Abendmusik – Tafelmusik

Themenvormittag am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich.

Georg Philipp Telemann. Anonymer Stich. Bild: Wikicommons

Im Rahmen des 38. Festivals Alte Musik Zürich fand am 11. März am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich ein Themenvormittag statt (Organisation: Esma Cerkovnik und Hein Sauer). Drei Beiträge beleuchteten das Festivalthema Vesper I: Abendmusik – Tafelmusik aus musikwissenschaftlicher sowie germanistischer Perspektive, wobei sich die Vielfältigkeit des Phänomens «Musik am Abend» zeigte.

Im ersten Referat berichtete Hein Sauer über die Vespervertonung im 16. Jahrhundert, die im Verlaufe des Jahrhunderts allmählich in den Fokus der liturgischen Musikproduktion rückte. Hierbei zeigte der Referent den besonderen Stellenwert, den die Vertonung der Psalmen und vor allem des Magnificat im 16. Jahrhundert sowohl in Italien als auch den protestantischen Gebieten nördlich der Alpen einnahm.

Der Vortrag von Julia Amslinger (Göttingen) und Nathalie Emmenegger (Bern) näherte sich der Vertonung von Psalmen aus literarischer Perspektive. Diese wurden in der frühen Neuzeit neu übersetzt, formuliert und geordnet. Das prominenteste Zürcher Beispiel ist das Werk Johann Wilhelm Simlers (1605–1672). Dessen Teutsche Gedichte (1648) wurden auf der Basis des Genfer Psalters 4-stimmig vertont. Ihr Erfolg zeichnete sich nicht nur durch zahlreiche Auflagen ab, sondern auch durch ihre Verbreitung aus Zürich bis in die Bündner Berge.

Abschliessend berichtete Ute Poetzsch (Magdeburg) über die Musique de Table Georg Philipp Telemanns (1733). Sie zeigte die musikphilologischen und musikalischen Probleme, die sich mit diesem anspruchsvollen kammermusikalischen Werk verbinden. Poetzsch erweiterte dadurch die Betrachtung um Aspekte der Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert.

Diese Beiträge mit jeweils reger Diskussion bildeten einen hervorragenden Auftakt für die darauffolgenden Konzerte des Festivals.

Das NOB mit nächtlichen Bildern und Klängen

Die Nacht als Inspirationsquelle und als Raum zur Befreiung der Gedanken: Das Neue Orchester Basel schlägt eine Brücke zwischen Werken an der Schwelle zur Moderne und der bildnerischen Gestaltungskraft von Jugendlichen.

Die zusammengefügten Einzelbilder hängen fotografiert als riesiges Tuch über dem Orchester. Foto: Niklaus Rüegg

Das Neue Orchester Basel (NOB) steht seit 2012 unter der Leitung von Christian Knüsel. Er professionalisierte den Klangkörper und positionierte ihn neu mit spartenübergreifenden, thematischen und kommentierten Programmen. Die Nachwuchsförderung ist ein wichtiger Bestandteil seiner Orchesterarbeit. In regelmässigen Vermittlungsprogrammen werden Jugendliche mit eingebunden. In der NOB-Kompositionswerkstatt entstehen unter Anleitung Auftragswerke von jungen Komponierenden. Die NOB-Academy bietet mittel- und südamerikanischen Talenten Online-Masterkurse an ihrem Instrument an; in dieser Saison kam das Jove Orquestra Nacional de Catalunya (JONC) aus Barcelona als Kooperationspartner hinzu. Sechs Mitglieder dieses Orchesters wurden eingeladen, im Konzert vom 26. März im Stadtcasino mitzuspielen. «Wir möchten jugendliche Kreativität in unseren Konzerten sichtbar machen und die Freude für die Musik in die nächste Generation tragen», steht im Programmheft.

Ein Bild aus Nachtmusiken

Im vergangenen August bat Christian Knüsel den Künstler und Lehrer für Gestaltung am Zentrum für Brückenangebote Basel-Stadt (ZBA), Gert Handschin, zusammen mit seinen Lernenden einen bildnerischen Beitrag zum Programm «Die Gedanken sind frei – 1001 Nacht» zu leisten. Er sei sich zunächst nicht sicher gewesen, ob er diese Aufgabe umsetzen könne, verriet er in der Konzertpause, denn er habe zu diesem Zeitpunkt die Zusammensetzung seiner Klasse noch nicht gekannt. Jedes Jahr kommen neue, aus schwierigen Verhältnissen stammende oder in prekären Umständen lebende junge Leute ins ZBA – in diesem Schuljahr sind auch Flüchtlinge aus der Ukraine dabei. Er bat seine Kollegin Silvia Arbogast vom Gymnasium Bäumlihof, mit ihm zusammenzuspannen.

Sie einigten sich auf die Technik Linolschnitt und das Format 21 x 21 cm. Die Arbeitsvorgabe für die 25 beteiligten Schülerinnen und Schüler lautete, mit Schatten, Fragmenten sowie mit Farben zu experimentieren und sich dabei von der Musik des Abends inspirieren zu lassen. Am Schluss wurden die einzelnen Teile zu einem grossen Quadrat zusammengefügt. Das Original konnte im Foyer des Stadt-Casinos bestaunt werden. Ein riesiges Tuch mit den fotografisch übertragenen Kunstwerken hing über dem Orchester. Das Publikum hatte die Möglichkeit, seine Blicke über die bunten Quadrate schweifen zu lassen und gleichzeitig in die musikalisch-nächtliche Traumwelt einzutauchen.

Sprengen formaler Fesseln

In seiner Anmoderation stellte Christian Knüsel Debussy als den ersten Komponisten vor, der sich von starren formalen Strukturen verabschiedete. Debussy hatte sich bei seinen Nocturnes (1900) durch die impressionistischen Gemälde gleichen Titels von James Abbott McNeill Whistler inspirieren lassen. Mit dem Satz Nuages gelang es dem Orchester, das Publikum sogleich in eine fantasievolle nächtliche Traumwelt zu führen. Con sordino wurde die Dynamik innerhalb des Pianissimo zu Beginn voll ausgereizt. In der Mitte des Stücks türmten sich die Wolken mächtig auf, um sich gegen Ende wieder zu lichten.

John Cages Music of changes (1951) gab dem NOB-Saisonprogramm seinen Namen. In seinem Klavierstück erhob Cage die Unbestimmtheit zum Prinzip. Keine Interpretation sollte wie die andere sein. Die Aufführung sollte dem Zufall gehorchen und der Kreativität des Interpreten anheimgestellt sein. Knüsel löste diese Vorgabe, indem er die Pianistin Beatrice Berrut Cages Komposition im Wechsel mit dem Wohlfühlklassik-Stück Forgotten Dreams (1954) von Leroy Anderson spielen liess. Der Wechsel vom einen zum anderen wurde durch zufällig eingespielte Vogelstimmen gesteuert.

Manuel de Falla hat sein dreisätziges Werk Noches en los jardines de España (1909–1916) ursprünglich als drei Nocturnes für Klavier solo konzipiert, diese aber später zu einem sinfonischen Werk umgearbeitet. Das Klavier ist stark ins Orchester eingebunden, steht jedoch immer im Zentrum des Geschehens. Beatrice Berrut gab ihrem Part ein brillantes Profil.

Zum Schluss tauchte das Orchester mit Nicolai Rimski-Korsakows Scheherazade (1888) ab in die zauberhafte Märchenwelt von 1001 Nacht. Fantasie zu haben, könne auch überlebenswichtig sein, betonte Knüsel: «Inspiration war für Scheherazade existenziell», denn die Prinzessin musste den Sultan mit 1001 Geschichte Nacht für Nacht bei Laune halten, um nicht umgebracht zu werden. Das jahrelange Überleben der Prinzessin findet ihren musikalischen Ausdruck im ostentativen Wiederholen des einen Themas, das sich durch alle vier Sätze durchzieht, sich aber musikalisch ständig wandelt. Man könnte sagen, die Prinzessin bleibt dieselbe, die Geschichten wechseln. Die Ausformungen des Themas gelangen im Zweigespräch zwischen dem Holz und den Streichern aufs Feinste. Die Soloparts der Klarinette, der Flöte, der Oboe und des Fagotts und ganz besonders die Soli des Konzertmeisters David Castro Balbi bleiben in Erinnerung.

Bach und Reize: in Leipzig angekommen

Leipzig feiert die Festanstellung Johann Sebastian Bachs als Thomaskantor vor 300 Jahren. Der Schweizer Dirigent Andreas Reize leitet den Thomanerchor seit rund zwei Jahren.

 

 

Andreas Reize und der Thomanerchor. Foto: Eric Kemnitz

«Bach kommt an», steht auf dem Programmheft des Thomanerchors Leipzig. Der doppeldeutige Konzerttitel verweist zum einen auf die beiden Bewerbungskantaten BWV 22 und 23, die Johann Sebastian Bach für seine Kantoratsprobe am 17. Februar 1723 in der Leipziger Thomaskirche komponierte. Zum anderen erzählt der Titel auch von der einzigartigen Erfolgsgeschichte von Bachs Musik, die auch im 21. Jahrhundert weltweit ausstrahlt und ihn heute im Klassikbereich zum mit Abstand meistgehörten Komponisten macht. Leipzig feiert 300 Jahre Johann Sebastian Bach. 27 Jahre wirkte er hier als Thomaskantor, bis zu seinem Tod am 28. Juli 1750.

Jubiläumskonzert in der Thomaskirche

Andreas Reize ist der 18. Thomaskantor in der Nachfolge von Johann Sebastian Bach. Zum Jubiläumskonzert hat der Schweizer ein umfangreiches, anspruchsvolles Programm zusammengestellt, das neben den beiden Bach-Kantaten vier- bis fünfstimmige Motetten und geistliche Madrigale weiterer Thomaskantoren wie Moritz Hauptmann, Gottlob Harrer oder Johann Hermann Schein präsentiert. Auch sechsstimmige, für den Thomanerchor geschriebene Kompositionen aus der Geistlichen Chor-Music op. 11 von Heinrich Schütz werden an diesem Abend in der voll besetzten Thomaskirche Leipzig aufgeführt.

Traditionsgemäss auf der Empore um die Wilhelm-Sauer-Orgel stehend, entfaltet der Thomanerchor unter Reize einen ganz transparenten, aber durchaus voluminösen Klang. Die Textverständlichkeit ist hervorragend. In vielen Kompositionen ist ein tänzerischer Gestus zu spüren, den Reize mit grossen, schwungvollen Bewegungen, oft ganztaktig dirigierend auch einfordert. Die Intonation des Chores dagegen ist gelegentlich eingetrübt. Die tiefen Männerstimmen geraten etwa bei Moritz Hauptmanns Kyrie und Gloria zu dominant und auch eine Spur zu tief, die Balance kommt in Schieflage. Aber der schlichte Schlusschor aus Jesus nahm zu sich die Zwölfe BWV 22 über der virtuosen Orchesterbegleitung besticht gerade in den hellen Knabensopranen. Das Gewandhausorchester Leipzig glänzt mit rhythmischem Drive und exquisiten Solisten (Oboen!). Auch Bachs zweite Bewerbungskantate Du wahrer Gott und Davids Sohn BWV 23 verbindet in Reizes Interpretation Innigkeit mit Leichtigkeit. Der Dirigent ist nah beim Chor und gestaltet grosse Bögen.

Der Thomanerchor vor der Wilhelm-Sauer-Orgel in der Leipziger Thomaskirche. Foto: Tom Thiele

Traditionen und neue Konzepte

Trotz seiner erstklassigen, weit in die Zukunft weisenden Musik war Johann Sebastian Bach bei der Bewerbung um das Thomaskantorat nur dritte Wahl. Die Leipziger Ratsherren hatten nach dem Tod von Johann Kuhnau schon Georg Philipp Telemann zum neuen Thomaskantor gewählt, bevor er nach drei Monaten die Stadt wegen einer deutlichen Gehaltserhöhung seines Arbeitgebers in Hamburg versetzte. Auch der Darmstädter Hofkapellmeister Christoph Graupner hatte das bedeutende Amt bereits in der Tasche, wurde aber von seinem Dienstherrn nicht freigestellt. Erst dann entschied man sich für Johann Sebastian Bach, den man zur Sicherheit auch eingeladen hatte.

Die Wahl von Andreas Reize zum Nachfolger von Gotthold Schwarz dagegen verlief einstimmig. Nur in der Zeit danach sorgte ein offener Brief von einigen Thomanern, die sich übergangen fühlten, für Unruhe. Einen katholischen Schweizer konnten sie sich als Leiter des renommiertesten evangelischen Kirchenmusikamts nicht vorstellen. Beim Gespräch mit Reize im Alumnat, dem Internat des Thomanerchors gegenüber der Thomasschule, zeigt sich der Solothurner diesbezüglich schmallippig: «Dazu möchte ich nach zwei Jahren kein Wort mehr sagen. Man spürt es ja, dass es hervorragend läuft.» Auch die Frage nach seiner inzwischen erfolgten Konversion zum Protestantismus handelt Reize mit wenigen Worten ab. «Es war für mich von vornherein klar, dass ich konvertieren werde – die Presse hat es nur erst ein Jahr später mitbekommen. Kirche ist für mich Heimat. Und meine Heimat ist nun die Thomaskirche und Thomasgemeinde.»

Der 47-jährige Musiker, der unter anderem in Solothurn bis 2021 den traditionsreichen Knabenchor der St. Ursenkathedrale leitete, möchte nach vorne schauen und geniesst die tägliche, intensive musikalische Arbeit mit den Thomanern, die in der Schulzeit jede Woche mindestens eine Bachkantate aufführen. Reize hat eine feste Tagesstruktur eingeführt. Beim Einsingen setzt er auf Bewegungsspiele und Hilfsmittel wie Therabänder zur Erhöhung der Körperspannung. «Besser singen, angstfrei singen – und es auch mal lustig haben», lautet sein pädagogisches Konzept. Auch musikalisch geht der betont selbstbewusst auftretende Dirigent neue Wege, indem er gerade für das Label Rondeau mit einer nur 24-köpfigen Chorbesetzung und der Akademie für Alte Musik Berlin in einer besonderen Aufstellung Bachs Johannespassion aufgenommen hat.

In der Arbeit mit dem Leipziger Gewandhausorchester ist ihm historische Aufführungspraxis ebenfalls wichtig, was Phrasierung und Vibratogestaltung angeht. Reize schätzt auch die Forschungsarbeit des Bach-Archivs Leipzig, mit dessen Leiter Peter Wollny und seinem Team er in regelmässigem Kontakt steht. Dass er nicht nur weiterhin alle zwei Jahre in Solothurn auf Schloss Waldegg Barockopern dirigieren wird, sondern auch von der Leipziger Oper als Dirigent für dieses Repertoire angefragt wurde, freut den neuen Thomaskantor.

Die Stadt ist stolz auf ihre Musik

2023 wird sich der Thomanerchor beim auf mehrere Jahre angelegten Projekt «Bach300» rege beteiligen und neben anderen Chören Bachs ersten Leipziger Kantatenjahrgang, exakt abgestimmt auf das Kirchenjahr, zur Aufführung bringen. «Dass wir dabei abwechselnd in der Thomaskirche und der Nikolaikirche singen, wie das zu Bachs Zeit üblich war, seit dem Verbot von 1943 aber nicht mehr praktiziert wurde, ist für uns eine besondere Freude», sagt Reize. Beim unter dem Motto «Bach for future» stehenden Bachfest Leipzig (8. bis 18. Juni 2023) wird der Thomanerchor im Eröffnungskonzert neben den Kantaten Singet dem Herrn ein neues Lied BWV 225 und Die Elenden sollen essen BWV 75 eine zu diesem Anlass komponierte Kantate von Jörg Widmann uraufführen und sich in einem weiteren Kantatenkonzert am 15. Juni mit Knabenchören aus Dresden, Windsbach und Hannover messen.

In Leipzig vermisst der Schweizer die Berge. «Ich mag die Offenheit der Stadt und die vielen Grünflächen. Leipzig ist zwar eine Grossstadt, hat aber trotzdem auch einen dörflichen Charakter.» Dass am Hauptbahnhof für das Gewandhausorchester und den Thomanerchor geworben werde, gefalle ihm sehr. «Die Musik hat hier eine enorme Bedeutung für die Stadt – etwas Vergleichbares gibt es leider in der Schweiz nicht.» Und was mag der Thomaskantor an der Musik von Johann Sebastian Bach? «Die Tiefe. Die Verbindung von Wort und Musik in seinen Werken ist einzigartig!»

Georg Rudiger war von der Projektleitung »Bach300 – 300 Jahre Bach in Leipzig« in Kooperation mit Leipzig Tourismus und Marketing zu «Bach kommt an» eingeladen.

Zupfkonzerte Schweiz – Südkorea

Durch die Corona-bedingte Absage des EuroZupf-Festivals in Bruchsal (D) hat das Orchester zupf.helvetica die grossartige Möglichkeit, mit einem koreanischen Mandolinenorchester auf eine musikalische Reise zu gehen.

Schweizer Zupforchester «zupf.helvetica».Foto: Nicola Bühler

Das Schweizer Mandolinen- und Gitarrenorchester zupf.helvetica, das sich 3–4 Mal pro Jahr an einem Wochenende für seine Arbeitsphasen trifft, beschloss, den ausgefallenen Termin trotzdem für einen internationalen Anlass zu nutzen. Es ergab sich ein Kontakt zum südkoreanischen Bundang Mandolin Orchestra, das seinerseits – nicht zum ersten Mal – eine Reise nach Europa plante. Daraus entwickelte sich eine interessante Zusammenarbeit, aus der das Projekt von drei gemeinsamen Konzerten an verschiedenen Orten in der Schweiz entstand.

zupf.helvetica ist ein noch junges Orchester, gegründet 2017 auf der Musikinsel Rheinau, das sich hauptsächlich aus Amateur- und wenigen Profimusiker: innen aus der ganzen Schweiz zusammensetzt. Vertreten sind die in Zupforchestern üblichen Instrumente Mandoline, Gitarre, Mandola, Mandoloncello und Kontrabass. Das Orchester ist seit seiner Gründung stetig gewachsen und unternahm bereits kleine Konzertreisen nach Lugano, Genf und Deutschland. Auch war es anlässlich eines Live-Auftritts am Westschweizer Radio RTS zu hören.

zupf.helvetica widmet sich dem breiten Spektrum von alter bis zeitgenössischer Musik für Mandolinen- und Gitarrenorchester und erweitert deren musikalische Vielfalt durch Auftragskompositionen von Schweizer Komponierenden. Gleich drei Werke, die für zupf.helvetica geschrieben wurden, werden im Rahmen dieser Konzerte im Mai unter der musikalischen Leitung von Christian Wernicke (Dirigent und Gitarrist aus Heidelberg) zur (Ur-)Aufführung kommen: Werke von Victor  Solomin, Anina Keller und Ramon Bischoff.

Gemeinsame Reise

Das Bundang Mandolin Orchestra, beheimatet in der Metropolitanregion der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, besteht aus 45 Amateurmusiker: innen und wird seit seiner Gründung vor 24 Jahren von Dirigentin Seo Yun Sook geleitet. Es unternahm Konzertreisen in Asien und nach Europa. Dank seines grösseren Klangvolumens tritt das koreanische Orchester in seiner Heimat häufig auch zusammen mit Blas- und Streichinstrumenten, mit Klavier und Schlagzeug auf.

Die Organisator:innen dieses gemeinsamen Projekts – der Verein «Kultur für Alle» und der Zupfmusik-Verband Schweiz – freuen sich auf die gemeinsamen Proben im Mai am Walensee,
auf den kulturellen Austausch und auf die Auftritte. Jedes Orchester wird einen eigenen Teil bestreiten und zuletzt werden zwei Stücke – eines aus der Schweiz und eines aus Südkorea – gemeinsam aufgeführt, ein musikalischer Leckerbissen, den man sich nicht entgehen lassen sollte.

Gottfried Galston

Über den Pianisten Gottfried Galston ist wenig bekannt. In ihrer Masterarbeit an der Universität Bern begab sich Florence Weber auf seine Spuren.

Gottfried Galston. Bild: Nicolas Perscheid

Ihre Forschungsergebnisse wurden im Journal Die Zwitschermaschine. Zeitschrift für internationale Klee-Studien publiziert. Wer Gottfried Galston war und was er mit Paul Klee zu tun hatte, darüber gibt sie im Interview Auskunft.

Florence Weber, wer war Gottfried Galston?
Gottfried Galston (1879–1950) war ein Wiener Pianist mit jüdischem Hintergrund, der seine musikalische Ausbildung in verschiedenen Städten genossen hatte. Sein pianistisches Debut spielte er mit 18 Jahren, worauf eine ausgedehnte Karriere als erfolgreicher Konzertpianist folgte. Auch als Klavierpädagoge war Galston tätig und verwob seine pianistischen Ansichten sowie Spielempfehlungen in seinem Studienbuch, das Studierenden ein Lehrwerk sein sollte.

Galston wohnte in verschiedenen europäischen Städten mit grosser kultureller Ausstrahlung: Wien, Leipzig, Berlin und München. Diese künstlerischen Zentren waren Treffpunkte für musikalischen Austausch, intellektuelle Diskussionen, künstlerische Ansichten. Der österreichische Konzertpianist befand sich mittendrin und konnte ein Netzwerk von beachtlicher Grösse aufbauen.

Welche Verbindung bestand zwischen Galston und Paul Klee?
Galston und Paul Klee haben in München in unmittelbarer Nachbarschaft gewohnt: Galston war Mitte Januar 1919 mit seiner Familie an die Ainmillerstrasse 29 gezogen, Lily und Paul Klee wohnten mit ihrem Sohn Felix seit dem Herbst 1906 an der Ainmillerstrasse 32. Rund zweieinhalb Jahre verbrachten die beiden Künstler Tür an Tür und entwickelten einen freundschaftlichen Kontakt: Sie musizierten gemeinsam und diskutierten über Fragen musikalischer, künstlerischer und beruflicher Art. Dieser Kontakt führte dazu, dass Klee die Patenschaft für Galstons Tochter Flora Irina, geboren am 20. Februar 1920 (auch Florina-Irene genannt) übernahm. Klee malte seiner Patentochter mehrere Werke als Geschenke. Die Bilderfolge endete, als das kleine Mädchen einjährig verstarb.

Was hat dich an diesem Thema besonders fasziniert?
Gottfried Galston ist in keinem der gängigen musikwissenschaftlichen Lexika zu finden – so, wie viele andere Personen in der Musikgeschichte. Aufgrund vieler noch heute sehr bekannter Musiker*innen und Künstler*innen in Galstons Netzwerk ist das erstaunlich: Lily und Paul Klee, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky, Arnold Schönberg, Carl Reinecke, Ferruccio Busoni, Anton Rubinstein und Theodor Leschetizky – um nur einige zu nennen. Dass diese Verbindungen nicht prominenter aufgearbeitet sind, entpuppte sich für mich als Glücksgriff: Ich konnte Galstons Biografie von seinem Geburtsjahr 1879 bis zu seiner Emigration in die USA 1927 und seine Kontakte in Form meiner Masterarbeit rekonstruieren. – die zweite Lebenshälfte von Galston gilt es noch zu beleuchten.

Wie bist du zu diesem Thema gekommen?
Für die Recherche zu Paul Klee und der Interdisziplinarität von verschiedenen Künsten las ich mich quer durch die Literatur im Archiv des Zentrums Paul Klee in Bern. Dabei stiess ich auf Gottfried Galston und seine Verbindung zu Paul Klee. Bei der weiterführenden Recherche – unter anderem im Online-Archiv der österreichischen Nationalbibliothek – fand ich mehrere hundert Zeitungsartikel, Konzertanzeigen und -rezensionen zu Galston und seinen Auftritten. So liessen sich Aufenthaltsorte, Konzerttourneen und Verbindungen zu anderen Musiker*innen und Künstler*innen herstellen und ich konnte mich an eine detaillierte Biografie Galstons annähern.

Wettbewerb oder Festival?

In einem Feuerwerk findet vom 31. März bis 2. April 2023 die Entrada des 48. Schweizerischen Jugendmusikwettbewerbs an sieben verschiedenen Orten in der Schweiz statt. Das Come Together von Jazz & Pop und die Live-Performances des Kompositions- und des Free Space-Wettbewerbs folgen in den Wochen darauf.

 

Schnappschuss vom Finale 2021. Foto: Ueli Steingruber

Es ist kein leichtes Unterfangen, die tausend Anmeldungen sinnvoll auf die sieben Austragungsorte zu verteilen. Herausgekommen ist ein dreitägiges Festivalprogramm, an dem sich die Auftretenden gegenseitig messen können und die Zuschauenden eine umfassende Werkschau geliefert bekommen. Austragungsorte 2023 sind – in der Regel in Kooperation mit der örtlichen Musikschule – Arbon, Basel, Bern, Morges, Neuchâtel, Steinhausen und Winterthur.

Klavier- und Gitarrentage

Ausser Bern, das dieses Jahr lediglich am Freitag, 31. März zehn Organist*innen beherbergt, finden an sechs der sieben Orte Klaviervorspiele statt, mehrmals sogar in zwei Räumen parallel. Ein «Klaviertag » dauert in der Regel mit Pausen von 9.30 Uhr bis ca. 16 Uhr. Die Programme der Vorspieltage sind nach Alterskategorien zusammengestellt. Wer Lust hat, in einen solchen Klaviertag einzutauchen, hat viele verschiedene Möglichkeiten: Die IV. Alterskategorie (*2003-2005) ist am 31. März in Winterthur und am 2. April in Basel einen Tag lang zu hören.

Vorspiele aus der Kategorie III (*2006–2008) können am 31. März in Arbon, Neuchâtel und Steinhausen, am 1. April in Basel und Neuchâtel und am 2. April in Winterthur angehört werden.
Ein Tag lang Kategorie II (*2009-2011) kann man am 31. März in Basel und Neuchâtel, am 1. April in Steinhausen und am 1. und 2. April in Neuchâtel erleben. Die jüngsten Teilnehmenden
(*2012–2015) treten am 31. März in Basel, am 1. April in Morges und am 2. April in Steinhausen und in Winterthur auf.

Ein solcher Tag beinhaltet zwischen 14 und 19 Vorspielen. Weitere Klaviertage mit Teilnehmenden aus mehr als einer Alterskategorie finden am 1. April in Arbon, Basel und Winterthur und
am 2. April in Morges und Neuchâtel statt. Neben Klavier ist die Gitarre das am zweithäufigsten gewählte Instrument. Mit Ausnahme von Bern und Morges finden an allen Orten auch ausgedehnte Gitarrenvorspiele statt.

Spezialitäten

Neben diesen «flächendeckenden» Instrumenten haben die einzelnen Vortragsorte auch ihre Spezialitäten: In Arbon treten Streicherduos auf. In Morges sind Streicherensembles und Bläser-
Duos zu hören, in Neuchâtel zeitgenössische Musik und in Steinhausen Trompete, Streicherduos und –ensembles. Klassischer Gesang steht in Arbon, Neuchâtel und Steinhausen auf dem
Programm. Die beiden grössten Vorspielorte sind Basel (mit Alter Musik, Horn, Euphonium und Tuba, Harfen-, Blockflöten- und Schlagzeugensemble) und Winterthur (mit Posaune und
Bläserduos und –ensembles).

Die Vorspiele sind öffentlich. Sie dienen den Auftretenden als Auftrittstraining. Alle Orte und Zeiten sind in einer Übersicht unter sjmw.ch/classica/orte/ zu finden. Eintreten und verlassen kann
man die Konzertlokale während der Pausen.

Das Finale 2023

Eine eigentliche Werkschau, Konzerte der Preisträger*innen, finden vom 18. bis 21. Mai im Conservatorio della Svizzera italiana in Lugano statt. An diesem Wochenende sind auch die Live-Performances der «Spezialdisziplinen» Free Space und Komposition in Lugano zu sehen und hören. Die Auftritte im Bereich Jazz und Pop gehen am 16. April im Kanzlei Club in Zürich
über die Bühne.

Amateure auf Reisen mit Paul Juon

Dirigent Hugo Bollschweiler hat für den EOV acht erstmals edierte Werke Paul Juons nach aufführungspraktischen Kriterien bewertet. Im Folgenden stellt Bollschweiler den Inhalt und die Ziele seines Berichts vor – und schildert seine Leidenschaft für den spätromantischen Komponisten mit Schweizer Familie.

Der Romantiker Paul Juon (1872–1940) mit Schweizer Wurzeln hat in den letzten Jahren eine stille Renaissance erlebt. Vor allem sein umfangreiches kammermusikalisches Oeuvre ist mittlerweile zu einer festen Grösse in Konzertsälen im In- und Ausland geworden. Anders ist es um Juons sinfonischen Kanon bestellt: Trotz vorbildlicher Editionsarbeit von Christoph Escher und Ueli Falett, die eine stattliche Anzahl von Juons grossen sinfonischen Arbeiten akribisch recherchiert und neu veröffentlicht haben, bleibt das grossbesetzte Werk grössenteils terra incognita für Interpret:innen, Publikum und Veranstaltende. Gerade deshalb öffnen sich Chancen für Amateurorchester: Zur innovativen Programmgestaltung gehört die Entdeckung von vergessenen Werken.

Um den Zugang zu Juons Orchestermusik niederschwellig und unkompliziert zu ermöglichen, durfte ich in Zusammenarbeit mit dem EOV acht ausgewählte Orchesterwerke auf praktische Realisierbarkeit und instrumentale Anforderungen hin analysieren und bewerten. Entstanden ist ein 25-seitiger Bericht – eine Art Reiseführer –, der auf der EOV-Website heruntergeladen werden kann. Die Kurzbewertung und die Detailkommentare sollen den interessierten Orchesterverantwortlichen eine Hilfe sein, um schnell und pragmatisch eine Einschätzung der jeweiligen Werke vornehmen zu können.

Reiseführer: Zur Bewertung und Benutzung

Der grundsätzliche Ansatz der Bewertungen zielt darauf, die Praxistauglichkeit von ausgewählten sinfonischen Werken für Amateurorchester zu überprüfen. Da letztere auf sehr unterschiedlichen Spielniveaus existieren, bleibt die Bewertung immer unter dem Vorbehalt zu lesen, dass sie sich zwingend auf einen Durchschnitt bezieht.

Bei den Anforderungen ist zu unterscheiden zwischen technischen, organisatorischen und musikalischen Aspekten. Untersucht wurden Faktoren wie Tempo, Intonation, Tonart, Klanglichkeit, Rhythmus und Komplexität des Zusammenspiels. Zu den Anforderungen organisatorischer Art zählen die Besetzung, Spezialinstrumente, Divisi bei den Streichern (Mindestanzahl der Instrumente), Länge des Stücks, Lautstärke und Publikumsfreundlichkeit. Besondere Beachtung erhielten Herausforderungen instrumentenspezifischer Art: Exponierte Solostellen, spezielle Registerlagen, Offenheit der Stellen und die Komplexität des Dirigats.

Die Art der Bewertung ist dreistufig gehalten und bedient unterschiedliche Bedürfnisse. Die Kurzbewertung und die Spinnendiagramme erlauben eine schnelle und visuelle gesamtheitliche Erfassung des Stücks, während die Detailkommentare spezifische und vertiefte analytische Einblicke ins Innenleben des Werks geben. Zu bedenken ist, dass für die meisten der acht untersuchten Werke keine Referenzaufnahmen vorliegen. Die Bewertungen sind als Wegweiser zu verstehen und nicht als Garantieerklärungen für eine passgenaue Partnerschaft von Orchester und Werk. Der Blick in die Partitur (Link unten) bleibt unabdingbar. Hier lassen sich die individuellen Fähigkeiten der jeweiligen Orchestermitglieder mit den Erfordernissen des Werks abgleichen, um damit zu einer differenzierten Gesamteinschätzung zu gelangen.

Reiseempfehlung: Ein musikalisch-praktisches Fazit

Für Amateurorchester sind in Juons Oeuvre spannende und lohnende Entdeckungen zu machen. Ein praktisch-psychologischer Aspekt ist nicht zu unterschätzen: Das Gros von Juons sinfonischem Schaffen ist noch nicht auf Tonträger verfügbar. Ohne hochkarätige Referenzaufnahmen entfällt der Vergleichsdruck, der bei den etablierten Werken unweigerlich die Hörerwartungen des Publikums prägt. Eine gewisse Freiheit in der Interpretation (und damit eine Anpassung an orchesterspezifische Möglichkeiten) erlaubt die Art und Weise der Juonschen Tempogestaltung. Die Tempoangaben sind nicht mit Metronomzahlen fixiert und lassen viel gestalterischen Freiraum (gerade auch bei virtuosen und schnellen Sätzen).

Juons Klangsprache ist zugänglich und oft von aussermusikalischen Motiven inspiriert. Das macht seine Musik zu einem dankbaren Baustein innerhalb von thematisch ausgerichteten Konzertkonzepten. Als flexibel einsetzbar erweisen sich die Werke mit Variationen- oder Suitencharakter: Hier sind Auskoppelungen und Auslassungen einzelner Sätze durchaus denkbar. Juons kompositiorisches Handwerk ist fundiert, die Kenntnis der Instrumente souverän und die dramaturgische Geste immer bewusst eingesetzt. Für Reisen mit Paul Juon gilt meine uneingeschränkte Empfehlung.

Zum Bericht mit den Werk-Bewertungen: www.eov-sfo.ch
Zu den Partituren: www.patrinum.ch
Zu Hugo Bollschweiler: www.hugobollschweiler.ch

Es besteht ein grosses Bedürfnis nach Bühnenshows

Roger Staub erzählt von seinen Erfahrungen mit grandios inszenierten Auftritten in Los Angeles und in der Schweiz.

Roger Staub. Foto: GMD Three

Roger Staub wuchs in Thayngen/SH auf und absolvierte eine Typografenlehre, ehe er sich mit 22 Jahren selbständig machte, um beim Theater als Bühnenbildner und Lichtdesigner zu arbeiten. Als Musikfan hat er in verschiedenen regionalen Bands gespielt, ehe er bei der lokalen «Supergroup» Buffalo Ballett für die «Bühnenshow» verantwortlich zeichnete. Dank eines Kulturförderbeitrags von Stadt und Kanton Schaffhausen verbrachte er 2006 zum ersten Mal einige Zeit in Los Angeles und liess sich zwei Jahre später permanent in Kalifornien nieder. Hier wirkte er als kreativer Kopf bei der Konzeption von Shows unter vielen anderen von Beyoncé, Jay-Z, Kendrick Lamar und Steve Jobs mit. 2020 zog er nach Zürich zurück, wo er mit Christoph Eschmann die «strategische Branding-Agentur» LoF* führt.

 

Die Band Animal Collective hat mir mal erzählt, dass die grossen Arenakonzerte in den USA eine Art Kilbi seien. Die Fans treffen sich lang vor Konzertbeginn auf dem Parkplatz und starten ein Picknick. Hast du das auch so erlebt?

Je nach Venue ist das schon so. Einer der lässigsten Orte in LA ist die Hollywood Bowl, ein riesiges Amphitheater mit 15’000, 20’000 Sitzplätzen. Man kann früh hinein, veranstaltet ein Barbecue, es ist ein richtiges Happening. Oder im Forum im Süden von LA, in Compton, da hat’s einen gigantischen Parkplatz, da trifft man sich vorher zum Bier. Es hängt von der Location ab. Im Staples Centre, ebenfalls in LA, geht man ans Taylor-Swift-Konzert und dann wieder heim, da ist alles durchorganisiert.

 

Was hat dich damals gereizt an der Verbindung von Musik und visuellen Elementen?

Gute Frage. Ich habe selber immer Musik gemacht, aber nie einen Song geschrieben, von dem ich das Gefühl hatte, ich – geschweige denn ein Publikum – würde den je wieder anhören wollen. Aber die Liebe zur Musik und zum Musikmachen war schon früh da. Mit 14 habe ich in Bands gespielt und alles superlässig gefunden. Von meiner Grafiker-Herkunft her wurde ich vielleicht auch ein bisschen inspiriert vom Schweizer Stargrafiker Hans-Rudolf Lutz, der mit Unknownmix-Diashows, Typografie, Kunst und Musik zu einem visuellen Erlebnis zusammengebracht hat. So was hat mich einfach fasziniert. Später dann mit Buffalo Ballett habe ich angefangen, mittels Licht und Bildwelt irgendwie die Stimmung zur Musik zu inszenieren. Das hat mir gefallen und teilweise auch den Leuten. So ging es dann weiter. Über Züri West und Lovebugs habe ich den Weg durch die Schweizer Musikszene gemacht und irgendwann gemerkt, hey, das ist cool, aber die Herausforderung ist grösser, je grösser die Produktion ist. So bin ich dann auf LA gestossen, einen Ort, wo die wirklich grossen Shows konzipiert werden.

 

Pink Floyd und Velvet Underground, aber auch die Münchner Band Amon Düül 2, experimentierten in den Sixties von Anfang an mit Bildprojektionen und starteten damit eine erste «Mode» von multimedialen Musik-Shows. Welche Vorbilder hast du gehabt?

Das Problem bestand für mich natürlich ein bisschen darin, dass in der Schweiz wie überall sonst ökonomische Gründe die Grösse von Produktionen diktierten. Noch jemanden auf Tournee mitnehmen, der für Visuals verantwortlich ist, ist eine Investition, die sich im Verlauf einer Tour auch ein bisschen auszahlen muss. Für eine Band wie Züri West war das wohl etwas einfacher, denn über das Jahr hinweg gab sie 50 oder 60 Konzerte, wovon die meisten ausverkauft waren. Das gibt eine gewisse Planungssicherheit und das Geld für eine Bühnenshow lässt sich eher legitimieren. Für kleinere Bands ist es wahnsinnig schwierig, Mehrkosten zu rechtfertigen. Trotzdem besteht oft das Bedürfnis nach einer Bühnenshow. Ich sehe das gerade jetzt bei Ikan Hyu, die denken auch bereits sehr visuell. Ich erkenne eine grosse Lust bei  Künstlerinnen und Künstlern, sich auf der Bühne auf irgendeine Art zu präsentieren, die über das rein Musikalische hinausgeht. Was natürlich nicht bei jeder Band gleich sinnvoll ist.

 

Ikan Hyu sind ein interessanter Fall. Das Duo hat einen ZHdK-Background. Möglicherweise wirkt das Beisammensein von visuellen Künsten, Tanz, Performance und Musik im gleichen Gebäude gegenseitig inspirierend.

Sicher! Das kann total ein Grund sein, wieso gerade in diesem Fall in visuellen Konzepten gedacht wird.

 

Jetzt aber nochmals: Wer waren deine Vorbilder zu den Zeiten von Züri West?

Klar hat man Vorbilder. Zum Beispiel The Nits und ihr Liveprogramm Urk. Dazu haben sie sehr theatralische Installationen gemacht, was mich auf den Albumcovers immer sehr fasziniert hat. Bezüglich Bühnenshows kam ich ja vom Bühnenbild im Theater her, dem Lichtdesign. Mit einem Scheinwerfer eine Dramatik zu erzeugen, die einzelnen Musiker vor einem Bühnenhintergrund herauszuschälen, das hat mich immer sehr fasziniert. Und dann Anfang der Nullerjahre und sogar noch in meinen frühen LA-Tagen hat das gerade ein bisschen angefangen mit grossflächigen LED-Walls. Vorher hatte man das fast nur bei U2 wirklich erleben können: die Popmart- oder Zoo-TV-Tour. In meiner Wahrnehmung war da zum ersten Mal eine Band mit Video-Screens und LED-Screens in Erscheinung getreten. Die sind dann irgendwann mal auch erschwinglicher geworden für eine breitere Masse von Bands.

 

Du hast nicht das Gefühl, dass Konzerte dieser Art zu einer Materialschlacht führen, die sich nur noch die erfolgreichsten Künstlerinnen und Künstler leisten können? Dass das Musikgeschäft wie schon einmal in den Siebzigerjahren komplett von den Plattenmultis dominiert wird – was wiederum eine gewaltige Einschränkung der künstlerischen Freiheiten bewirkt?

Das kann gut sein. Ich habe mir natürlich auch schon überlegt: Wie wird die Entwicklung dieser Liveshows verlaufen? Kann dieser Gigantismus überhaupt noch irgendwie weitergehen oder können sich den am Schluss eh nur noch Rihanna, Beyoncé, Rosalia oder Taylor Swift leisten? Ich glaube, es gibt schon die beiden Pole. Die Reichen und die Nicht-so-Reichen. Zu den letzteren zählen bestimmt allerhand Indie-Bands, die das ein Stück weit wollen und sich leisten können. Sie müssen sich mit bescheideneren Mitteln begnügen, kompensieren das aber mit Fantasie und Witz. So bleibt der Gigantismus auf dem Top-Level, wo man sich immer nur mit neuesten Gags gegenseitig zu toppen versucht. Aber es kann schon sein, dass sich gelegentlich eine Überreizung einstellen wird, so wie es bei den Marvel-Superhero-Movies langsam der Fall ist. Ich habe aber das Gefühl, dass wir noch nicht ganz an diesem Punkt angelangt sind. Ausserdem spüre ich seit Längerem, dass es bei gewissen Bühnenshows weniger um einen visuellen Overkill geht, als um eine klare, künstlerische, fast schon installative Haltung. Kendrick Lamar z. B., seine letzte Tour, das war schon fast eine Kunstinstallation, in der er sich bewegte.

 

Liegt hier die Schnittfläche zur Firma, die du jetzt hast, LoF*, wo es mehr ums Branding geht? Dass Künstler sich genau überlegen, wofür sie stehen und was sie darstellen, und nicht einfach um eine Comicshow?

Das ist natürlich der hehre Anspruch. Die Herausforderung auch, die Lust herauszufinden, was sind die adäquaten Wege, um Künstlerinnen und Künstler im Sinne ihrer Musik und Personality in Szene setzen zu können. Dass es also um die bewusste Wahl von Mitteln geht, nicht einfach darum, etwas mehr LED-Fläche zu haben als Beyoncé. Man sieht immer wieder lässige neue Umsetzungen. Etwa The 1975, die fast mit einem Broadway-Set auf Tour gingen. Sie hatten praktisch keine LEDs, sondern haben eine regelrechte Wohnung nachgestellt, in der sie sich bewegten. Wenn Konzept, Musik und Anspruch der Band übereinstimmen, finde ich das cool.

 

Kannst du uns ein paar Anhaltspunkte geben über die Ausmasse eines LA-Budgets für den visuellen Auftritt?

Die Budgets im Detail wurden immer sehr unter Verschluss gehalten. Ich kann lediglich sagen, dass für das Bühnenbild locker drei bis fünf Millionen ausgegeben werden und für Video-Content-Design und -Produktion ebenfalls mehrere 100’000 Dollar. Bei einer Welttournee kann man natürlich ganz anders rechnen als bei einer Schweizer Tournee.

 

Wie hat LA deine Perspektive betreffs Bedeutung einer visuellen Show beeinflusst und verändert?

Der Anspruch einer grossen amerikanischen Produktion ist oft, den Zuschauern das Neueste, Beste, Noch-nie-Dagewesene zu bieten. Und dieser Anspruch und dieses Commitment treibt alle Beteiligten an und motiviert sie. Das versuche ich auch bei meinen Produktionen, um im Rahmen des Möglichen dem Zuschauer ein Erlebnis zu bieten.

 

Bei grossen Shows wird spätestens seit Madonna und Michael Jackson jeder Lichtkegel genau austariert. Sonst aber wurde die Beleuchtung an Konzerten noch weit in die Neunzigerjahre hinein, ja noch heute, gern stiefmütterlich behandelt. Hängt das mit der Verfügbarkeit von technologischen Mitteln zusammen?

Die neuen Möglichkeiten, all die Elementen zu koordinieren, die auf der Bühne im visuellen Bereich stattfinden, hat natürlich enorm geholfen. Aber man kann ein Konzert nicht unbedingt mit dem Theater vergleichen. Ich komme ja wie gesagt vom Theater her. Im Theater hängen 50 Scheinwerfer, und die sind alle dazu da, die Akteure und das Bühnenbild sichtbar zu machen. Da wird alles millimetergenau eingestellt, ausgeleuchtet, dass keine Schatten im Gesicht auftreten. Im Konzert ist es genau umgekehrt. Man hat 300 Scheinwerfer, und von denen machen 280 irgendein Bild, und 20 sind auf die Musikerinnen und Musiker selber gerichtet. Dort wird das Licht eingesetzt, um Bilder zu kreieren. Es ist ein Gestaltungsmittel, um mit Licht Bilder zu schaffen.

 

Eine Produktion wie Beyoncé, deine erste in LA, da bist du wirklich ins tiefe Wasser geworfen worden! Ich stelle mir vor, an einer solchen Show arbeiten 50 Leute, jeden Tag gibt es irrsinnig lange Komitee-Meetings. Ist es nicht furchtbar schwierig, eigene Ideen einzubringen? Wie setzt man sich durch als Schweizer in LA?

Es kommt natürlich drauf an, wie fest das Einbringen von Ideen gewünscht wird. Das hat einerseits mit dem Künstler zu tun, wie stark verlässt er sich auf ein eingeschworenes Team. Im Fall von Beyoncé gab es einen Show-Regisseur, einen Creative Director, einen Musical Director – sie hatte ihr Team, mit dem sie zusammen die Show kreierte. Als Teil des Umsetzungsteams hat man partiell noch Möglichkeiten Ideen einzubringen. Bei grösseren Produktionen ist es viel schwieriger. Im Fall von Puff Daddy war es aber ganz anders. Da bin ich wirklich viel mit ihm direkt im Austausch gestanden, wie er sich die Show vorstellte, er hat auch Ideen zugelassen. Es gibt keine Formel, wie das funktioniert.

 

Bei welchen Produktionen hast du am meisten persönliche Sachen eingebracht?

2015, die Tour mit Puff Daddy mit all den alten R&B-Stars, die mit Puff Daddy unterwegs waren, da war viel Input möglich. Im Fall von Green Day auch. Sobald es in den Rock’n’Roll geht, sind die Teams massiv kleiner als bei einer Pop-Show. Bei einer R&B-Show wie Beyoncé oder Taylor Swift hat man Management, Personal Assistants und blablabla. Ihre Core-Crew sind schon 20 Leute, und mit der restlichen Crew sind es nochmal 100 mehr. Das ist im Rock’n’Roll meistens etwas einfacher und überschaubarer. Bands wie Green Day sind eine recht familiäre Geschichte, dort ist man schneller am Künstler dran.

 

Wie ist das, wenn man bei der Hauptrobe für eine Show, an der man auf praktischer, kreativer und emotioneller Ebene beteiligt ist, im Publikum sitzt? Und dann bei der Premiere?

 Der Moment, wenn im Saal das Licht ausgeht und die Zuschauer zu schreien beginnen in Erwartung ihres Stars, löst immer noch Hühnerhaut aus. Demzufolge ist man selber immer noch aufgeregt und hofft, dass alles klappt. Während der Show ist es dann eher ein Wechselbad der Gefühle zwischen Freude und Erleichterung, wenn es klappt, oder eben Stress und Herzrasen, wenn etwas nicht klappt.

 

Kannst du dich an besondere Desaster erinnern?

Bei den Swiss Music Awards haben mal kurz vor Türöffnung die Motoren der LED-Wände versagt und mussten teilweise ersetzt werden. Da die Dramaturgie der Show auf die Fahrbarkeit der LED-Wände angewiesen war, war das ein ziemlicher Schockmoment. Aber es hat dann doch geklappt …

 

Jetzt bist du zurück in der Schweiz. Vor knapp 20 Jahren hast du dich international etabliert. Ist die Technologie unterdessen so weit fortgeschritten, dass du von der Schweiz aus von den Budgets von Los Angeles profitieren kannst?

Das wäre schön, stimmt leider in dem Fall nicht. Ich habe zwar immer noch solche Produktionen, arbeite ja seit fast 10 Jahren mit Def Leppard zusammen, dort besteht ein bisschen die Situation, dass man ein internationales Budget hat, mit dem wir hier von der Schweiz aus operieren können. Aber in gewisser Beziehung ist es auch ein kurzlebiges Business. Man fällt raus, weil neue Leute dazu kommen oder weil der Künstler mit anderen zusammenarbeiten will. Von dem her müsste ich schon ein bisschen in LA sein, um à jour zu bleiben, Leute zu treffen, Agenten. Das hat sich über die letzten Jahre ein bisschen ausgedünnt. Aber mit dem Focus auf unsere Branding Agentur war das auch ein bewusster Schritt. Ich mache jetzt mehr oder weniger das, was an mich herangetragen wird, und bin im Live-Event-Bereich nicht mehr so aktiv am Akquirieren wie früher.

 

Vermisst du es nicht ein bisschen, das Musikbusiness?

Total. Eigentlich ist es egal, welche Grösse von Produktion es ist, aber schon der ganze Anfang des Konzertes, es wird dunkel, sie kommen auf die Bühne, es wird hell, es geht los. Den Thrill, den vermisse ich teilweise schon, und auch den ganzen Wahnsinn. Mit den Grossproduktionen bist du zum Teil sechs Wochen lang in einem Venue eingeschlossen, kommst um 15, 16 Uhr nachmittags dort an, die Künstler sind am Proben auf der Bühne, Choreos am Einstudieren. Zwischen 19 und 22 Uhr gibt’s vielleicht Durchläufe und Proben mit Künstlern und Band. Dann von 22 Uhr bis 7 Uhr morgens, das ist die Zeit des Kreativteams. Dann sind wir am Programmieren, die ganze Show, jedes einzelne Licht wird programmiert. Um 7 Uhr mit dem Shuttle zurück ins Hotel, schlafen, um 15 Uhr zurück ins Venue. Irgendwann weisst du nicht mehr, ist jetzt Donnerstag oder Sonntag, morgens um 4 oder nachmittags um 5.

 

Die Aftershow-Partys wirst du auch vermissen …

Natürlich. Wenn man ein bisschen auf dem Level unterwegs ist, fliegt man mit dem Privatflieger irgendwo hin, all die Partys, wo dann die Stars präsent sind, das ist schon ziemlich aufregend. Aber, ja, das hat man dann auch mal gehabt und es ist gut, dass es etwas anderes gibt.

 

Bleibt der Kontakt zu den Leuten, mit denen du gearbeitet hast, bestehen?

Mit gewissen Leuten schon. Maxwell zum Beispiel, obwohl ich ihn auch schon eine Weile nicht mehr gesehen habe. Es ist sehr cool, wenn man merkt, man schätzt sich gegenseitig, hat Vertrauen.

 

Was war dein persönliches Show-Highlight?

Jay-Z im Yankee Stadium war bis dato die grösste Hip-Hop-Party und dementsprechend beeindruckend.

 

Und die beste Party?

Die After-Show-Party mit Puff Daddy in seiner Garderobe nach dem Konzert im Barclay Centre in Brooklyn.

 

Die besten Shows, die du in der Schweiz erlebt hast?

Evelinn Trouble am m4music. Die Young-Gods-Tribut-Show in Montreux. Hecht im Hallenstadion (Anm. d. Redaktion: Roger Staub war bei dieser Show für den visuellen Auftritt zuständig).

 

Allein daheim, was hörst du freiwillig?

Sehr gemischt. Von Radiohead bis Prince. Prince ist meine grosse musikalische Liebe seit den Achtzigerjahren. Überhaupt habe ich ein grosses Faible für Black Music generell, von Marvin Gaye bis Kendrick Lamar.

 

Und jetzt hast du auch wieder Zeit für eine eigene Band?

Genau, haha! Der Entscheid, meinen Lebensunterhalt mit der Inszenierung der Musik zu verdienen, nicht mit der Musik per se, hat mir immer ein bisschen geholfen, glaub ich, ein entspanntes Verhältnis zur Musik zu haben. Wenn ich ans Klavier sitze oder ein bisschen Schlagzeug spiele oder Bass, dann geht’s mir gut. Dann bin ich glücklich, und es muss nicht mehr sein als das.

 

Ausgabe 4/2023 – Focus «Auftritt»

Titelseite der Ausgabe 4/2023. Foto: Holger Jacob

Inhaltsverzeichnis

Focus

Schlaf, Affirmation und Bananen
Wie sich drei junge Sängerinnen für ihre Auftritte vorbereiten

 Die Bühne am Arbeitsplatz
Kurze Livekonzerte während der Arbeitszeit in Betrieben – das Projekt musicdrops@work

So ein Theater!
Rockshows zwischen Materialschlacht und Gesamtkunstwerk
Ausführliches ergänzendes Interview mit Roger Staub

Chatten über … Lampenfieber
Zita Zimmermann und Judith Furrer-Bregy

Carte blanche für Wolfgang Böhler
Der grosse Auftritt im Rössli-Säli

(kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

 

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

 

Echo

Ouvert à tout, fermé à rien
Création du premier opéra de Christian Favre, Davel

Radio Francesco – Elefanten

Hervorragend interpretierte Wettbewerbswerke
Vierte Basel Composition Competition

Die Klassik in der Mediamorphose
Neue Musikfilme an der Berliner Avant Première

Die Wurzeln des Jazz anerkennen
2. Swiss Jazz Days in Bern

Authentizität in der Musik
Ein Echo auf das Interview mit Yann Laville in SMZ 3/2023

 

Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Kamillentee soll helfen
Rätsel von Pia Schwab

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Ausgabe für CHF 8.- (+ CHF 2.- Versandkosten) bestellen

Musique Suisse statt Credit Suisse

Alternativvorschlag zum staatlich subventionierten Banken-Streichkonzert von Brummbär.

Foto: Valery Kachaev/depositphotos.com

Brummbär liebt Musik. Ihr Ruf war so stark, dass er sich dieses weite Feld sogar zum Beruf machte. Ab und zu schreibt Brummbär auch über Musik – und nun zum ersten Male im Namen der Musik. Angesichts der dramatischen Aktualität und der turbulenten Umstände der staatlichen Bankenrettung drängt sich ein solcher Appell einfach auf.

Musik ist systemrelevant und much-too-big-to-fail. Um «Risiko-Materialisierungen» (O-Ton von Credit-Suisse-Verwaltungsratspräsident Axel Lehmann, der das ehrliche Wort «Verlust» nie in den Mund nahm) und nachhaltigen Erschütterungen der globalen Musikbörse vorzubeugen, fordert Brummbär vom Bundesrat innert nützlicher Frist (also innerhalb von 3 Tagen) die gäbige Summe von 209 Milliarden Franken. Das Aktionariat von uns Musikerinnen und Musikern ist breit gestreut und damit demokratisch legitimiert, vom städtischen Sinfonieorchester und Jazz-Big Bands über regionale Kirchenchöre, Jodlerklubs und Blasmusiken bis zur schummrigen Agglo-Disco.

Als Musik-Manager sind wir innovativ, vielsaitig begabt und pflegen visionäre Projekte, ohne die Bodenhaftung zu verlieren. Verantwortung schieben wir nicht auf die lange BANK – wir haften ganz direkt mit unserem guten Ruf für die Qualität unserer Harmonien, Refrains und Strophen. Die KATA-STROPHEN überlassen wir den selbsternannten Masters of the Universe. Laut ihrer Selbstdeklaration halten sie sich ja für the best – und das hat halt seinen Preis.

Wenn die klammen CEOs der pekuniären Teppichetage immer wieder mal einen kleineren oder grösseren Schlamassel anrichten, dann gleich mit vollem Schleuderprogramm. Als Kollateralschaden fliegt ihnen (und uns) dann bedauerlicherweise gelegentlich eine ganze Bank um die Ohren, samt 167-jähriger Tradition und 10 000 Arbeitsplätzen. Die Zukunft des Finanzplatzes Schweiz? Global, cannibal, tribal, legal, halblegal, illegal – egal.

Die Boni der MUSIQUE SUISSE hingegen bestehen zwar auch aus Noten, aber nicht von der Nationalbank. Uns interessieren Weiterbildungskurse mehr als Aktienkurse. Unsere Lernkurven sind so steil, dass wir ausziehbare Tonleitern brauchen, um ganz hinaufklettern zu können. Aber auch in schwindelerregenden Tonhöhen schwindeln wir nicht. Wir sind tief verankert. Eine solide Basis bildet für uns den GRUND im doppelten Sinne: als Fundament und als raison d’être.

Dieser fundamentale Grundton erdet uns lässig, aber zuverlässig, auch in archaischen Naturjüüzli, exotischen Volksliedern, wilden Hip-Hop-Raps, bis in die komplexesten Harmonien und vertracktesten Rhythmen. Wir sind jederzeit am Puls der Zeit, taktvoll, dynamisch, diszipliniert, agogisch, pädagogisch, zielorientiert. Mit Timing sind bei uns nicht die Kauf- und Verkaufsströme in Mikrosekunden an der Börse gemeint, sondern das präzise Setzen, Atmenlassen und Phrasieren eines einzelnen Tons. Unsere Wall Street ist das beglückende Erlebnis eines gemeinsamen Grooves.

Wir bringen eine Melodie zum Klingen, streicheln sie, zupfen sie, blasen sie, tanzen sie, jodeln sie, hüpfen mit ihr über Stock und Stein, über Riffs und Ostinati, halten sie hellhörig am Leben, kitzeln sie an den richtigen Fermaten, lassen es dann auch mal gehörig fetzen und chillen in den Pausen. Wir schlagen kühne Bögen, steuern wohlgezielt dramaturgische Höhepunkte an, nähern uns in elegant-hermeneutischen Zirkeln konzentrisch dem Kern des Melos und lassen die Klänge dann auch zeitgerecht verklingen, sortenrein getrennt, ganz ohne Altlasten und toxische Hinterlassenschaften.

Unser Paradeplatz ist vor dem Dorfschulhaus oder im Pavillon am See, wo das Jugendorchester mit der Nachwuchs-Rockband und dem Schwyzerörgeli-Duo um die Wette spielt. Unsere Transferleistungen fliessen weder in «variable Anreizvergütungen», «aufgeschobene Barprämien» oder «Public Liquidity Backstops» und schon gar nicht in noch obszönere «Transformationsboni», sondern kommen schlicht der Allgemeinheit zugute: Alle hören, viele spielen sie.

Wir stellen Gegenwart her. Das sollte uns doch den Gegenwert von 209 000 Millionen Franken wert sein.

Oder hat Brummbär da am Ende etwas falsch verstanden an der denkwürdigen bundesrätlichen Pressekonferenz am 19. März 2023? Gewinne für alle, Verluste (pardon: «materialisierte Risiken») privat?

 

Brummbär

Unter dem Alias «Brummbär» schreibt der irisch-innerschweizerische Komponist und Musiker John Wolf Brennan Glossen und Kolumnen, die in verschiedenen Medien publiziert werden. www.brennan.ch

Die Wurzeln des Jazz anerkennen

Bei den 2. Swiss Jazz Days in Bern war die Dekolonialisierung im Jazz eines der zentralen Themen. Die zweitägige Veranstaltung stiess auf grosses Echo.

Diskussionsrunde am 4. März mit Apiyo Amolo, Reverend Scotty Williams, Afi Sika Kuzeawu und Barbara Balba Weber (v. l.). Foto: Jana Leu

Im Berner Progr, dem Veranstaltungsort der zweiten Ausgabe der Swiss Jazz Days, mussten am 4. März zusätzliche Stühle herangekarrt werden. «Ich hätte nicht gedacht, dass der Samstagnachmittag derart voll wird», bekannte Christoph Jenny, einer der beiden Initiatoren des zweitägigen Events. Das grosse Interesse dürfte nicht zuletzt dem brisanten Programmpunkt «Decolonization & Antirassismus in der Schweizer Jazz-Szene» geschuldet gewesen sein. Dessen Moderatorin, Apiyo Amolo, erzählte einleitend, dass sie einst hierzulande gedrängt wurde, sich von ihren Dreadlocks zu trennen, und dass sie zwar gerne jodelt, aber dazu bewusst keine Schweizer Tracht trägt. Wodurch sie ihre Zuneigung zum Land, in dem sie seit mittlerweile 23 Jahren zu Hause ist, zum Ausdruck bringt. «Ich betreibe kulturelle Wertschätzung und nicht etwa kulturelle Aneignung», unterstrich die Interkulturelle Mediatorin.

Geburtsort: New Orleans

Beim von Amolo geleiteten Panel blickte der aus Louisiana stammende Reverend Scotty Williams auf die Entstehungsgeschichte des Jazz zurück: «Die Sklaven hatten in New Orleans sonntags frei, trafen sich auf dem Congo Square und drückten ihre Gefühle mittels Musik aus.» Um diesen Sound zu benennen, sei in der Folge – zunächst durchaus abschätzig gemeint – der Begriff Jazz entstanden.

Die in Togo aufgewachsene und in Bern ausgebildete Musikerin Afi Sika Kuzeawu betonte, dass sich Jazz nicht ausschliesslich aus weisser Perspektive nachvollziehen lasse. «Während meinem Studium bekam ich öfters zu hören, dass ich Musik, die ich nicht lesen kann, auch nicht zu spielen imstande sei. Dabei fällt mir das leicht.» Um den Jazz auf pädagogischer und praktischer Ebene zu dekolonialisieren, sei es nötig, einen erleichterten Zugang zum hiesigen Bildungssystem zu ermöglichen, gab sie sich überzeugt. «Aufgrund fehlender Zertifikate dürfte Ella Fitzgerald in der Schweiz nicht Jazz unterrichten.» Aus Sorge vor dem Vorwurf der kulturellen Aneignung sollen dagegen einige Schweizer Musikschaffende befürchten, keinen Jazz mehr machen zu dürfen. Laut der Moderatorin eine unbegründete Angst: «Wer Jazz spielt, sollte allerdings anerkennen, wo die Wurzeln dieses Genres liegen.»

Brisante Themen, viel Publikum

Inzwischen sind die Swiss Jazz Days 2023 bereits wieder Geschichte. «Wir konnten einen Publikumszuwachs verzeichnen», bilanziert Co-Gründer Simon Petermann. Dass man heuer rund 170 Besucherinnen und Besucher begrüssen durfte, führt er unter anderem auf «gute Referierende und gute Themen» zurück. Nebst der Diskussion um Dekolonialiserung im Jazz sei die Frage der sozialen Sicherheit auf erhebliches Interesse gestossen. «Das beweist, dass wir zukünftig ein grosses Augenmerk auf die Themensetzung legen müssen.»

Für die zweite Durchführung der Swiss Jazz Days wurde die Last neu auf mehrere Schultern verteilt. «Aktuell umfasst unser Organisationsteam sieben Personen, was automatisch zu mehr Ideen führte», freut sich der Berner. Obschon sich der Anlass gegenüber 2022 kaum verändert habe, konstatiert er eine Entwicklung «nach innen». Allein durch Eintritte lasse sich der Event aber nicht finanzieren. «Erneut haben wir diverse Stiftungen um Unterstützung angefragt – doch das ist alles andere als einfach.» Auch das im letzten Jahr gesteckte Ziel, vermehrt Veranstalterinnen und Vertreter der Kulturförderung zu gewinnen, habe sich nur bedingt umsetzen lassen. «Da müssen wir fortan stärker investieren», erklärt Petermann. «Unser Vorhaben ist es nach wie vor, die Swiss Jazz Days drei Mal durchzuführen und danach weiterzusehen.» Zugleich beschäftige man sich bereits mit dem Gedanken, den Anlass dereinst in die Romandie zu bringen.«Die Swiss Jazz Days sollen aber nicht nur vernetzen, sondern auch auf den Wert von Kultur und Musik hinweisen.»

Bericht von Michael Gasser über die Swiss Jazz Days 2022

Archiv des Roothuus Gonten digital

Das Roothuus Gonten beherbergt Tausende Instrumental- und Jodelstücke, eine der bedeutendsten Sammlungen des volksmusikalischen Kulturerbes in der Schweiz. Dieser Schatz ist zunehmend digital zugänglich und lädt zu vielschichtigen Forschungsreisen ein.

Notenbüchlein des Notisten Josef Peterer. Foto: Carmen Wüest

Vor kurzem ist das Roothuus Gonten, das Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, reich beschenkt worden: Mit der Notensammlung des pensionierten Lehrers Erwin Sager aus Bühler gingen über 8000 Instrumental- und Jodelstücke ins Zentrum über. Mehr als 5300 davon wurden bereits erfasst. Für interessierte Volksmusikkreise sowie die breite Bevölkerung sind sie auf volksmusik.ch zugänglich. Diese Datenbank betreibt das Roothuus gemeinsam mit dem Altdorfer Haus der Volksmusik. Der Server des Roothuus Gonten beheimatet zusätzlich weitere 15 500 ergänzende Files. Konkret bedeutet dies, dass für ein einziges, auf volksmusik.ch gefundenes Werk im Gontner Archiv bis zu 30 Varianten zusätzlich entdeckt werden können!

Die ausführliche Medienmitteilung des Roothuus Gonten vom 8. März unterstreicht die Relevanz dieser Sammlung für die Schweiz und erläutert die Funktionsweise des digitalen Archivs.

Das 1763/65 erbaute Roothuus Gonten (Rotes Haus) wurde 2007 renoviert und die wiederentdeckte barocke Malerei restauriert. Es erstrahlt heute im alten Glanz und bietet zeitgemässe Archiv- und Arbeitsräume sowie stimmungsvolle Räumlichkeiten für Anlässe. Foto: Roothuus Gonten

Ausserordentliche Dichte

Im Roothuus Gonten stehen historische Sammlungen von Josef Peterer «Gehrseff», Carl Emil Fürstenauer, Heinrich Brenner oder Johann Manser und anderen neben Konvoluten von zeitgenössischen Notisten. Vergangenheit und Gegenwart treten in einen kreativen Dialog; ständig kommen neue Notate hinzu und werden wiederum kontextualisiert. In der Sammlung Sager taucht ein Teil der historischen Quellen ebenfalls wieder auf. Zwischen Sammeln, Erforschen und Katalogisieren entsteht so ein dichtes Netzwerk, ein Archiv des Klangs. Damit gehört diese Sammlung nicht nur zu den reichsten Depots an volksmusikalischem Kulturerbe rund um den Alpstein, sondern gilt schweizweit als Referenzarchiv für die Musik einer mehr oder weniger klar umgrenzten Region.

Erwin Sager

Der Volksmusikant Erwin Sager ist als leidenschaftlicher Sammler ausgestattet mit jener Appenzeller Mischung zwischen Passion, Inspiration und Praxis. 1946 geboren, führte ihn die Beschäftigung mit Appenzellermusik an der Geige, Bratsche, am Cello oder Bass konzertierend um die halbe Welt. Daneben komponierte und dokumentierte er fleissig und baute über Jahrzehnte einen grossen Fundus an Originalen, Varianten und Neufassungen von Appenzeller und Toggenburger Volksmusik auf. Davon darf nun die Öffentlichkeit weit über die regionalen Grenzen hinaus profitieren.

Günstige Quellenlage

Die Notensammlung des Roothuus zeichnet sich aber nicht nur durch eine beeindruckende Quantität von Notentexten aus. Aufgrund der professionellen Sichtung und Katalogisierung des Materials durch die Mitarbeitenden im Zentrum selbst bietet sie vielmehr auch eine neue Forschungsperspektive an. Im Gegensatz zu anderen Regionen mit vor allem mündlicher Überlieferung waren die Appenzeller immer sehr dokumentierfreudig und schrieben ihre Melodien nieder. «Mit dem neuen System können wir einerseits die älteste erfasste Quelle eruieren, wir können sinnstiftend vernetzen und die Sammlung digital oder analog ergänzen. Dies alles auch dank der Notenmaterialien, die physisch im Roothuus eingesehen werden können», meint die Geschäftsführerin Barbara Betschart, selbst professionelle Violinistin mit langjähriger Erfahrung im Schnittfeld zwischen Praxis und Forschung.

Das Spiel mit Identitäten

Über das Zauberwort *NSR* (Notensammlung Roothuus) betreten Interessierte in der Volltextsuche auf volksmusik.ch eine Art vierdimensionalen Raum der Erinnerung. Der Zugang zu den digitalen Daten ist bewusst benutzerfreundlich gestaltet (siehe Kurzanleitung am Ende dieses Textes). Hin und wieder verlangt die Erkundung der Notensammlung aber auch eine eigene Form der investigativen Kunstfertigkeit. Sie ist dem fantasievollen Koordinieren von Bewegungen und dem Hinhorchen beim Musizieren ganz ähnlich: Oftmals sind Kombinieren, künstlerische Verknüpfungen und historische Referenzen wichtig für die Benutzung der Datenbank.

«Nicht alle Kompositionen sind in ihrer Identität eindeutig einzuordnen. Manchmal bildeten die ursprünglichen Melodien quasi nur den Rahmen für zahlreiche Varianten, manchmal wurden sie erweitert, mit einer zweiten Stimme ergänzt oder sie verschwanden scheinbar hinter einer neueren, kräftigeren Version», erläutert Betschart. Dieser Vielfalt an Bezügen und Einflüssen in der Entwicklung eines Werks trägt die Sammlung mit unzähligen Angaben Rechnung. Dazu gehören etwa Notenblätter in PDF/XML-Formaten oder Audio-Dateien und Informationen zu spezifischen Aufführungsdaten und – orten. Nebst den Zuordnungen zu den verschiedenen Tanzformen (zum Beispiel «1.» für Marsch, «2.» für Mazurka oder «3.» für Polka usw.), die als erste Ziffer im NSR-Katalog auftauchen, findet man zahlreiche Zusatzinformationen zur Herkunft, zum Notisten mitsamt dessen Spitznamen, gelegentlich zum Nachlass und – besonders spannend – zum Melodiecode, der im Umkehrfall eine Komposition finden und zuordnen lässt.

Abfrage mit dem Zauberwort *NSR*. Screenshot: SMZ

Klingende Codes

*durrdurruuuuddddududur* – was wie eine archaische Geheimsprache anmutet, ist ein Entschlüsselungscode mit einem simplen Melodierezept nach der internationalen Parsons-Methode: «u» bedeutet ein aufsteigendes Intervall, «d» ein absteigendes, ein «r» symbolisiert die Repetition derselben Note. Dank der Buchstabenfolge kann die ungefähre musikalische Linie nachvollzogen werden. Im oben erwähnten Beispiel handelt es sich – dies ergibt die Eingabe des Codes in der Suchfunktion – um das Notenblatt NSR.30069, die Polka Im Rössli, z’Hondwil, komponiert sehr wahrscheinlich von Jakob Anton Knill, Spitzname «Fleck» (1821–1892), der aber selber keine Musikstücke notierte. Die Niederschrift stammt vermutlich von Josef Anton Inauen «Badistesebedoni» (1821–1994), einem Musikkollegen von Knill im Streichquartett Appenzell. Auch zur Entstehung des Titels erfährt man Interessantes: Er kam erst 1929 dazu, als das Stück von der Urnäscher Streichmusik auf Schellackplatte aufgenommen wurde.

 

Beispiel: NSR. 30069

Die Entdeckungstour geht weiter: Für den dritten Teil von Im Rössli, z’Hondwil entdeckt man in der Sammlung des Roothuus Gonten mehrere Varianten aus über 250 Jahren. Drei davon geben Einblick in die Variabilität, in Fragen des Stils und der historischen Melodiegestaltung. Bei der Version von «Badistesebedoni» handelt es sich dabei vermutlich um die älteste Quelle. Alle drei Varianten werden immer noch gespielt.

Josef Anton Inauen «Badistesebedoni», 1821–1894

 

 

Dr. Heinrich Brenner, 1898–1961

 

 

Carl Emil Fürstenauer, 1891–1975

 

Zukunftsmusik

Aktuell gibt es mehrere Herausforderungen: Einerseits sind Katalogisierungs-Lösungen für die zahlreichen Naturjodel der Sager-Sammlung gefragt, die sich aufgrund ihrer Kleinteiligkeit als besonders anspruchsvoll in der Erfassung erwiesen haben. Andererseits arbeitet das Zentrum als Non Profit-Organisation folgender Stifter: Kanton Appenzell Innerrhoden, Kanton Appenzell Ausserrhoden, Kanton St.Gallen, Bezirk Gonten sowie Appenzellische Gemeinnützige Gesellschaft. Zudem fördern diverse private Unterstützer das Roothuus. Steigende Usergebühren, der teure Speicherplatz, zusätzliche Arbeitskontingente und der hohe Qualitätsanspruch u.a. im Forschungskontext fordern zusätzliche Ressourcen, auch finanzielle, viel Idealismus, Energie und Durchhaltewillen.

«Das Projekt wird sich noch über geraume Zeit weiterziehen und bei der Quellenlage ist ein Ende auch gar nicht absehbar. Das ist beflügelnd, bleibt aber eine Challenge», erläutert Barbara Betschart. Sie möchte das Publikum nach Gonten locken und mit ihm gemeinsam die faszinierende versunkene und trotzdem heutige Klangwelt der Appenzeller und Toggenburger Volksmusik erforschen. «Ähnlich wie z.B. beim Paul-Sacher-Archiv in Basel geht es auch bei unserer Sammlung darum, Sorge zu tragen zum kulturellen Musikerbe eines bestimmten Stils. Der historische und praxiszentrierte Zugriff hilft uns, kompositorische oder spieltechnische Prozesse nachzuvollziehen.» Unnötig zu sagen, dass diese einzigartige Sammlung auch ein Abbild der sozialen Lebenswirklichkeit rund um den Alpstein vermittelt, als Hörreise in die Natur der Klänge und zu den Menschen, die sie erdacht und erspielt haben.

Praktische Informationen

Das Roothuus Gonten ist ein Zentrum der Archivierung, Forschung und Vermittlung der Appenzeller und Toggenburger Volksmusik. Es sammelt und bewahrt Zeugnisse dieser traditionsreichen Musikrichtung und begleitet sie mit wissenschaftlichen Arbeiten, geselligen musikalischen Veranstaltungen und neuartigen Projekten in die Zukunft.

Nebst der wissenschaftlichen Aufarbeitung des reichhaltigen Notenmaterials sowie der Ton-, Bild und Textdokumente weist das Roothuus Gonten eine bedeutende Sammlung an historischen (Volksmusik-)Instrumenten vor.

Besitzen Sie eine private Sammlung, einen Nachlass oder ein persönliches Archiv mit Volksmusik rund um den Alpstein? Wir unterstützen Sie gern bei der Archivierung, Katalogisierung und Digitalisierung.

Kontakt für Impulse, Beratung und Ideen:
Roothuus Gonten
Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik
Dorfstrasse 36, 9108 Gonten
071/794 13 30

info@roothuus-gonten.ch

www.roothuus-gonten.ch

 

Ab ins Netz

Kurzanleitung für den Internet-Zugriff auf die Sammlung:

  1. Wählen Sie die Webseite www.volksmusik.ch
  2. Wählen Sie «Sammlungsdatenbank», Wählen Sie im Titelbalken: «Suche Sammlung»
  3. Geben Sie in «Volltext-Suche» den Titel des Stückes ein. Versuchen Sie bei Mundart-Titeln allenfalls verschiedene Schreibweisen: Appenzell, Appezell oder Appezöll; Hundwil oder Hondwil; Emils oder Emil’s etc.
  4. Falls Titel unbekannt: Codieren Sie einige Takte der Melodie wie oben beschrieben (u für up, d für down, r für repeat). Geben Sie diesen Code zwischen zwei Sternchen (*) in das Suchfeld ein.

 

Die Klassik in der Mediamorphose

Bei der Berliner Avant Première wurden über 500 neue Musikfilme präsentiert.

Einige Anarchisten aus dem Dokumentarfilm «Addio Lugano Bella». Foto: RSI

«Listen with your Eyes» lautet das Werbemotto von EuroArts, der internationalen Produktionsfirma für Musikfilme mit Sitz in Berlin. Und der Satz «Das Auge hört mit» ist seit gut einem Jahrzehnt zum geflügelten Wort geworden, wenn es um die Verbindung von Klassik mit bewegten Bildern geht. Was im Popbereich schon lange alltäglich ist, gilt nun auch für die sogenannte Kunstmusik: Videoaufzeichnungen setzen sich durch.

Bei der Avant Première, einer Fachmesse, die immer im Februar in Berlin unter der Regie des internationalen Musik- und Medienzentrums Wien stattfindet, wurden nun über 500 neue Musikfilme aus 38 Ländern präsentiert. Eine kleine Auswahl ist jeweils in voller Länge zu sehen, und in den stundenlangen Screening Sessions kann jede Produktions- oder Vertriebsfirma und jede Fernsehanstalt eine Viertelstunde lang Ausschnitte aus ihren Highlights vorführen. Anschliessend finden draussen in der Lobby gleich die Absprachen statt: Wer kauft was von wem und zu welchen Bedingungen. Gehandelt werden nicht nur Konzert- und Opernaufzeichnungen, ein solider Grundstock des Musikfilmbusiness, sondern auch Jazzfilme, Künstlerporträts, anspruchsvolle Dokumentationen und erstaunlich viele Tanzfilme.

Tanz

Tanz ist bekanntlich die einzige Gattung der «performing arts», die medial ausschliesslich im Film dargestellt werden kann. Das Spektrum reichte diesmal vom obligaten Nussknacker bis zum anspruchsvollen Experiment: eine Koppelung der sechs von Jean-Guihen Queyras gespielten Cellosuiten von Bach mit einer Choreografie von Anna Teresa De Keersmaeker. Die Szenerie und die sechs Tänzer sind ganz in Schwarz gehalten und der Cellist sitzt mittendrin. Der unendliche Variantenreichtum von Bachs Musik geht eine faszinierende Verbindung ein mit den Bewegungen der Körper im Raum, die Kamerabewegungen bilden in diesem Kontrapunkt eine zusätzliche Stimme. Produziert hat das filmische Kunstwerk unter dem Titel Mitten wir im Leben sind die Leipziger Firma Accentus zusammen mit NHK Tokio, dem SWR und ARTE. Budget: «over 250.000».

Tessin

Vom Schweizer Fernsehen waren diesmal nur die Tessiner vertreten, wie immer mit attraktiven Projekten. Dazu gehörten eine Dokumentation über Sergej Rachmaninow in der Schweiz und seine Villa Senar am Vierwaldstättersee sowie Addio Lugano Bella, eine faszinierende Spurensuche nach den italienischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts, die im Tessin Unterschlupf fanden. Es waren keine durchgeknallten Terroristen, sondern eingeschworene Einzelgänger und Outcasts, die auf vergilbten Fotos zu sehen sind. Tessiner Liedermacher singen dazu die nostalgischen Lieder von damals.

Trends

An Aktualität mangelte es nicht. In auffällig vielen Konzertaufzeichnungen wurde auf irgendeine Art, sei es auch nur mit einer blaugelben Fahne im Hintergrund, Solidarität mit der Ukraine geübt. «Black Music» ist im Musikfilm offensichtlich kein Aufreger; in Jazz, Pop und Ethno ist sie Alltag, und in den Sinfonieorchestern von Tokio bis Mexiko sind «Nichtweisse» ohnehin die Mehrheit. Das Phänomen «dirigierende Frau» ist aber nach wie vor ein Thema – mit zweischneidiger Wirkung. In der Euphorie, endlich anerkannt zu sein, lassen sich manche jungen Dirigentinnen zu unvorteilhaften Aussagen verleiten. Das klingt dann, als sei ihnen der Aspekt der Selbstverwirklichung wichtiger als der Dienst am Werk. Joana Mallwitz erklärt etwa, sie dirigiere, um sich selbst besser kennenzulernen, und Alondra de la Parra liebt es blumig: «Wenn ich am Dirigentenpult stehe, dann bin ich eine Frau, ich bin auch gleichzeitig ein Mann, ich bin ein Kind, ich bin ein Sonnenuntergang.»

Auf der Webseite medici.tv, dem weltweit grössten Streamingportal für Klassikfilme mit über 3500 Produktionen im Angebot, wird die Legende vom Sonderfall Dirigentin entzaubert. Hier können 46 «Grandes cheffes d’orchestre» mit ihren Aufnahmen abgerufen werden, von der erfahrenen Marin Alsop bis zur jungen Newcomerin Glass Marcano aus Venezuela. Die angeblich immer noch benachteiligte Minderheit ist im globalen Musikgeschäft längst angekommen.

Distribution

Die Verbreitungswege des Klassikfilms verlagern sich zunehmend in die zahlreichen Digitalkanäle, wo man nach dem Netflix-Prinzip für zehn Franken pro Monat ein riesiges Streamingangebot vorfindet; die physischen Produkte DVD und Blu-ray werden nach Auskunft führender Branchenvertreter nur noch als Liebhaberobjekt überleben. Die Liveaufführung in Konzertsaal und Oper hat zwar manche Vorteile gegenüber der medialen Wiedergabe, aber die «Mediamorphose» der Musik, wie der Musiksoziologe Kurt Blaukopf das einst genannt hat, ist nicht aufzuhalten. Und sie ist der entscheidende Motor des gegenwärtigen Kulturwechsels, der neuen Publikumsschichten einen Zugang zur Klassik ermöglicht und übrigens auch der Musikpädagogik neue Perspektiven eröffnet. Ein Demokratisierungseffekt, den man aus Sicht der Insider nicht kleinreden sollte. Die Berliner Avant Première bietet in dieser Hinsicht vorzügliches Anschauungsmaterial.

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Max Nyffelers Bericht über Avant Première 2019

Hervorragend interpretierte Werke an der Basel Composition Competition

Die vierte Ausgabe der Basel Composition Competition rückte bisher unbekannte Komponistinnen und Komponisten unterschiedlicher Generationen in den Fokus. Der Brasilianer Leonardo Silva gewann den mit 60 000 Franken dotierten 1. Preis.

Die Komponistinnen und Komponisten der 12 an der Basel Composition Competition aufgeführten Werke, mit Christoph Müller, Organisator und Gründer des Wettbewerbs. Foto: Julia Mäder/BCC

 

In diesem Jahr konnte die Basel Composition Competition (BCC) vom 9. bis 12. Februar unter ganz normalen Bedingungen stattfinden, was wohl von allen Beteiligten sehr geschätzt wurde. Im Gegensatz zum Kompositionswettbewerb am Genfer Concours vor einigen Monaten, wo nur gerade drei ausgewählte Werke im Finale erklangen, wurden in Basel immerhin zwölf Kompositionen für Sinfonie- bzw. Kammerorchester aufgeführt. Im Musik- und Kulturzentrum Don Bosco spielten die Basel Sinfonietta, das Sinfonieorchester Basel und das Kammerorchester Basel an drei Abenden unter der Leitung von Jessica Cottis, Clemens Heil und Sylvain Cambreling je vier Werke.

Um es gleich vorwegzunehmen: Alle drei Klangkörper waren sehr gut vorbereitet und motiviert, was jeder Komposition eine adäquate Aufführung garantierte. Selbst technisch anspruchsvollste Aufgaben wurden beeindruckend gemeistert.

Stilistische Breite, geografische Lücken

Bei der BCC gibt es keinerlei Beschränkungen, was Alter oder Nationalität der Teilnehmenden betrifft. Die Jury bestand dieses Jahr aus den Komponisten Michael Jarrell (Vorsitz), Toshio Hosokawa (dessen neues Violinkonzert am 2. März 2023 von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt wurde), Luca Francesconi, Andrea Scartazzini und dem Direktor der Paul-Sacher-Stiftung, Florian Besthorn. Isabel Mundry war zwar an der Auswahl im Oktober beteiligt gewesen, musste aber wie Rebecca Saunders krankheitshalber ihre Teilnahme absagen.

Ohne die Herkunftsländer der Komponistinnen und Komponisten aller eingesandten Werke zu kennen, bleibt die Tatsache erstaunlich, dass unter den gespielten Stücken keines aus Nordamerika oder Osteuropa stammte, die Mehrzahl hingegen aus Ostasien. Stilistisch waren sie dennoch recht unterschiedlich, ihre Titel oft rätselhaft (Metempsychosis, e-e IV, Opus reticulatum, Incognita_C) und einige ziemlich uninteressant. Einmal mehr stellte sich heraus, dass ein komplexes Notenbild mit extremer Auffächerung der Stimmen keine Garantie für einen besonderen Klang ist, ebenso wenig wie die in den Werkerläuterungen erwähnten persönlichen Schicksalsschläge oder die Bezugnahme auf bekannte bildende Künstler oder Dichter, von deren Glanz etwas auf das jeweilige Stück abstrahlen soll.

Erstaunliche Rangliste

Die Werke für das Abschlusskonzert auszuwählen, dürfte etwas einfacher gewesen sein, als die Schlussrangliste festzulegen. Erfreulich war, dass man – obwohl vielleicht kein Meisterwerk darunter war – jedes der fünf im Finale am 12. Februar gespielten Werke gerne ein zweites Mal gehört hat.

Einen dritten Preis (je 7500 Franken) erhielt die Japanerin Nana Kamiyama (*1986) für Umbilical Cord für Kammerorchester, ein vom Klang japanischer Instrumente beeinflusstes Werk, das auf attraktive Weise Geräuschhaftes und definierte Tonhöhen verbindet. Auch chameleon des Südkoreaners Jinseok Choi (*1982) erhielt einen dritten Preis. Diese von traditioneller koreanischer Musik inspirierte virtuose und kraftvolle Komposition basiert auf mehreren unabhängigen musikalischen Zellen. Diese sind kontrastierend angeordnet und erzeugen sich überlappend laufende Veränderungen von Klang und Farben.

Den zweiten Preis in der Höhe von 25 000 Franken gewann der 1981 geborene Japaner Masato Kimura für –minusIX für fünf Streichquartette und Ensemble. Dieses interessant besetzte Werk ist Teil einer Serie, die der Komponist als «negativen akustischen Raum» bezeichnet. Sein Klang wird auf der Grundlage negativer Aspekte von Phänomenen wie Instabilität, Stille, Zweideutigkeit und Langsamkeit erzeugt. Daraus abgeleitet – nicht ganz leicht zu verstehen – entsteht ein für das Werk charakteristischer «Klangnebel».

Den Hauptpreis, gestiftet von der Isaac-Dreyfus-Bernheim-Stiftung, erhielt der in Berlin lebende brasilianische Komponist Leonardo Silva (*1989) für sein Stück Lume (musica d’immenso I). Es ist von einem kurzen Gedicht des italienischen Lyrikers Giuseppe Ungaretti inspiriert. Sicher kein schlechtes Werk, das sich aber in keiner Weise von den anderen Kompositionen abhob. Eher könnte man sagen, dass man seiner Klangwelt schon in vielen anderen Stücken der klassischen Avantgarde wie etwa jenen von György Ligeti begegnet ist. Dass auch Werke von Wagner, Strawinsky oder Boulez wie sein eigenes mit einem Es beginnen, hätte der Komponist wohl besser für sich behalten.

Von den Werken, die keinen Preis erhielten, waren Gou Chen IV der 22-jährigen Chinesin Jin-Han Xiao und Jenseits des Engländers John Weeks (*1949) am bemerkenswertesten. Das sehr schwer zu spielende Stück der jungen Chinesin, das auch elektronische Effekte imitiert, ist eine unglaubliche Klangeruption und liess die meisten anderen Werke blass aussehen. Jenseits für Kammerorchester von Weeks, aus einer völlig anderen Welt stammend, war eine der wenigen Kompositionen, die der Instrumentation einen ganz wichtigen Stellenwert beimassen. Altflöten, Englischhörner (mit einem von Matthias Arter wunderbar geblasenen Solo), Bassklarinetten und Kontrafagotte verliehen dem Werk eine aussergewöhnliche Aura.

Verankerung in der Stadt

Eine Besonderheit des BCC ist bestimmt, dass die Organisatoren grossen Wert darauf legen, den Wettbewerb in der Stadt zu verankern. So arbeiteten zum Beispiel mehrere Komponistinnen und Komponisten mit Schulklassen zusammen, erzählten aus ihrem Leben und erklärten ihre Werke und Kompositionsmethoden. In zwei Vorkonzerten erklangen ausserdem Kammermusikwerke der Jurymitglieder Toshio Hosokawa und Rebecca Saunders. Die von Marcus Weiss einstudierten Ensembles der Hochschule für Musik brillierten mit hervorragenden Interpretationen ausgesprochen interessanter Werke.

Im Februar/März 2025 findet die fünfte Ausgabe der Basel Composition Competition statt.

 

 

Martin Frutiger neuer Hauptfachdozent Oboe an der ZHdK

Die Zürcher Hochschule der Künste freut sich, ab Herbstsemester 2023 Martin Frutiger als Hauptfachdozenten Oboe zu begrüssen.

Martin Frutiger. Foto: Karin Aebersold

Martin Frutiger gehört als Solist, Orchestermusiker und Hochschuldozent zu den erfolgreichsten Oboisten der Gegenwart. Neben seiner Dozentur an der Hochschule Luzern HSLU unterrichtete er 2004 bis 2020 das Variantfach Englischhorn an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er ist Mitglied verschiedener Kammermusik- und Orchesterformationen (Lucerne Festival Orchestra, Bayreuther Festspielorchester u.a.) und seit 2004 Oboist und Solo-Englischhornist im Tonhalle-Orchester Zürich. Darüber hinaus engagiert er sich in diversen Funktionen in der Nachwuchsförderung innerhalb der erweiterten pädagogischen Landschaft.

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