scheint alles. Nackt und stumm bewegt sich auch der Tänzerdarsteller Campbell Caspary als Idiot durch den Raum. Seine Rolle ist aufgespalten. Den Vokalpart übernimmt Matthew Newlin, die einzige schwarz gekleidete Gestalt auf der Bühne, er trägt die Züge des Regisseurs und scheint die Handlung zeitweise auch zu lenken.

Das überzeugte zutiefst – und weckte in mir mit seiner Unerträglichkeit auch die Erinnerung an jene peinlich-beängstigende Szene aus The Square. Es überzeugt – und ist zum Verzweifeln, denn die Situation ist aussichtslos. Dabei ist sie selbst verschuldet: «Jeder wählt freiwillig seinen eigenen Idioten, auch hier und überall. Wir haben alle unsere aggressiven Instinkte, und die liegen recht dicht an der Oberfläche», sagte Jerofejew einst in einem Interview. Und das ist das Grausam-Aktuelle an diesem Stück und dieser Inszenierung, die im Übrigen gar nicht mit so vielen Schockszenen aufwartet, wie andernorts kolportiert wurde.

Die Begleitung verstummt, die Dinge liegen bloss

Jerofejew und Schnittke erzählten diese Story mit einer nüchternen Fantastik, die an die russische Tradition eines Nikolai Gogol anknüpft – und damit indirekt auch an die Vertonung von dessen Nase durch Schostakowitsch. Sie gestalten die Handlung mit zahlreichen Rückblenden, referieren das Ganze eigentlich zweimal und machen es durch diese Spiralbewegung zu einer umso schmerzlicheren Erfahrung. Schnittkes Musik, sehr beweglich gespielt von der Philharmonia Zürich unter Jonathan Stockhammer, gibt sich eingangs noch bunt polystilistisch – dafür war sie berühmt. Zahlreiche Zitate und Scheinzitate fliessen ein, erinnern etwa an Mussorgskis Boris Godunow und den dort auftretenden Schwachsinnigen oder auch an die Internationale. Mit der Zeit reduziert sich aber diese musikalische Vielfalt, die Begleitung verstummt zeitweise, der Text (deutsch gesungen – eine sinnvolle Entscheidung) wird verständlicher und eindringlicher. Die Dinge liegen bloss. Ist das nicht aktueller denn je?

Opernhaus Zürich: Aufführungen noch bis zum 1. Dezember 2024.

Ich: Bo Skovhus; Frau: Susanne Elmark; Idiot: Matthew Newlin; Idiot/Double: Campbell Caspary; Chor der Oper Zürich. Foto: Monika Ritterhaus/Opernhaus Zürich

Schwimmkurs für lebenslanges gesundes Musizieren

Am «Nationalen Gesundheitstag Musik» von Swissmedmusica trafen sich am 9. November Fachleute aus Medizin und Musik im Luzerner Neubad. Ein Rapport, zum Teil in Stichworten, mit Links.

Wolfgang Böhler, Präsident von Swissmedmusica, begrüsst die Anwesenden. Foto: SMZ

Das Mallets-Ensemble der Musikschule Oberer Sempachersee (Leitung Martina Balz) führte stimmig in die Tagung ein: Kinder und Jugendliche brachten drei Musikstücke weitgehend selbstorganisiert und höchst überzeugend zu Gehör – erfülltes Tun, sei es beruflich oder in der Freizeit, so wie es sich alle Musizierenden bis ans Lebensende wünschen. An der Tagung ging es denn im weitesten Sinn um gesunde Leistungssteigerung und glücklich machendes Musizieren dank Prävention. Auch der Ort der Zusammenkunft passte: Das Publikum, darunter Opinionleader aus dem Musikbereich und Pia Bucher, die Gründerin von Swissmedmusica (SMM), sass auf blaugepolsterten Rängen im schon längst trockengelegten Pool des Luzerner Neubads. Im Hintergrund der Akteurinnen und Akteure prangten Überbleibsel aus dem aktiven Schwimmbadbetrieb, die man durchaus symbolisch verstehen konnte: der Sprungturm als Bild für die Selbstverantwortung, das bereits bestehende Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen, und der Rettungsring für eine kluge Gesundheitsplanung, die zu lebenslanger Freude am Musizieren verhelfen kann.

Moderatorin Isabelle Freymond und das Mallets-Ensemble der Musikschule Oberer Sempachersee. Foto: SMZ

Die laut den Organisatoren «überraschend zahlreich» erschienenen «Badegäste» konnten sich an der Tischmesse informieren. Neben vielen Flyern zu diversen Angeboten lagen frühere Tagungsberichte der SMM auf, die mit ihrem 20. Symposium dieses Jahr ein Jubiläum feierte. Isabelle Freymond, Schauspielerin, Regisseurin und Stimmkünstlerin, moderierte den von SMM-Präsident Wolfgang Böhler und seinem Team organisierten «Nationalen Gesundheitstag Musik». Professionell und charmant sorgte sie für fliessende Übergänge und rief die Gäste jeweils aus den Pausen zurück zum «Schwimmunterricht».

Lektion 1 mit Christoph Reich:
Ein gezieltes Selbstmanagement als Schlüsselfaktor für Prävention und Therapie

Der Spezialist für Sportmedizin, manuelle Medizin und Rheumatologie schloss sein Referat mit folgendem Fazit:

  • Eine Überlastungsproblematik ist zuallererst die Folge einer zu schnellen und/oder zu punktuellen Belastungssteigerung.
  • Mechanische und statische Faktoren beeinflussen die Toleranzreserve. Sie müssen eruiert und angepasst werden.
  • Ein strukturierter Belastungsaufbau ohne verzögerte Irritation am anderen Tag ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Behandlung – d. h. nach «Bankkonto-Modell».

Christoph Reich betreibt einen Praxis-Blog mit vielen Informationen zu diversen Schmerzproblemen: https://www.christophreich.ch

Lektion 2 mit Cinzia Cruder (auf Englisch):
In Tune, not in Pain! – Profiling, preventing, and managing playing-related musculoskeletal disorders among musicians

Die Musikerin und Gesundheitsforscherin stellte das erfolgreich eingeführte «Health Module» an der Scuola universitaria di Musica des Conservatorio della Svizzera italiana vor. Sie gab Einblicke in ihre Arbeit im Bereich Playing-Related Musculoskeletal Disorders (PRMDs) und in das Forschungsprojekt Rismus – Risk of music students.

Weitere Projekte:

  • MUST: Muscle Stiffness among musicians with and without playing-related musculoskeletal disorders (zusammen mit dem Departement «Gesundheit» an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften und dem Orchestra della Svizzera italiana)
  • Langzeitstudie mit allen Musikhochschulen der Schweiz zur Entwicklung chronischer, durch Musizieren verursachter Schmerzen (A longitudinal investigation of risk factors for PRMD chronicity)

Lektion 3 mit Dawn Rose (auf Englisch):
Empowering Musicians – ein Programm zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden im Musikstudium

Dawn Rose, Professorin an der Hochschule Luzern – Musik, gab einen Überblick über die seit fünf Jahren laufende Forschung zum Thema «Musician’s Health and Wellbeing» resp. «Empowering Musicians».

Fünf Schlussfolgerungen aus dem Referat:

  • Die Studierenden haben zusammen mit ihrer Institution eine gemeinsame Verantwortung für ihr Wohlergehen.
  • Wichtig ist ein ganzheitlicher Ansatz unter Berücksichtigung von Umwelt- und sozialen Aspekten.
  • Der Begriff «Erfolg» muss neu definiert werden: Musikerinnen und Musiker sind als «Multiprofessionelle» vorzubereiten und als «Akteure des Wandels» anzuerkennen.
  • «Glaubenssysteme» sind in Frage zu stellen, insbesondere Vorstellungen über «Spielen durch Schmerz», Talent und Inanspruchnahme von Hilfe.
  • Es braucht einen kulturellen Wandel, um die Studierenden zu fördern, und einen ganzheitlichen Ansatz, um eine Kultur der Fürsorge für zukünftige Musikerinnen und Musiker zu entwickeln.

Lektion 4 mit Gerhard Wolters:
Gesundheitsbewusstsein im Musikunterricht

Der Musiker und Musikschulleiter präsentierte seine selbst entwickelte MDU-Methode als Modell für gesundes, entspanntes, schülerorientiertes Musiklernen.

12 Dimensionen siehe https://www.mdu.ch/beratung-coaching/gesunder-unterricht (Kachel MDU&Gesundheit)

Lektion 5:
Workshops mit Pascal Widmer (Feldenkrais) oder Marjan Steenbeek und Véronique Putzi (Physiotherapie und Ergotherapie)

 

Rettungsring und Sprungturm: Die Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen. Pascal Widmer, Marjan Steenbeek und Véronique Putzi stellen ihre Workshops vor. Foto: SMZ


Lektion 6
Kammermusik aus dem Amazonas mit Jessica Sicsu, Flöte, Michell Pereira, Percussion, und André von Steiger Paiva de Figueiredo, Gitarre

Das Ensemble war im Herbst in der Schweiz auf Tournee.

Lektion 7 mit :
Prevention and Musical Excellence – Impulse aus der Neurowissenschaft

Der Sänger, Trompeter sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gab einen Überblick über wichtige Beiträge verschiedener Experten zur Hirnforschung und formulierte folgendes «Zwischenfazit zu gutem Musikunterricht»:

Guter Unterricht

  • … befähigt nicht automatisch zur musikalischen Exzellenz.
  • … erfordert Lehrpersonen mit Kompetenz, Glaubwürdigkeit, Einfühlungsvermögen und Zugewandtheit.
  • … ist das Resultat einer gelingenden Beziehung zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern.
  • … spricht den Lernenden die Expertise für das Lernen zu. Das stärkt Intrinsität.
  • … berücksichtigt die individuelle Motivationslage zum individuellen Zeitpunkt.
  • … integriert die Grundbedürfnisse von Autonomie und Zugehörigkeit.
  • Lernen braucht Zeit und Wiederholung.
  • Wenn musikalische Exzellenz das Ziel ist, ist es anstrengend.

Lektion 8:
Podiumsgespräch mit Wolfgang Böhler, Nicole Freymond, Philippe Krüttli, Christian Braun, Peer Abilgaard, Gerhard Wolters
Musikpädagogik im Wandel – eine grosse Herausforderung für das Gesundheitsmanagement

Zum Schluss blieb nicht mehr viel Zeit. Die Frage, wie die Gesundheit von Musikschülerinnen und -schülern in Zeiten des Online-Unterrichts und des selbständigen Lernens zu fördern ist, konnte nicht vertieft diskutiert werden. Sie steht jedoch im Raum und sollte zu weiteren Diskussionen führen, die allen Akteurinnen und Akteuren offenstehen.

_____________________________________________

Mitglieder von Swissmedmusica finden Unterlagen zum Gesundheitstag im geschützten Bereich auf https://swissmedmusica.ch. Neue Mitglieder sind herzlich willkommen. Kontakt: sekretariat@swissmedmusica.ch

Donaueschingen 2024: Tiefe Klänge, Plastikklänge

Reiche Ernte heuer bei den Donaueschinger Musiktagen vom 17. bis 20. Oktober. Eine Vielfalt von Ansätzen, kaum ein Trend. Aber das ist in Ordnung so.

Donaueschinger Musiktage 2024
«Shared Sounds», künstlerische Leitung: Séverine Ballon. Foto: SWR/Ralf Brunner

Mit sanfter Geste lädt die Dirigentin zum Spielen ein, sanft winkt sie ab. Es ist eine liebevolle Atmosphäre, die da entsteht, rituell, voller Erinnerung wohl auch, wobei kaum erkennbar bleibt, woran. Zu hören sind Schläge auf Schiefer, einzelne gestrichene Fäden, alles leise. Plötzlich singen auch einige schlichte Lieblingslieder, es sind Geflüchtete, die in Donaueschingen gelandet sind und nun hier mitwirken in Shared Sounds der Französin Séverine Ballon. Teilhabe, wie der Titel andeutet. Und da ist es schon wieder, das Dilemma sozial engagierter Musik. Der geschaffene Klangraum ist so signifikant dann doch nicht, als dass er etwas aussagen könnte, mehr als ein Mitmachen. Was nehmen die Teilnehmenden mit? Integriert sie das? Können sie sich ausdrücken? Oder ist es mehr das Zusammen? Viele Fragen, die das Anliegen nicht desavouieren, und dann engagierter Applaus.

Horchen in die Dunkelheit

Nicht zum ersten Mal fand eine solche Veranstaltung, bei der Aussenstehende, Nicht-Profis, Laien mitwirken, am Freitagnachmittag statt, just bevor das Festival zum Laufen kommt. So, dass man’s allzu schnell bei den vielen Eindrücken vergisst. Wie nahmen wir es mit in die folgenden Tage? Etwas davon war noch spürbar im Orchesterwerk Alter der Französin Pascale Criton. Die Sopransolistin Juliet Fraser fragte dort nach ihrer Situation in der Welt, nach der Welt selber, zu fragil schwebenden Klängen. Das Stück fragte, ohne Antwort geben zu wollen. Immer wieder schwang derlei mit: ein Horchen in die Dunkelheit der Erde bei Carola Bauckholts Kontrabassstück My Light Lives in the Dark, gespielt von Florentin Ginot im eindämmernden Schlosspark.

Donaueschinger Musiktage 2024
Kontrabassist Florentin Ginot im Schlosspark. Foto: SWR/Ralf Brunner

Am weitesten drang, nun freilich schon jenseits konkreter Fragen, in einem geistlichen Bereich der Trauer, das Klavierstück … selig ist … von Mark Andre in die Instabilität des Daseins vor. Mithilfe der Elektronik des SWR-Experimentalstudios lotete Pierre-Laurent Aimard die Tiefen des Instruments aus. Es war ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals.

Donaueschinger Musiktage 2024
«… selig ist …» von Marc Andre mit Pierre-Laurent Aimard (Klavier) und dem SWR Experimentalstudio. Foto: SWR/Astrid Karger

Die ästhetische Bohrmaschine

Solcher Intensität begegnete man sonst selten, ansatzweise im archaischen Orchesterwerk Unforeseen dusk: bones into wings von Chaya Czernowin oder etwas plakativer in Franck Bedrossians Rimbaud-Vertonung Feu sur moi – ungewohnt für diesen Komponisten, der hier nicht ganz die beklemmende Dringlichkeit anderer Stücke erreichte. Und wenn sich eine Gemeinsamkeit feststellen lässt, so dass fast überall die Technik, Live-Elektronik, Zuspiel, Lautsprecher, eine zentrale Rolle spielte. Der «natürlich» belassende Klang war die Ausnahme. Was Auswirkungen auf die Ästhetik hat. Bei der in Paris lebenden Italienerin Claudia Jane Scroccaro erlebte man schlicht eine weit gespannte und einnehmende Raumkomposition (On the Edge für Vokalsolistinnen, Chor und Elektronik). In vier neuen Orchesterwerken jedoch erreichte die elektronische Beimischung einen völlig neuen Sound.

Donaueschinger Musiktage 2024
Roscoe Mitchell in George Lewis‘ «The Reincarnation of Blind Tom». Foto: SWR/Astrid Karger

George Lewis stellte in The Reincarnation of Blind Tom einen live-spielenden Solisten (den Saxofonisten Roscoe Mitchell) neben das Orchester und ein KI-gesteuertes Klavier – eine frappierende Mischung, interessant im Einzelnen, aber kaum im Zusammenspiel. Als Simon Steen-Andersen jedoch in grosso das verstärkte Keyboard-Perkussions-Quartett Yarn/Wire mit dem SWR-Symphonieorchester verband, hörte man kaum einen «natürlichen» Klang mehr, sondern etwas industriell Plastifiziertes. Einzelne Klänge, Bohrmaschinen etwa, wurden dabei integriert. Wie bei diesem Komponisten überhaupt – fast exemplarisch – auffiel, dass er das Konzepthafte, das vor ein paar Jahren noch so en vogue war, zugunsten der Klanglichkeit zurückdrängte. Man hörte also der Bohrmaschine zu und dachte kaum mehr darüber nach, was sie nun hier zu suchen habe. Eine ähnliche Ästhetisierung fand auch beim Chilenen Francisco Alvarado statt. In REW • PLAY • FFWD knüpft er bei der guten alten Musikkassette und ihren Spulgeräuschen an – auf witzige Weise.

Poppig-Vergnügliches technisch verzwickt

Und schliesslich war da noch das hyperrasante Ding, Dong, Darling, in dem Sara Glojnarić ihre Queerness thematisiert – was aber sofort in den Hintergrund trat bei diesen hochvirtuosen, aberwitzigen Abläufen. Das war, wie übrigens schon die zuvor erwähnten Stücke, äusserst unterhaltsam, poppig in der Wirkung, kaum real, eben wie plastifiziert, aber durchaus plastisch, erfreulich frech und innerhalb dieses Rahmens vielleicht ein wenig anzüglich. Jedenfalls erhielt Glojnarić dafür den Preis des SWR-Symphonieorchesters zugesprochen. (Video Schlusskonzert)

Donaueschinger Musiktage 2024
Sara Glojnarić erhält den diesjährigen Orchesterpreis des SWR Symphonieorchesters aus den Händen von Solohornist Peter Bromig. Foto: SWR/Ralf Brunner

So viel Vergnügen gab’s schon lange nicht mehr in Donaueschingen, und man fragt sich unweigerlich nach der Zukunft dieser Musik: Ob man sie nämlich nicht erfolgreich in den Konzertsaal transferieren könnte. Dort wartet vielleicht ein jüngeres Publikum auf solche Klanglichkeit. Da zeigt sich denn das andere Dilemma. Die technischen Anforderungen an die Elektronik scheinen mir so hoch, dass sie nur selten zu erfüllen sind. Die Studio-Apparaturen sind wohl einfach noch zu aufwendig … Wir werden sehen.

Unpoppiges Drumset

Als PS nun noch das Ganze umgekehrt: Von einem Element der Popmusik ausgehend, dem so standardisierten Drumset, hat Enno Poppe eine ganz andere, unpoppige, aber sehr vielgestaltige Musik entworfen. Streik (warum dieser Titel?) verlangt zehn Drumsets und entsprechend zehn hervorragende Schlagzeuger (hier das Percussion Orchestra Cologne). Wer nun dachte, dass es gleich losginge, musste lange zuwarten. Laut wurde es kaum je, groovig nur in Ansätzen, eher hörte man auf Nuancen. War der zweite Schlag aller zehn nicht ein wenig unpräzis, fragte man sich etwa gleich zu Beginn, worauf der weitere Verlauf die Antwort lieferte: natürlich nicht, sondern präzise daneben. Auf solchen Details baute Poppe immer wieder weite Entwicklungen auf, manchmal fast ein bisschen didaktisch, weil erhellend, aber doch über fast eine Stunde mit einem ungemeinen Erfindungsreichtum.

Enno Poppes vielgestaltige Musik «Streik» mit 10 Drumsets. Foto: SWR/Astrid Karger

 

Aus dem Archiv

Einige frühere Berichte über die Donaueschinger Musiktage

Thomas Meyer: Verlorenheiten und Ausbrüche – Donaueschinger Musiktage 2023

Max Nyffeler: Der Zwang, sich ständig neu zu erfinden. Hundert Jahre Donaueschinger Musiktage (November 2021)

Thomas Meyer: Glücksgefühl und Melancholie – Donaueschinger Musiktage 2019

Torsten Möller: Komplexitäten, digital und primitiv – Donaueschinger Musiktage 2018

Torsten Möller: Kontext statt Text – Donaueschinger Musiktage 2017

Torsten Möller: Plurale Positionen – Donaueschinger Musiktage 2016

 

 

Neue Biografie und Veranstaltungen zu Klaus Hubers Hundertstem

Klaus Huber wäre am 30. November 100 Jahre alt geworden. Rund um dieses Datum finden im In- und Ausland Jubiläumskonzerte statt. Corinne Holtz hat eine neue Biografie vorgelegt.

Klaus Huber. Foto: Harald Rehling

Der in Bern geborene Klaus Huber (1924–2017) gehört zu den herausragenden Komponisten der zweiten Hälfte des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts. Rund um seinen Geburtstag am 30. November werden zahlreiche Veranstaltungen im In- und Ausland organsiert. Eine ausführliche Agenda ist auf der Website klaushuber.ch zu finden. An dieser Stelle sei auf einige Ereignisse in der Schweiz hingewiesen.

Ausstellung

In der Bibliothek der Musik-Akademie erinnert die Ausstellung An der Klangschwelle – der Komponist Klaus Huber (1924–2017). Ausstellung zum 100. Geburtstag an Klaus Huber als Kompositionslehrer (1963 bis 1972) und Gastprofessor an der Hochschule für Musik Basel. Weitere Informationen: musik-akademie.ch/bibliothek
24. Oktober bis 14. Dezember 2024, Ort: Vera Oeri-Bibliothek, Leonhardsstr. 6, 4051 Basel

Buch

Corinne Holtz wertet in Welt im Werk. Klaus Huber. Eine Biografie  bisher Unbekanntes aus Archiven aus und stellt den Komponisten und seine Weggefährten und -gefährtinnen «im Licht des 20. Jahrhunderts dar» (Schwabe Verlag). Eine Rezension des Bandes folgt später in der Schweizer Musikzeitung.

Flyer

Wichtige Daten zu Leben und Werk Klaus Hubers sind auf dem Flyer des Ricordi-Verlags zusammengefasst.

Konzerte

 27. Oktober 2024

Konzertlesung Aus dem Innern anlässlich des 100. Geburtsjahres von Klaus Huber. Mit Werken von Klaus Huber und seinem Schüler Cergio Prudencio. Klaus Huber prägte als Dozent und Komponist die Anfänge des Festivals Neue Musik Rümlingen mit und war Mentor zahlreicher Komponistinnen und Komponisten einer neuen Generation.
Lesung von Maria Magdalena Moser: «Unsere Kraft trägt uns voran, Frauen in Bolivien erzählen»
27. Oktober 2024, 17 Uhr, Kirche Rümlingen

15. November 2024

Hommage-Konzert: Kammermusik von Klaus Huber und seinen ehemaligen Schülerinnen und Schülern
15. November 2024, 19.30 Uhr, Neuer Saal, Hochschule für Musik Basel FHNW

29. und 30. November 2024

Heinz Holliger und Raphael Immoos dirigieren die Basler Madrigalisten und das Collegium Novum Zürich in Klaus Hubers Cantiones de Circulo gyrante aus dem Jahr 1985. In diesem selten aufgeführten Werk für Soli, Chor und Instrumentalisten entwerfe Huber auf der Grundlage ausgewählter Texte von Hildegard von Bingen und Heinrich Böll ein wild flammendes Statement gegen Zerstörung und Vernichtung, teilen die Basler Madrigalisten mit. Diese farbenfrohe und vielschichtige Raumkomposition, in der die verschiedenen Vokal- und Instrumentengruppen im gesamten Raum positioniert sind, scheine das Publikum wie ein Mantel zu umhüllen. Die Cantiones werden ergänzt mit Werken von Kaija Saariaho und Younghi Pagh-Paan, die beide bei Huber studiert haben.
29. November 2024, 19.30 Uhr, Don Bosco, Basel
30. November 2024, 19.30 Uhr, Grossmünster, Zürich
Konzerteinführung jeweils 18.45 Uhr: Andri Hardmeier im Gespräch mit Silke Leopold und Joachim Steinheuer

12. Dezember 2024

Finissage-Konzert mit Musik von Klaus Huber und Wolfgang Rihm, aufgeführt von Studierenden der Hochschule für Musik Basel
12. Dezember 2024, 18.00 Uhr, Vera Oeri-Bibliothek

Tod der Sopranistin Ursula Zehnder

Wie ihre Familie mitteilt, ist die Schweizer Sopranistin Ursula Zehnder am 11. Oktober 2024 in ihrem 92. Lebensjahr in Bern gestorben.

Ursula Zehnder hat ihre Karriere mit etwa 65 Jahren beendet und war dann als Pädagogin noch relativ lange aktiv. Foto: Familienarchiv Zehnder

Sie war Schülerin von Jakob Stämpfli, Elisabeth Grümmer und Elsa Cavelti. Zwischen ihrem Konzertdiplom 1966 und 1995 gehörte sie zu den führenden Schweizer Sängerinnen ihrer Generation. Als Solistin trat sie mit allen grossen Schweizer Orchestern, den Bamberger Symphonikern oder dem Gewandhausorchester Leipzig sowie mit zahlreichen Chören im In- und Ausland auf. Sie arbeitete mit Dirigenten wie Horst Stein, Charles Dutoit, Armin Jordan oder Peter Maag zusammen.

Ihr Repertoire reichte von Purcell bis in unsere Zeit, mit Schwerpunkten bei den grossen Oratorienpartien von Beethoven, Mendelssohn, Dvořák, Brahms oder Verdi. Als Liedsängerin widmete sie sich vor allem dem spätromantischen und modernen Liedschaffen und hatte zahlreiche Werke von Schweizer Komponistinnen und Komponisten uraufgeführt und aufgenommen.

Im Bereich der Oper trat Ursula Zehnder aus familiären Gründen nur konzertant auf. Sie war Mutter von fünf Kindern und lebte in Riggisberg und Bern.

Weblink: https://www.bmlo.uni-muenchen.de/z0357

Aktuelle Förderung bei der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung

Die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung hat die Förderpreise Ensemble ’25 vergeben und schreibt neu eine Sonderförderung für Kinder- und Jugendprojekte aus.

Das Ensemble Tacet(i) setzt sich aus 14 thailändischen Musikerinnen und Musiker zusammen. Foto: zVg

Die Förderpreise Ensemble ’25 gehen an das Kollektiv lovemusic («a new perspective on new music») aus Strasbourg und das thailändische Ensemble Tacet(i) rund um den Komponisten Piyawat Louilarpprasert. Die beiden Preise sind mit je 75 000 Euro dotiert. Die Stiftung vergibt die Auszeichnung 2025 bereits zum fünften Mal. Damit werden herausragende junge Ensembles in ihrer künstlerischen und strukturellen Weiterentwicklung gefördert. Die Ensembles werden sich im Herbst 2025 am Beethovenfest in Bonn präsentieren.

Die Bewerbungsfrist für die Förderpreise Ensemble ’26 läuft am 15. März 2025 ab.

Nachwuchsförderung

Neu engagiert sich die Ernst-von-Siemens-Musikstiftung in der musikalischen Nachwuchsförderung. «Die Kinder- und Jugendförderung soll möglichst in die Breite hinein und nicht nur bereits musikalisch vorgeprägte Teilnehmer erreichen», schreibt sie auf ihrer Website.  Sie unterstützt vier Vermittlungsprojekte der Konzertsaison 2025/26 mit je 25 000 Euro. Die Eingabefrist läuft vom 10. Dezember 2024 bis am 31. Januar 2025. Weitere Informationen zur Jury und zu den Förderbedingungen sind online publiziert (Link)

Zudem fördert die Stiftung weiterhin Projekte. Die Bewerbungsfrist hierfür läuft vom 1. Januar bis am 1. März 2025.

Weitere Informationen, auch zu geplanten Webinaren zur Antragstellung: https://www.evs-musikstiftung.ch/de/evs-foerderung.html

lovemusic ist ein Kollektiv von Musikschaffenden, das auf neuartige, vielfältige Programme setzt. Foto: zVg

Paul-Sacher-Stiftung mit neuem Stipendienformat

Neu vergibt die Paul-Sacher-Stiftung Stipendien für Forschung über vorgegebene Themenbereiche.

Eingang zur Paul-Sacher-Stiftung. Foto (Ausschnitt): Paebi/wikicommons

Wie die Paul-Sacher-Stiftung mitteilt, vergibt sie seit ihrer Eröffnung 1986 Stipendien zur Unterstützung von Forschungsaufenthalten in Basel. Ergänzend zu den bisherigen Stipendien zu eingereichten Themen stellt sie auch Stipendien für Forschung über vorgegebene Themenbereiche bereit.

Das Stiftungs-Team entwickelt diese Themen aus den Sammlungsbeständen. Sie widmen sich verschiedenen Teilbereichen, die aus Sicht der Sammlungsverantwortlichen vertiefte Forschung verdienen. So werden grundlegende erste Auswertungen bisher nicht oder nur wenig erschlossener Bestände möglich.

Die formulierten Themen geben dabei einen ersten Rahmen, der im Austausch mit Interessierten spezifiziert werden kann.

Die Ausschreibung der Stipendien mit detaillierten Informationen zu den vorgeschlagenen Themen und zu den formalen Richtlinien dieser Stipendien finden sich auf der Stiftungswebseite zu finden:

www.paul-sacher-stiftung.ch/forschung/stipendien.html

Nachdenken über Musikkritik

Musikkritik und Musikwissenschaft: Wo berühren sie sich? An der ZHdK diskutierte am 23. und 24. September 2024 eine namhafte Expertenrunde. Aufhänger war das Langzeitprojekt zum Nachlass des Musikkritikers Fritz Muggler.

Musikkritik hilft, Musik zu «verdauen». Symbolbild: vittore/depositphotos.com

Kurz gesagt sollte die Musikkritik-Tagung einen Kontext rund um die wissenschaftliche Aufarbeitung des Archivs von Fritz Muggler (1930–2023) schaffen. Das umfangreiche Material aus seiner langjährigen Tätigkeit wird seit 2016 an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) konservatorisch gesichert und inventarisiert. Ein erstes Projekt trägt den Titel «Im Ausland gehört»: Schweizer Komponisten und Interpreten an internationalen Festivals Neuer Musik – Perspektiven des Zürcher Kritikers Fritz Muggler. Ivan Denes, Iris Eggenschwiler und Projektleiter Lukas Näf erläuterten den Stand der Arbeiten und veranschaulichten Mugglers Arbeitsweise anhand von Kritiken über Werke Maurizio Kagels und Klaus Hubers.

Es ging also um eine musikhistorische Einordnung musikjournalistischer Beiträge. Die Gastreferate und anschliessenden Diskussionen machten deutlich, wie schwierig es ist, schlüssige Kategorien dafür zu formulieren. Oder, anders gesagt, wie die Schnittstelle Wissenschaft – Journalismus klar zu definieren wäre. Denn ein Musikkritiker ist auch ein Musikhistoriker und umgekehrt ist die Musikhistorikerin auch eine Musikkritikerin.

Der Titel der Tagung lautete Musikkritik im Kontext der Gegenwartsmusik seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Perspektiven der Referate waren etwas «donaueschingenlastig» und konzentrierten sich mehrheitlich auf musikphilosophische Positionen von vor der Jahrtausendwende. Das ist verständlich. Denn laut Ausschreibung ging es darum, Erzählmuster oder festgefahrene Vorurteile zu erkennen, die die Bewertung und Einordnung von Musik in die Musikgeschichte beeinflussen. Die Ausführungen von Jörn Peter Hiekel (Tagungsleitung zusammen mit Lukas Näf und Dominik Sackmann), Wolfgang Schreiber, Tobias Schick, Torsten Möller, Leonie Reineke, Björn Gottstein, Martin Kaltenecker und Thomas Meyer zeugten von eingeweihter Kennerschaft. Beeindruckend, wie viele Details den Referierenden aus ihren Donaueschingen-Besuchen präsent waren oder durch die Vorträge wieder aufgefrischt wurden.

Für wen?

Interessanterweise spielte das Publikum resp. die Leserin oder der Leser der Kritiken im Rahmen der vielschichtigen Betrachtungen keine Rolle. Auch der Einfluss redaktioneller Arbeit wurde nur am Rand berührt. Musste man sich bis Anfang des 21. Jahrhunderts keine Gedanken darüber machen? Etwa weil die kulturelle Bedeutung von (westlicher) Hochkultur damals noch nicht angezweifelt wurde? Heute, 2024, sprechen die Medien mehr denn je die «Sprache des Entertainments» (Wolfgang Schreiber). Die Musikkritik wird aus dem Feuilleton der Tagespresse gedrängt und Fachzeitschriften nicht nur zur Gegenwartsmusik verschwinden.

Der Einbezug jüngerer Kritikerinnen wie Friederike Kenneweg, Hanna Schmidt oder viele andere hätte zwar den thematischen Rahmen der Tagung gesprengt, aber vielleicht frische Impulse gebracht. Denn die klassische musikalische Expertenkritik scheint ihre Bedeutung für den Musikmarkt verloren zu haben. Holger Noltze schreibt am 25. September in seinem Van-Beitrag zum Preis der deutschen Schallplattenkritik: «Aber eine unabhängige Arbeit von Kritik, die gar nicht triviale Suche nach der künstlerischen Qualität als irrelevant vom Tisch gefegt zu sehen, erhellte blitzartig die Erkenntnis: Dass sich das (seit je spezielle) Verhältnis von Markt und Kritik von Musik längst ganz entkoppelt hat; dass die alte Idee: eine gute Kritik, womöglich ein Preis hilft beim Verkauf, in der Wirklichkeit des modernen Major-Marketing kaum eine Rolle mehr spielt.» (https://van-magazin.de/mag/schallplattenkritik-marktlogik-musikkritik).

Angesichts dieses Bedeutungsverlusts stellen sich zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Musikjournalismus weitergehende (sprich: wichtigere oder jedenfalls andere) Fragen.

_____________________________________________________________

Das detaillierte Tagungsprogramm und einige Vorträge sind auf https://www.zhdk.ch/forschung/imr/imr-video-11699 veröffentlicht. Zudem ist eine Buchpublikation geplant.

Link zum Muggler-Projekt bei der ZHdK:
https://www.zhdk.ch/forschungsprojekt/im-ausland-gehoert-schweizer-komponisten-und-interpreten-an-internationalen-festivals-neuer-musik-569891

Austausch und Schweizer Musik im Bundeshaus

Die Parlamentarischen Gruppen «Musik» und «Rock/Pop im Bundeshaus» trafen sich mit Mitgliedern der Musikverbände. In der Galerie des Alpes des Berner Bundeshauses bekamen sie viel Schweizer Live-Musik zu hören.

Das Jugendjazzorchester.ch überzeugte – auch mit «schrägen» Tönen. Foto: Hans Zogg

Nacheinander traten am 11. September 2024 das JugendJazzOrchester.ch, Eliane, Noah Veraguth (Pegasus), Marc Sway sowie Baschi auf und begeisterten die über 120 Anwesenden mit ihren Kurzauftritten. Der Einladung des Schweizer Musikrates (SMR) und des Verbandes der Schweizer Veranstaltenden (Swiss Music Promoters Association SMPA), welche die Sekretariate der beiden Parlamentarischen Gruppen führen, folgten rund 50 Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Vertreterinnen des Bundesamts für Kultur sowie zahlreiche Vertreter von Musikverbänden und Musikschaffenden.

Grosse Herausforderungen

Authentisch und intim waren die exklusiven Live-Momente. Daneben wurden sich die Anwesenden aber auch der Wichtigkeit der Schweizer Musikbranche und ihres koordinierten Engagements für die Musik bewusst. In der zurzeit im Parlament behandelten Kulturbotschaft 2025 bis 2028 ist die Musik zwar berücksichtigt. Doch die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen bleiben gross, damit die Rahmenbedingungen für Musikschaffende und Veranstaltende so gehalten bzw. gestaltet werden, dass der Nachwuchsförderung und der enormen Vielfalt, welche die Schweizer Musiklandschaft zu bieten hat, weiterhin Rechnung getragen werden kann.

Aktuell stösst der Entscheid des Nationalrates vom 11. September auf absolutes Unverständnis. Entgegen dem bundesrätlichen Antrag will er im Budget von Pro Helvetia 6.5 Millionen Franken streichen. Es bleibt zu hoffen, dass der Ständerat Gegensteuer gibt, damit die Kulturschaffenden nicht empfindlich getroffen werden. Neben der Mittelverteilung ist zudem generell entscheidend, dass das von Idealismus und Herzblut sowie von privater Risikobereitschaft geprägte Engagement in der Musikbranche nicht durch noch mehr Hürden untergraben wird.

Über die SMPA

In der Swiss Music Promoters Association (SMPA) sind die wichtigsten Schweizer Konzert-, Show- und Festivalveranstaltenden vereint. 2023 organisierten die gegen 50 Mitglieder in allen Landesteilen weitestgehend auf eigenes Risiko über 2000 Grossveranstaltungen für rund 5 Mio. Besucherinnen und Besucher. Die Veranstaltungsbranche ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Schweiz und sichert Arbeits- und Ausbildungsplätze. Die SMPA-Mitglieder bieten an ihren Veranstaltungen jährlich rund 23 000 freiwillig Helfenden eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Dazu kommt das starke Kulturengagement: Der Anteil der Schweizer Künstlerinnen und Künstler, die für Veranstaltungen gebucht werden, nimmt stetig zu.

Über den Schweizer Musikrat

Der Schweizer Musikrat (SMR) ist der grösste und einflussreichste Interessenvertreter für den gesamten Musiksektor in der Schweiz. 55 Verbände aus dem gesamten Schweizer Musikwesen sind unter seinem Dach vereint. Er setzt sich für die Verbesserung der kultur- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen für das Schaffen, Vermitteln, Verbreiten und Bewahren der Musik in ihrer ganzen Vielfalt ein. In Zusammenarbeit mit der Parlamentarischen Gruppe Musik organisiert er pro Session einen informativen Anlass für seine Mitglieder zu politisch relevanten Themen im Musikbereich. Sowohl für die Akteure und Akteurinnen der Schweizer Musikbranche als auch für die Parlamentsmitglieder ist dieser Austausch sehr wichtig.

Parlamentarische Gruppen zum Thema Musik

Es gibt drei Interessengruppen im Parlament, die sich der Musik annehmen (Quelle: Mitgliederverzeichnis Parlamentarische Gruppe, hg. Parlamentsdienste parlament.ch, Stand 2. September 2024):

Musik PGM: Präsident Stefan Müller-Altermatt, Sekretariat Schweizer Musikrat, 32 Mitglieder. Zweck: «Information und Diskussion über musikrelevante Themen mit Bezug zur Politik. Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern des Schweizer Musiksektors.
Zusammenarbeit mit den anderen kulturellen Parlamentsgruppen.»

Rock/Pop im Bundeshaus: Co-Präsidium Daniel Jositsch und Sandra Sollberger, Sekretariat Swiss Music Promoters Association SMPA,  38 Mitglieder. Zweck: «Vermittlung von Know-how in den Bereichen Live Entertainment, Musik, Kultur und Events zu Themen wie Quellensteuer, Prävention, Mehrwertsteuer, Urheberrecht/SUISA, Ticket-Zweitmarkt/Schwarzmarkt, Schall- und Laser (VNISSG), Sicherheit/Health & Safety, Ausbildung, Freiwilligenarbeit usw.»

Volkskultur & Volksmusik: Präsidentin Priska Wismer-Felder, Sekretariat IG Volkskultur,  61 Mitglieder. Zweck: «Schärfung des Bewusstseins für Volkskultur & Volksmusik»

 

Foto: Hans Zogg

 

Ausgabe 09_10/2024 – Focus «Mäzeninnen»

Tabea Zimmermann. Foto: Rui Camilo

Inhaltsverzeichnis

Focus

Mäzenin der zeitgenössischen Musik
Gespräch mit Tabea Zimmermann, Stiftungsratsvorsitzende der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung

Das Wirken einer musikliebenden Milliardärin
Aline Foriel-Destezet fördert die klassische Musik

Meine Mäzenin und ich
Einige Ratschläge von Elisa Bortoluzzi Dubach

Chatten über …
… die Finanzierung von  Musikprojekten
Hedy Graber und Timothy Löw

(kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

Echo

«Justice» – une oeuvre de mémoire
Entretien avec Hèctor Parra

Was «-ch.» oder «J. E.» von Othmar Schoeck hielten
Von 1907 bis 1944 berichtete die SMZ durchwegs Gutes

Der helvetische Flamenco
in der Schweiz entwickelte sich eine Flamencokultur von internationaler Bedeutung, die nun in Vergessenheit gerät.

Fit für die Zukunft?
Berliner Tagung zur Entwicklung von Musik(hoch)schulen und die deutsche Studie «Mulem-ex»

Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Haushaltsgeräteprinzessin
Rätsel von Pia Schwab

________________________________________

Ausgabe für CHF 10.- (+ CHF 2.- Versandkosten) bestellen

Manoush Ruken Toth in Murten ausgezeichnet

Die Pianistin Manoush Ruken Toth gewann am 27. August 2024 den Valiant-Forum-Solistenwettbewerb.

Manoush Ruken Toth mit Christoph-Mathias Mueller, dem künstlerischen Leiter von Murten Classics. Foto: zVg

Am Finale des Valiant-Forum-Solistenwettbewerbs im Rahmen des Festivals Murten Classics erspielte sich die Schweizer Pianistin Manoush Ruken Toth (geb. 2006) mit dem Mozart-Klavierkonzert Nr. 13 den ersten Preis. Der zweite ging an Simon Popp (geb. 1999, Schweiz) und der dritte an  Joanna Goranko (geb. 2001, Polen).

Am Wettbewerb zugelassen waren Studierende aus Schweizer Musikhochschulen. Das Kammerorchester Boho Strings begleitete unter der Leitung von Izabelė Jankauskaitė.

v.l. Manoush Ruken Toth, Simon Popp,, Joanna Goranko. Foto: Willi Piller

Die Gewinnerin des von der  Valiant Bank ermöglichten Wettbewerbs wird 2025 als Solistin bei Murten Classics auftreten. Zusammen mit ihren Geschwistern Anatol und Anouk ist Manoush Ruken Thot Ende August in Zürich, Bern und Rheinfelden zu hören.

 

Verlosung: Legendäre Soundtracks

Das 21st Century Orchestra spielt am 21. November um 19.30 Uhr im KKL «Epic – Legendäre Soundtracks». Es gibt 2 x 2 Tickets zu gewinnen.

Bild: Key Visual: Epic Keyart – Alegria Konzert GmbH

Machtvolle Bilder, monumentale Musik: Wer ins Kino geht, möchte Gänsehautmomente erleben. Die entscheidende Rolle spielt dabei immer die Musik: Ohne sie könnte selbst der genialste Regisseur keine Emotionen wecken. Noch überwältigendere Gefühle entstehen allerdings im Konzertsaal, wenn die Filmmusik live gespielt wird. Im Konzertsaal des Kultur- und Kongresszentrums Luzern spielt das 21st Century Orchestra unter der Leitung von Ludwig Wicki Musik aus Filmen wie Dune, Star Wars, Avengers, Interstellar, The Lord of the Rings oder Ben Hur.

 Die Schweizer Musikzeitung verlost 2 x 2 Eintrittskarten für die konzertante Aufführung ohne Filmausschnitte am 21. November 2024 um 19.30 Uhr im KKL Luzern.

Bitte melden Sie sich mit genauer Adressangabe bis spätestens am 10. Oktober per Mail (contact@musikzeitung.ch) oder Post: Schweizer Musikzeitung, Dammstrasse 2, 6440 Brunnen.

Website des 21st Century Orchestra

Musik im Schloss

Der Höhepunkt im Schweizer Schlösserjahr steht bevor: 27 Schlösser in dreizehn Kantonen und drei Sprachregionen laden am Sonntag, 6. Oktober zum 9. Schweizer Schlössertag ein. Unter dem Motto «Musik und Fest» können die Besuchenden vielfältige Konzerte und musikalische Attraktionen in den Schlössern erleben! Es gibt 2 x 2 Eintrittskarten zu gewinnen.

Konzert in der Schlosskirche Spiez. Foto: Die Schweizer Schlösser

Die Mitgliedschlösser des Verbands «Die Schweizer Schlösser» gehören zu den Toperlebnisorten der Schweiz. Die Schlösser sind nicht nur Museen, sondern auch Orte der Musik. Je nach Saison und Schloss gibt es Serenaden und Konzerte in den Parks, Schlosshöfen, Festsälen und Schlosskapellen.

Dieses Jahr steht der Schlössertag ganz im Zeichen der Musik. Jedes Schloss bietet ein eigenes Programm passend zum historischen und lokalen Ambiente. Mittelalterliche Minnegesänge, Lautenspiel und höfische Musik sind zu hören. Verschiedene spezielle Instrumente werden erklingen wie Maultrommeln, Dudelsäcke, ein Glasxylophon, Fanfaren, Hackbrett und ein Pianola. Barocke Musik, Jodelgesang und arabische Musik bringen die festlichen Schlösser zum Klingen. Wer lieber aktiv sein möchte, kann in mehreren Schlössern zu verschiedensten Musikstilen tanzen: Mittelalter, Barock, Charleston, Lateinamerika. In einem Schloss erhalten Sie selbst eine Bühne und Sie können mit Ihrem eigenen Instrument musizieren.

Zu Musik und Fest gehören auch Tafelfreuden, einige kulinarische Leckerbissen warten auf Sie. Für Kinder und Familien gibt es spezielle Aktivitäten. Alle Informationen zu den individuellen Programmen der 27 Schlösser finden Sie unter www.dieschweizerschloesser.ch

Verlosung: Musik im Schloss

Organisiert wird der nationale Schlössertag bereits zum neunten Mal vom Verband «Die Schweizer Schlösser», der 2024 sein zehnjähriges Bestehen feiert.

Für die Leserinnen und Leser der Schweizer Musikzeitung werden 2 x 2 Tickets zu einem Schlossbesuch am 6. Oktober nach freier Wahl verlost. Auf der Website dieschweizerschloesser.ch sind die Schlösser und ihre individuellen Programme aufgelistet. Bitte senden Sie bis spätestens am 22. September 2024 eine Mail an contact@musikzeitung.ch oder eine Postkarte an: Schweizer Musikzeitung, Dammstrasse 2, 6440 Brunnen mit dem Vermerk, welches Schloss Sie am 6. Oktober besuchen möchten. Wer die Eintrittskarten gewinnt, erhält am 27. September Bescheid.

Die teilnehmenden Schlösser

CHÂTEAU DE PRANGINS    CHÂTEAU DE MORGES     CHÂTEAU D’YVERDON   CHÂTEAU DE ROMONT   CHÂTEAU DE CHILLON   CHÂTEAU DE GRUYÈRES    SCHLOSS JEGENSTORF   SCHLOSS LANDSHUT   SCHLOSS WALDEGG   SCHLOSS BURGDORF   SCHLOSS THUN SCHLOSS HÜNEGG   SCHLOSS OBERHOFEN   SCHLOSS SPIEZ   STOCKALPERSCHLOSS BRIG-GLIS    SCHLOSS HABSBURG   SCHLOSS WILDEGG   SCHLOSS LENZBURG   SCHLOSS HALLWYL   SCHLOSS HEIDEGG BURG ZUG   SCHLOSS A PRO   SCHLOSS KYBURG   SCHLOSS FRAUENFELD   FORTEZZA DI BELLINZONA SCHLOSS SARGANS   SCHLOSS WERDENBERG

Bild: Die Schweizer Schlösser

Der helvetische Flamenco

Etwas Spanischeres lässt sich kaum denken. Aber ausgerechnet in der Schweiz entwickelte sich eine Flamencokultur von internationaler Bedeutung, die nun in Vergessenheit gerät.

Szene aus «Romance de Carmen y Don José ». Foto: Gyennes

Schon früh haben sich bekannte Komponisten aller Nationalitäten vom Exotismus eines imaginären Spaniens inspirieren lassen. Von Scarlatti über Liszt und Rimski-Korsakow bis zu Debussy oder Ravel ist ihre Musik von solchen Elementen geprägt worden.

Dieses Phänomen ist seit dem 19. Jahrhundert auch in der Schweiz zu beobachten: Joachim Raff, Hans Schäuble oder Armin Schibler schrieben mehrere Stücke nach spanischer Art. Damals begann die spanische Einwanderung in die Schweiz. Sie verstärkte sich während der Weltkriege und des spanischen Bürgerkriegs. Obwohl die offizielle Schweiz den Einsatz von Kriegsfreiwilligen an republikanischer Seite nicht billigte, wurden Visa für ausreisewillige Republikaner ausgestellt. Das Spanische Manifest, am 1. Mai 1937 von Hans Mühlestein am Basler Barfüsserplatz verlesen, spricht für die engen Bindungen zwischen der Bevölkerung beider Nationen. Die Sprache hinderte keineswegs den kulturellen Austausch: Der Schweizer Enrique (Heinrich) Beck gilt als erster Übersetzer von Federico García Lorca. 1944 bewilligte die Fremdenpolizei im Zürcher Schauspielhaus die Erstaufführung des Theaterstücks Bluthochzeit im deutschsprachigen Raum, kurz darauf jene von Bernada Albas Haus. Paul Burkhard komponierte die Musik dazu.

Misstrauen gegenüber dem «Spanischen»

Wo spanische Musikelemente auftreten, ist der spanische Tanz nicht weit. Die ersten repräsentativen Flamencofiguren kamen aber kurioserweise nicht aus Spanien: Tänzerinnen wie Petra Cámara, Lise Bonnet oder Fanny Elssler tourten schon seit 1850 mit ihren exotischen, teils erfundenen Flamencoschritten durch Europa. Selbst die erste Flamencolegende La Argentina lancierte ihre Karriere und lebte ausserhalb Spaniens.

In der Schweiz erlebte man ab dem ersten Weltkrieg eine richtige Einwanderungswelle grosser Künstler, die ihre Spuren hinterliessen. Musik und Tanz bekamen wichtige Impulse. Besonders stark war die Symbiose zwischen spanischen Tanzformen und hiesigen Ausdruckstänzen. Ein in dieser Hinsicht überaus interessantes kulturelles Ereignis war der Erste Schweizer Tänzerwettbewerb 1939 im Rahmen der Landesausstellung in Zürich. Er zog die bekanntesten Tänzerinnen und Tänzer der Schweiz an wie Suzanne Perrottet, Lilly Roggensinger oder Dora Garraux.

Das Medienecho liefert wertvolle Zeugnisse davon: Die NZZ schrieb, es sei verständlich, dass «(…) die weiblichen Konkurrentinnen sich dem spanischen Tanzstil zuwandten, der mit seiner Lockerung der Hüften, den kräftigen Klopfschritten und dem koketten Augenfeuer sinnliches Temperament vortäuscht», während die Zeitung Volksrecht despektierlich reagierte: «(…) ganz zu verwerfen ist die Heranziehung bedeutender Musik zu Stimmungsmache und rhythmischen Sklavendiensten, umgekehrt ist weder der Musik noch dem Tanze gedient, strenge musikalische Satzformen tänzerisch nachzuahmen. Unter den Sujets war das Spanische auffallend beliebt, das häufig in schönen Lösungen gezeigt [wurde].» Dass die Schweiz ein potenzielles Tanz- und Musikkulturerbe hätte unterstützen und entwickeln können, verstanden in dieser Zeit nur wenige Menschen.

Eine Schweizerin verbreitet den Flamenco weltweit

Neben bekannten Tänzerinnen trat dort eine junge Susanne Looser (später Susana Audéoud) auf. Ihr Interesse galt dem Flamenco. Später ging sie nach Spanien, wo sie mit José de Udaeta ihre erfolgreiche Kompanie gründete. Auf der Suche nach Musikern engagierten sie einen jungen Mann, Armin Janssen, der zu diesem Zeitpunkt sein Klavierstudium fortsetzte und fasziniert mitmachte. Bald tauchte er als Flamencokomponist Antonio Robledo auf.

Antonio Robledo in Platja de Aro. Foto: Hans-Dieter Hefele

Erst in Spanien, dann weltweit eroberten sie die Bühnen. In vielen Ländern wurde Flamenco so erstmals aufgeführt. Ihre Arbeit ist von grossem ethnomusikologischem Wert: Spanien bereisten sie mit dem Aufnahmegerät im Koffer. Sie entdeckten und unterstützten grosse Persönlichkeiten des Flamencos, die in der Geschichte des Gesanges eine wichtige Rolle spielten: Carmen Linares, La Talegona (die bis dahin als Putzfrau in grosser Not gelebt hatte), Sernita (die einzige existierende Aufnahme seiner Stimme verdanken wir ihnen) und neben vielen anderen auch Enrique Morente. Zu dritt begannen sie, ihr eigenes Konzept von einem in Flamencostil getanzten Ballett zu entwickeln.

La Celestina (1966) wurde erfolgreich aufgeführt und die Komposition auf Langspielplatte verkauft. Aus der Experimentierfreude entstand auch die 1985 in der Schweiz produzierte Choreografie und weitere Aufnahme: Obsesión. Die ungewöhnlichen Orgelklänge und Morentes machtvolle Stimme überzeugten die Fachspezialisten. Anders empfand das Publikum die sinfonische Zusammenarbeit der beiden: An der berühmten Bienal de Flamenco bezeichnete man sie als Kunstverbrecher. Zwanzig Jahre später feierte man sie hingegen als heilige Retter des puren Flamencos. Wichtige Flamencokünstler, die mit ihnen arbeiteten, reden noch heute liebevoll und mit grossem Respekt über Armiño und Susana.

Gewichtiges Erbe, grosse Namen, wenig Widerhall

Nicht nur in der Musik hinterliessen sie Spuren: Susanas innovatives Erbe brachte eine Erneuerung und Konsolidierung des Flamencoballetts, was selbst Legenden wie Antonio Gades beeinflusste und ihn veranlasste, das Konzept mit seiner Kompanie zu übernehmen. Pädagogisch wirkten Armin und Susana in Opernhäusern, Universitäten und Balletttruppen. Ihre Zusammenarbeit mit der Ballet of Toronto wurde von Cynthia Scott filmisch festgehalten und gewann 1983 sogar einen Oscar als beste kurze Dokumentation. Die Synthese mit der spanischen Kultur gelang ihnen dermassen gut, dass man sie in verschiedenen Medien irrtümlich als spanische Flamencokünstler feierte.

Momentaufnahme aus «Capricho de Goya Nr. 75». Foto: S. Elkenmann

In der Schweiz spielte Susana in der Tanzprofessionalisierung eine wichtige Rolle. Ihre Erbinnen wurden weltbekannt: Brigitta Luisa Merki leitete die Kompanie Flamencos en route vierzig Jahre, entwickelte Susanas Konzept weiter und feierte Erfolge im In- und Ausland. Nina Corti, La Carbona und Bruno Argenta avancierten zu bedeutenden Tanzkünstlern. Teresa Martin wurde eine international anerkannte Tänzerin und Choreografin. Robledo widmete ihr viele Kompositionen.

Teresas Vater, der Komponist Frank Martin, wurde auch von Susanas und Robledos Sturm mitgerissen: Seine Stücke zeigten von da an Tendenzen der Flamencomusik (u. a. Fantaisie sur des rhymes flamencos, 1973, oder Trois danses, 1970). Dazu entwarf Teresa Choreografien und tanzte sie auf der Bühne. Der Pianist Paul Badura-Skoda oder Ursula und Heinz Holliger spielten an den Uraufführungen. Andere Komponisten wie Joaquín Rodrigo oder Rolf Looser waren begeistert und komponierten auch für sie.

Dass dieses aussergewöhnliche Kapitel der schweizerischen Kulturgeschichte in Vergessenheit geriet, dürfte nicht nur den finanziellen Kürzungen im Tanz- und Musikbereich geschuldet sein: Die Vorstellung, dass ein bestimmter Stil nicht zur Identität des Ur-Schweizerischen passt – also uns «spanisch» vorkommt –, spielt sicher auch eine Rolle. Solche Vorurteile in der Rezeption kultureller Bewegungen der Schweiz tragen dazu bei, dass dieses einmalige Kulturerbe von den Bühnen und aus dem Bewusstsein schwindet.

*

Isora Castilla ist Pianistin und Musikwissenschaftlerin. Ihre mehrjährige Forschung an der Universität Bern wird demnächst in Spanien und der Schweiz als Buch publiziert.

Illustration von Irène Zurkinden
get_footer();