Zweckentfremdetes Notenmaterial entdeckt

In einem Menzinger Haus aus dem frühen 16. Jahrhundert ist bei der Freilegung einer Wand Notenmaterial zum Vorschein gekommen.

Die mit Notenblättern grundierte Wand in Menzingen. Foto: privat

Die Notenblätter stammen meist aus dem 18. Jahrhundert. Den bisherigen Recherchen nach handelt es sich beim Fund um ein spezifisch schweizerisches Repertoire, wobei auch Interesse an internationaler Musik zu erkennen ist.

Veraltetes Notenmaterial wurde häufig für Bindungen oder Seitenverstärkungen von Handschriften wiederverwendet, wodurch die darauf notierte Musik für die Nachwelt erhalten geblieben ist.

Etwas ungewöhnlicher war aber das Vorgehen von Handwerkern aus Menzingen (Kanton Zug): Sie haben als Grundierung einer Verkleidung eine ganze Wand mit Notenblättern «tapeziert», welche im Zuge von Renovierungsarbeiten nun wieder zum Vorschein gekommen sind. Hier ist also die Musik im wahrsten Sinne des Wortes eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Die zwischenzeitlich losgelösten und aufgearbeiteten Handschriften werden anlässlich der Scientifica 2023 zum Thema Was die Welt zusammenhält am 2. September um 14.00 Uhr in Zürich gezeigt und erklärt. Studierende der Musikwissenschaft werden auch die darauf notierte Musik zum Klingen bringen.

https://scientifica.ch/

Der «Reger-Klarinettist» Hermann Wiebel

Bevor er als Nachfolger des «Brahms-Klarinettisten» Richard Mühlfeld in der Meininger Hofkapelle wirkte, war Hermann Wiebel einige Jahre Soloklarinettist des Zürcher Tonhalle-Orchesters.

Das Tonhalle-Orchester mit (links) Friedrich Hegar. Dritte Reihe, 2. v. rechts: Hermann Wiebel. (Ausschnitt eines Fotos von 1906, Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Camille Ruf)

In der Ausgabe 7_8/2023 erschien eine Kurzversion des Aufsatzes Der «Reger-Klarinettist» Hermann Wiebel von Harald Strebel (Seite 30 f.).

Die ausführlich 20-seitige PDF-Version kann hier heruntergeladen werden. Dieses PDF-Dokument wurde von der Redaktion der Schweizer Musikzeitung nicht redigiert und erscheint in der Originalfassung des Klarinettisten und freischaffenden Musikwissenschaftlers Harald Strebel.

Der «Reger-Klarinettist» Hermann Wiebel – Download

 

Ein Film über das französische Orchester Divertimento

Zahia Ziouani hat Divertimento 1998 gegründet. Der gleichnamige Film startet Ende Juni in der Deutschschweiz.

Filmstill aus «Divertimento»

Als junge enthusiastische Musikerin hat Zahia Ziouani das Orchester Divertimento in der Pariser Agglomeration gegründet. «Ich wollte ein musikalisches Projekt realisieren, das mir ähnelt, einer jungen Frau namens Zahia aus Stains», sagte sie kürzlich in einem Interview. Als Dirigentin wolle sie zeigen, dass klassische Musik nicht in der Vergangenheit feststeckt, sondern offen ist für alles und alle in der Welt.

Ziouani lernte als Siebzehnjährige während eines Jahres von Sergiu Celibidache. Nach seinem Tod verfolgte sie ihren Weg als Dirigentin  konsequent weiter.

Die Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar liess sich vom wahren Leben Ziouanis zum Film Divertimento – ein Orchester für alle inspirieren. Er zeigt, wie Zahia und ihre Zwillingsschwester, die Cellistin Fettouma, seit frühester Kindheit von klassischer Musik begeistert sind und wie sich Zahia Mitte der 90er-Jahre als Frau mit algerischen Wurzeln und aus einem unterprivilegierten Pariser Vorort stammend ihren Weg als Dirigentin hart erkämpfen muss.

In der Westschweiz läuft Divertimento bereits seit Ende Januar. In der Deutschschweiz startet der Film am 29. Juni.

Infos und Trailer

Lola Blau im Grünen

Satire, Ironie und tiefere Bedeutung verpackt in eine schmissige Show: zu erleben weit hinten im Emmental.

Foto: Simon Schwab

Im wunderschönen Tannenwald auf der Moosegg vermutet man eher Rotkäppchen als Georg Kreisler. Dass man Letzteren zum Zuge kommen liess, war sicher die richtige Entscheidung. Vor vier Jahren stiess Simon Burkhalter, der künstlerische Leiter der Freilichtspiele Moosegg, auf die Songs aus Kreislers Heute Abend: Lola Blau und beschloss, dieses Musical auf der Moosegg aufzuführen. Da er selbst die Titelrolle spielen wollte, machte er aus der Hauptfigur, einer jungen jüdischen Schauspielerin, eine Drag. Das Verlagshaus stand dieser Idee jedoch ablehnend gegenüber. Erst nachdem die Rechte an einen anderen Verlag übergegangen waren, erhielt Burkhalter grünes Licht.

Als der Gesangsstudent Burkhalter im Jahr 2017 seinen Job auf der Moosegg antrat, war er zarte 23 Jahren alt. Er hatte zuvor während drei Jahren die Theatertruppe Gymnasium Kirchenfeld geleitet. Burkhalter stammt aus dem Emmental: «Da unten am Berg bin ich aufgewachsen und meine Grossmutter lebt gleich nebenan. Ich habe hier oben als Kind viel gespielt.»

Gleich neben dem Hotel liegt die kleine, zauberhafte Freilichtbühne. Hier wird seit 25 Jahren Volkstheater mit Laien gespielt. Der junge Leiter verlieh der beschaulichen Bühne neuen Schwung. Er passte das Konzept an und bringt seither, zusätzlich zum Volkstheater, jedes Jahr eine Musiktheaterproduktion (hauptsächlich Operetten und Musicals) heraus. Die Regie besorgte er selber, oft auch das Bühnenbild. Zunehmend übernimmt er auch Gesangs- und Schauspielrollen. Viele der Stücke hat er bearbeitet und teilweise selbst geschrieben. Im vergangenen Jahr war dies Michelis Brautschau (Komödie nach Gotthelf) und in diesem Jahr wird Geld und Geist von Gotthelf, adaptiert von Franz Schnyders Film aufgeführt (Premiere 7. Juli 2023).

«Die wollen nur spielen»

Die Dörfer unten im Tal glänzen im Abendlicht. Vor den mächtigen Tannen steht ein hölzernes Bühnenbild mit verschiedenen Ebenen und Podesten, welche die wechselnden Zeiträume und Spielorte des Stücks veranschaulichen. Sie werden in rascher Abfolge bespielt. An einer Fahnenstange werden die Flaggen jener Länder gehisst, die Lola Blau auf ihrer Flucht gezwungenermassen aufsucht. Ihr erstes Engagement 1938 am Landestheater Linz scheitert am Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland. Die Wirtin der Wiener Pension Aida (köstlich: Stefanie Verkerk) überbringt ihr die niederschmetternde Nachricht und Lola flieht umgehend in die Schweiz. Im Cabaret Fondue in Basel und im Cabaret Voltaire in Zürich tritt sie mit überschaubarem Erfolg auf. Da ihr Aufenthalt in der Schweiz «keinem Bedürfnis» entspreche, wird sie von der Fremdenpolizei ausgewiesen. In Amerika ist sie willkommen und wird berühmt.

Ähnlich wie Lola Blau erging es in der Nazizeit vielen jüdischen Künstlerinnen und Künstlern. Kreisler selbst kann als Alter Ego seiner Protagonistin gelten, gibt es doch sowohl beim Zeitpunkt der Flucht als auch bei den Zufluchtsorten Übereinstimmungen. Auch er wollte – wie Lola – nur spielen und die Leute unterhalten, musste aber erkennen, dass dies in einer existenziellen Ausnahmesituation nicht reicht: «Die Schauspieler, die warten in den Dielen. Die wollen nicht etwas tun, die wollen nur spielen», reimt er im Song Im Theater ist nichts los. Am Anfang singt Lola noch begeistert «Im Theater da ist was los», am Schluss distanziert sie sich vom entmenschlichten, oberflächlichen Theaterbetrieb: Im Lied Zu leise für mich beklagt sie die fehlende Wirkung des Unterhaltungskünstlers: «So sitz ich nach wie vor hier fest und singe Lieder und bleibe wirkungslos vom eignen Klang berauscht.»

Leichtfüssig und tiefsinnig

Martin Schurr inszeniert kurzweilig und leichtfüssig. Er gibt dem Abend einen durchgehenden Puls mit revueartigen Szenen aber auch nachdenklichen Momenten. Eine Tänzerin und ein Tänzer sowie ein tanzender Chor sorgen für schmissige Showeinlagen. Hochmusikalisch und stilsicher leitet und begleitet Bruno Leuschner vom Klavier aus.

Foto: Simon Schwab

Zu den Höhepunkten der Inszenierung gehören etwa die witzige Juden-Szene auf dem Schiff nach Amerika (Sie ist ein herrliches Weib) und die rasante Tanznummer mit Stefanie Verkerk zu Cole Porters Too darn hot. Der Regisseur schlüpft selbst in verschiedene Rollen.  Mit «Schmidt», dem immergleichen deutschen Spiesser, gelingt ihm ein wahres Kabinettstück.

Simon Burkhalter spielt die Titelrolle mit ihren zwanzig Liedern gewandt und beweglich, in charmantem Chanson-Stil und mit einer natürlichen Grandezza ohne aufgesetztes Drag-Gehabe. Sein elegantes Understatement bekommt den Kreisler-Texten gut: So können die sarkastischen, sich vor gedanklichen Hakenschlägen und virtuoser Wortakrobatik überschlagenden Texte für sich selber stehen und auf das Publikum wirken. Burkhalter überzeugt in den rasanten Nummern, doch auch in den ruhigen, bissigen Liedern wie z. B. Ich hab’ dich zu vergessen vergessen und Zu leise für mich hat er starke Momente.

Foto: Simon Schwab

 

Lola Blau wird auf der Moosegg noch bis am 28. Juni 2023 gespielt.

«Meilensteine» in Ernen

Das Musikdorf Ernen feiert dieses Jahr seine 50. Konzertsaison.

Der Kontrabassist Jordi Carrasco Hjelm in Ernen. Foto: Musikdorf Ernen

Es sind knapp 25 Jahre vergangen, seit das Musikdorf Ernen ohne seinen Gründer, den ungarischen Pianisten und phänomenalen Pädagogen György Sebök (1922–1999), weiter floriert. Seböks Meisterkurse ab 1974 und das Festival der Zukunft ab 1987 nehmen einen wichtigen Platz in seinem Lebenswerk ein und legten den Grundstein für das heutige Festival Musikdorf Ernen. Rund 25 Jahre später feiert dieses seine 50. Konzertsaison. Das Motto lautet: «Meilensteine». Es bezieht sich sowohl auf das Jahresprogramm mit seinen nationalen und internationalen Kunstschaffenden wie auch die aufgeführten Werke. Das Chiaroscuro Quartet etwa ist in sieben Konzerten mit Werken von Purcell bis Schubert zu hören, ebenso vielversprechende Nachwuchsensembles aus Basel wie das Spirea Quartett mit Musik von Rudolf Kelterborn oder das Trio Zeitgeist mit Bagatellen der diesjährigen Composer in Residence, Helena Winkelman, deren Geisterlieder uraufgeführt werden.

Übergabe bereits geplant

Gemäss Programmheft waren es sieben Meilensteine, die das Festival zur heutigen Blüte geführt haben: die durch den Verein geglückte Weiterführung des Musikdorfes, mutige Investitionen in Räumlichkeiten, Anschaffung eigener Instrumente, steigende Vereinsmitgliederzahlen, gemeisterte Krisen, wichtige Impulse von Persönlichkeiten wie Donna Leon oder Sir András Schiff und schliesslich die geregelte Nachfolge. Nach einer Übergangszeit wird Jonathan Inniger ab 2026 die künstlerische Gesamtleitung vom jetzigen Intendanten Francesco Walter übernehmen.

Die diesjährige Saison hat am 4. Juni begonnen und schliesst mit einem Silvesterkonzert am 30. Dezember.

Filigranes an den Lucerne Guitar Concerts

Die delikaten Tonwelten der analogen Konzertgitarre und ihrer kammermusikalischen Spielkameraden wurden vom 18. bis 21. Mai in Luzern gefeiert.

sixty1strings an den Lucerne Guitar Concerts im Neubad. Foto: Gregor Eisenhuth

Die Konzertgitarre scheint aus der Zeit gefallen. Im 20. Jahrhundert stand sie für Bewegungen wie die Folkmusik, für Geselligkeit am Lagerfeuer, intime Recitals im kleinen Kreis und Stile, die unter dem Label «Weltmusik» segelten: Flamenco, Bossa nova, Jazz manouche. Proteststürme, wie sie der spätere Nobelpreisträger Bob Dylan erleben musste, als er seine Folkgitarre elektrifizierte, sind heute unvorstellbar. Die aktuelle Musikproduktion digitalisiert sich mehr und mehr und findet immer stärker in künstlichen Welten statt, in denen das Musizieren zunehmend entkörperlicht wird.

Da mutiert die akustische Gitarre mittlerweile schon fast zum Symbol des Widerstands. In der Schweiz halten ihn Initiativen wie der Förderverein klassische Gitarre Zürich, die Tessiner Amici della chitarra oder der Luzerner Verein Fokus Gitarre hoch. Letzterer hat dort ab 2009 jeweils vier klassische Gitarrenkonzerte pro Jahr organisiert und diese in der Pandemiezeit zu einem jährlichen Festival gebündelt, in dem die Gitarre vermehrt auch in Verbindung mit Kammermusik gezeigt wird.

Dieses Jahr standen dabei ein Trio aus Gitarre, Harfe und Mandoline, ein Duo Klarinette-Gitarre, ein reines Gitarrenduo sowie ein Duo Geige-Lauten auf dem Programm – neben Solokonzerten, Workshops und einer offenen Bühne. Etwas Spezielles zur Nachwuchsförderung hat sich der Verein auch einfallen lassen: Die Konzerte im Luzerner Neubad wurden jeweils von Kurzauftritten Studierender eingeleitet. Das ist eine nachahmenswerte Idee.

Zupfen hoch drei

Es braucht in der Regel einen Moment, um die Ohren auf die delikaten Tonwelten der Konzertgitarre einzustellen. Wird man aber einmal hineingezogen in die filigranen Klänge, kann man Überraschungen erleben. Für eine Verwandte aus der Zupfmusik-Fraktion, die Mandoline, haben in den letzten Jahren der Brasilianer Hamilton de Holanda oder der Israeli Avi Avital die Ohren geöffnet. Das «typische Fraueninstrument» Harfe hat Xavier de Maistre ins Rampenlicht gestellt.

Das Trio sixty1strings zeigte in Luzern, dass «Mansplucking» entbehrlich ist, um diesen Instrumenten den zustehenden Respekt zukommen zu lassen. Anlass zur Gründung des Trios war die Beschäftigung mit einer der wenigen Originalkompositionen für die Besetzung: Hans Werner Henzes Carillon, Recitatif, Masque. Henze, der mit der Royal Winter Music zum Gitarrenrepertoire des 20. Jahrhunderts singulär beigetragen hat, ist bestens vertraut mit den Möglichkeiten des Instruments und zeigt auch hier eine glückliche Hand.

Die Gitarristin Negin Habibi, die Harfenistin Konstanze Kuss und die Mandolinistin Ekaterina Solovey haben unter anderem auch das Aquarium aus Saint-Saëns Karneval der Tiere für sich arrangiert, und lassen das hochpoetische Werklein in ganz neuem Licht erscheinen. Es dürfte schwer sein, nach diesem erstaunlichen Erlebnis die Originalversion zu hören, ohne sich dieser perfekt passenden filigranen Klänge zu erinnern.

Ein bisschen Folk-Geist

Etwas vom Geist der Folkbewegung schimmerte beim Duo Zarek Silberschmidt & George Ricci noch durch. Da war zuerst die Geschichte der Entdeckung des neuseeländischen Gitarristen durch die Festivalorganisatorin Elise Tricoteaux: Sie habe ihn in der Kantine der Basler Musikakademie spielen hören und sei begeistert gewesen von seiner Virtuosität und Kreativität. Tatsächlich beherrscht Silberschmidt eine Vielzahl an Stilen wie Jazz manouche, Flamenco, Blues, Country, Folk und bringt es fertig, ihnen seinen Stempel aufzudrücken, ohne sie in ihrer Authentizität zu verwässern. Darüber hinaus nutzt er sämtliche Elemente des Instruments für die verblüffendsten Perkussionseffekte. Ricci ergänzt ihn auf der Bassklarinette mit Johnny-Cash-Linien. Auf der B-Klarinette steuerte er unter anderem eine überaus sensible, atmosphärisch höchstklassige Version von Kosmas Feuilles mortes bei.

Duo Zarek Silberschmidt & George Ricci. Foto: Gregor Eisenhuth

Die  Lucerne Guitar Concerts werden organisiert von Elise Tricoteaux und Raoul Morat. 

Kurt Widmer – ein universal informierter Sänger

Der international gefeierte Schweizer Bariton und Gesangspädagoge Kurt Widmer ist im Alter von 83 Jahren in Basel gestorben.

Kurt Widmer. Foto: zVg

Seine Meisterkurse waren für Aktive wie Hörende Erlebnisse der besonderen Art. Im Gepäck führte er wie ein Zeichenlehrer Papierrollen und Farbstifte mit. Statt Passagen nachsingen zu lassen, gab er Hinweise auf Haltungen, Verspannungen, Standpunkte, korrigierte Fehlstellungen vom Scheitel bis zur Sohle. Die Balance von Stand- und Spielbein, die Gewichtsverlagerung wurden austariert, der Atem in Fluss gebracht; «cantare sul fiato» – auf den Atem singen – «stare su una barca ancorata» – auf einem verankerten Boot stehen. «Alle Gelenke laufen in kreisförmigen Bahnen» – Vorbild war der Vitruv-Mann von Leonardo da Vinci. Kreisend sollten die Studierenden den Ambitus ihrer Stimme nachzeichnen. Die Wirkung war frappant. Die Sänger brachten ihre Körperhaltung ins Lot, lehnten Wirbelsäule und Brustkorb an: «appoggiarsi alla testa – appoggiare in petto». Mit einem Lächeln der Erlösung war das anvisierte Ziel erreicht.

Das war des Meisters Kunst der Übertragung und der Auflösung von Ängsten und Blockaden. Die Beziehung zwischen Bewegung und Klang hat Widmer 2018 dokumentiert im grossformatigen Buch «Gesang ist innerer Bewegung Klang». Salvador Dalís brennende Giraffe, dieses apokalyptische Monster in Kleinformat, lieferte das surreale Umschlagbild zum kühnen Titel: Und niemand merkt, dass die Giraffe brennt (Cardamina-Verlag).

Von Machaut bis Kurtág

Auf dem Podium war Kurt Widmer ein begnadeter Sänger. 100 Werke hat er im Laufe eines halben Jahrhunderts zur Uraufführung gebracht. Von Guillaume de Machaut bis György Kurtág, der für den Bariton Hölderlin-Gesänge komponiert hatte, reichte das Repertoire, über sieben Jahrhunderte hinweg. Seine Diskografie verrät die stilistische Bandbreite: von J. S. Bachs Johannes-Passion bis Zemlinskys Dehmel-Lieder, dazwischen Charpentiers Magnificat, Grauns Tod Jesu, Schoecks Penthesilea, Schuberts Winterreise, Zelenkas Lamentationes Jeremiae Prophetae.

Ausser der romantischen Oper finden sich schier keine Lücken. Eine füllt nun seine Schwiegertochter Cecilia Bartoli, die zusammen mit Sohn Oliver Widmer die Leitung der Opéra de Monte-Carlo übernommen hat. Und wenn schon von der Familie die Rede ist: Die diamantene Hochzeit konnten Kurt Widmer und seine Gattin Ursula Widmer-Bösch noch feiern. Sie stand ihm lebenslänglich zur Seite, besorgte den Haushalt und fuhr ihn mit dem Auto an Auftritts- und Kursorte. Vier Kinder wurden dem Paar geboren: Eine Tochter ist Ärztin, eine in der Autobranche, die jüngste als Food Scout tätig; der Sohn war am Opernhaus Zürich engagiert.

Ein Allwissender

Widmers Haus im Basler Sankt-Johanns-Quartier war ein Treffpunkt der Gesellschaft und der Musik, wo man den Gesang auf Flügeln, historisch orientiert auf dem Hammerflügel begleiten liess. Mit dem Autor Hansjörg Schneider traf er sich jeweils am Brunnen vor dem Tore oder je nach Witterung im Rosenkranz ums Eck. Beisl-Einkehren wie zu Schuberts Zeiten.

Widmer war ein universal informierter Gelehrter. Er hatte über jedes Bildungsthema, jede Persönlichkeit viel und lange zu erzählen. Den Gesprächsfluss unterbrach er gerne mit dem knappen Hinweis: «Wie du ja weisst!»

Widmer war auch ein äusserst begabter, fantasievoller Kalligraf. Beim Betrachten der handschriftlich kunstvoll geschriebenen und illustrierten Erinnerungen an seine Familie kam man aus dem Staunen nicht hinaus. Jedes Zeichen ein Zoll Schönheit; jeder Buchstabe ein Bild; jedes Wort eine Einheit; jeder Brief eine kostbare Widmung. Kunst-Werke aus dem reichen Fundus der Fantasie und des zeichnerischen Könnens in Farbe und Form. Widmer war ein Barockmensch und ein Surrealist, der aus der Fülle von Vergangenheit und Gegenwart schöpfte. Er besass eine weit ausschweifende Begabung zur Ausdeutung von Worten wie zur Bebilderung von Musik.

Ein Beispiel aus Kurt Widmers Zeichnungen mit Kalligrafie. Bild: zVg

Eine Pilgerreise des Gesangs

Seine Verdienste, Auszeichnungen, seine Bedeutung im Schweizer Musikleben lassen sich nur summarisch aufzählen. Sein Weg ging von der Tonhalle seiner Geburtsstadt Wil im St. Gallischen bis zu den Tonhallen der Welt, auf deren Podien er auftrat: Eine Pilgerreise des Gesangs, auch des heiteren Genusses an kulinarisch reich gedeckten Tafeln. Die Ernte seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Dozent an der Musik-Akademie Basel, dieser «Schola Cantorum Widmeriana», war die Verleihung von über 120 Diplomen an Sängerinnen und Sänger, die Karriere machen sollten. Eine Erweiterung seines Unterweisens waren bis zuletzt die Meisterkurse von Bozen bis Vaduz, von Moskau bis Tokio.

Der Kreis dieses wahrhaft prallen Lebens für den Kunstgesang hat sich geschlossen. Zur Trauerfeier in der Basler Leonhardskirche meldeten sich ein halbes Hundert ehemaliger Studierender, um dem Verstorbenen ihre musikalische Referenz zu erweisen. Ein Lebenswerk ist vollbracht.

Parkinson-Symptomen mit Musik begegnen

Dawn Rose und ihr Team an der Hochschule Luzern – Musik haben ihre jüngsten Forschungsergebnisse mit einem Konzert vermittelt: Die «Playlist for Parkinson’s» ist Baustein einer internationalen Zusammenarbeit.

Toni Scherrer (links) und Dominik Furger. Foto: Priska Ketterer

Musik kann ein wirksames Mittel sein, um neurologischen Beeinträchtigungen zu entgegnen. Luzern zeichnet sich da mit Pionierprojekten aus. Die Fachgesellschaft und Betroffenenorganisation Aphasie Suisse gründete dort vor 15 Jahren den ersten schweizerischen Aphasiechor. Aphasiker haben durch einen Hirnschlag, Tumor oder Unfall die Sprache ganz oder teilweise verloren. Sie sind aber nach wie vor in der Lage, zu singen. Das Gemeinschaftserlebnis, das auch der Selbstermächtigung dient, leistet einen grossen Beitrag zur psychischen Gesundheit Betroffener. Mittlerweile gibt es in der Schweiz zehn Aphasiechöre und sogar einen Aphasie-Jodelchor.

Ein weiteres Projekt steuert gegenwärtig eine höchst lebendige Arbeitsgruppe rund um die britische Musikpsychologin Dawn Rose der Hochschule Luzern – Musik (HSLU–M) bei. Sie erforscht Möglichkeiten, den Alltag von Parkinson-Betroffenen mit Musik zu erleichtern. Vorgesehen ist eine von Parkinson Schweiz mitfinanzierte mehrsprachige Konsultationsstudie über die Musiknutzung von Betroffenen in der Schweiz. Eine sich im Aufbau befindende Webplattform namens «Playlist for Parkinson’s» soll diesen zudem Ressourcen zur Musiknutzung bereitstellen.

Technik aus der Filmbranche

Einen wichtigen wissenschaftlichen Baustein zum Projekt bildet die Entwicklung eines Messprotokolls an der HSLU–M. Es ermöglicht quantitative klinische Versuche auf einer drucksensitiven Gangmatte und mit Markern, mit denen von Musik begleitete Bewegungen genau erfasst und analysiert werden können. Das dabei angewendete Verfahren entstammt der Filmproduktion. Dort werden damit Bewegungen von Menschen auf Trickfiguren übertragen. Der Kern ist ein detailliertes vierdimensionales Modell einer Person, inklusive der Art, wie sie sich bewegt. Auf der Basis dieser Untersuchungen hat das Luzerner Forschungsteam ein Interventionsprotokoll formuliert, das musikunterstützte Neurorehabilitationen von Parkinsonbetroffenen optimieren soll. Es wird in Luzern, Lugano und London getestet. Die Projektpartner in der Schweiz sind das Luzerner Kantonsspital sowie Tessiner Kliniken und Neurozentren.

Eine Playlist for Parkinson’s ist bereits von der Luzerner Projektpartnerin, dem Royal Northern College of Music (RNCM), realisiert worden. Sie basiert auf Forschungsergebnissen von Michelle Phillips vom RNCM, Dawn Rose von der Hochschule Luzern, Ellen Poliakoff von der University of Manchester und Will Young von der University of Exeter. Erstellt worden ist die Liste in Zusammenarbeit mit Menschen mit Parkinson, die erzählten, wie sie Musik nutzen, was sie für sie bedeutet und wie sie hilfreich sein kann. Abgedeckt werden da verschiedene Einsatzbereiche, die von «Musik zum Glücklichsein» bis zu «Musik, die mich in Schwung bringt» reichen.

Playlist im Konzert

Wie eine solche Playlist konkret aussehen kann und welchen Nutzen sie hat, zeigten zwei Konzerte – eines 2022 am Royal Northern College of Music und eines am 9. Mai in Luzern, in deren Rahmen Musikstudierende Titel aus der Liste originell arrangierten und interpretierten. Dabei kam ein sehr ungewöhnlicher und weit über die Parkinson-Thematik hinaus inspirierender Musikmix zusammen. Wie selbstverständlich standen da Titel von U2, Ennio Morricone, Sydney Bechet, Giuseppe Verdi, Creedence Clearwater Revival, Antonio Vivaldi, Ludovico Einaudi und Schweizer Volksmusik nebeneinander. Ergänzt wurden die Musikbeiträge durch Interviews mit Parkinson-Betroffenen, die zum Teil sogar selber musizierend zum Konzert beitrugen.

Studierende der HSLU–M arrangierten für das Konzert zum Beispiel Verdis Gefangenenchor und Ennio Morricones Filmmusik aus dem Spaghetti-Western Spiel mir das Lied vom Tod für Streichquartett und Solosopran. Eine Jazz-Rock-Pop-Band wechselte virtuos vom U2-Titel Beautiful Day über John Fogertys Proud Mary zu Bechets Petite Fleur. Der selber von Parkinson betroffene Akkordeonist Toni Scherrer zeigte sich zusammen mit dem Volksmusik-Studenten Dominik Furger am Schwyzerörgeli als überaus charismatischer Entertainer. Der ganze Saal stimmte beim Folklore-Ohrwurm Ramseiers wie go grase mit ein und liess sich zum Abschluss des ganzen Konzertes sogar zum engagierten Country Roads-Karaoke verführen.

Hören, was inspiriert

Toni Scherrer erzählte auch, wie ihm das Musizieren dabei hilft, mit den Symptomen der Krankheit umzugehen. Laut Dawn Rose bilden Hirnareale, in denen Musik verarbeitet wird, vor allem im Frühstadium der Krankheit Inseln der Unversehrtheit. Scherrer macht denn auch die Erfahrung, dass Zittern und Gleichgewichtsstörungen während des Musizierens verschwinden und zum Teil erst nach Stunden oder gar Tagen wieder einsetzen.

Die Playlist kann weit über die Parkinson-Thematik hinaus Wirkung entfalten. In der Musikpsychologie spricht man von «Guilty Pleasure» und meint damit die Schuldgefühle, die einen beschleichen können, wenn man Vergnügen an Musik hat, die dem sich selber zugesprochenen intellektuellen Niveau nicht zu entsprechen scheint – ein Erbe des Bildungsbürgertums. Der musikalische Umgang mit der Krankheit hat damit auch emanzipatorischen Charakter. Was auch immer ich gerne höre und mich inspiriert: Es ist in Ordnung so.

Mario Venzago als Komponist

Während des Lockdowns schrieb der Dirigent zwei Opern. Es sind ernste Stücke zu den Fragen: Was kann Musik? Was ist uns Musik?

Der Dirigent und Komponist Mario Venzago. Foto: Alberto Venzago

Dass Dirigentinnen und Dirigenten sich auch komponierend hervortun, ist ein seltenes Phänomen geworden. Dirigenten-Komponisten wie Esa-Pekka Salonen oder Peter Eötvös sind rare Ausnahmen. Ob es daran liegt, dass die Ansprüche an den Dirigentenberuf im 20. Jahrhundert wuchsen und sich der ambitionierte Nachwuchs für eine der beiden Karrieren entscheiden zu müssen glaubte? Dass die meisten von ihnen dennoch im privaten Rahmen und «für die Schublade» komponierten, ist recht wahrscheinlich. Denn einer, «der die Music aufführet und anordnet», wie Johann Gottfried Walther vor bald 300 Jahren in seinem Musikalischen Lexicon formulierte, beschäftigt sich eben in der Praxis höchst intensiv mit der «Ordnung» und Machart von Musik, hat ein enormes Know-how, das fürs Komponieren an sich beste Voraussetzungen bietet. Dennoch scheinen die Betreffenden den Vorwurf des Dilettierens zu fürchten und halten ihre Werke verschämt zurück.

Herbert von Karajan und Sergiu Celibidache beispielsweise äusserten sich kompositorisch einzig auf dem Gebiet der Groteske und Bizarrerie. Celibidaches dreizehnteilige Orchestersuite Der Taschengarten, für Kinder geschrieben, wurde immerhin von ihm selbst aufgeführt und auf Schallplatte veröffentlicht; Der gusseiserne Hirsch von Herbert von Karajan, eine sinfonische Dichtung für Alphorn ad libitum und Orchester nach einer Salzburger Volkssage, kam erst dank der Einwilligung von Karajans Witwe 2009 ins Licht der Öffentlichkeit.

Inspiration aus dem Wort

Der Dirigent Mario Venzago, der am 1. Juli 2023 seinen 75. Geburtstag feiert, hat, ähnlich zurückhaltend wie seine Kollegen, in seiner langen Karriere bisher nur zwei eigene Werke aufgeführt. Seine Kantate Gegenzauber (1977) für Sopran, Posaune, Orchester und verborgene Blaskapelle nach einem Roman von Adolf Muschg wurde in einem Wettbewerb von British American Tobacco ausgezeichnet. Sein Violinkonzert, ein Lebenswerk, an dem er in seinen frühen Jahren als Dirigent zu arbeiten begonnen hatte, kam 2021 im Abschiedskonzert als Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters zur Uraufführung (https://www.musikzeitung.ch/berichte/2021/07/mario-venzagos-violinkonzert-als-bio-piece). Es beeindruckt durch Tiefgründigkeit, Materialfülle und unmittelbare Intensität; der souveräne Umgang mit dem Instrumentarium spiegelt die lebenslange praktische Erfahrung des Dirigenten. Dass Venzago ein ausgeprägtes Interesse und Talent zur Gestaltung von Musik eigen ist, zeigen auch seine Bearbeitungen – man denke z. B. an seine Ergänzung von Schuberts «unvollendeter» h-Moll-Sinfonie.

Zum Zeitpunkt der Uraufführung des Violinkonzerts hatte die Corona-Pandemie in Venzagos Arbeitsleben einen Einschnitt verursacht, der ihn ganz neu und grundlegend zum Komponieren führte. Nicht etwa zur Sinfonik, die doch im Beruf seit langer Zeit sein Hauptanliegen ist, sondern zur Oper. Die Inspiration ging von den Texten und Inhalten aus. In nur zwei Jahren komponierte er zwei Opern nach sehr unterschiedlichen Vorlagen und ging kompromisslos mit originellen und provokanten Ideen ans Werk. Wie er selbst öfters sagte, wolle die Musik, wenn sie nicht aufgeführt werden könne, doch mit Macht geäussert werden.

Hotelzimmer in Tonarten

Die erste Oper, ein Einakter mit dem Titel Hotel Windermer, basiert auf einer Kurzgeschichte des Krimiklassiker-Autors Raymond Chandler (I’ll be waiting). Der Handlungsort inspirierte den Schönberg-Adepten Venzago, den zwölf Zimmern des Hotels die zwölf Tonarten zuzuordnen, in deren Farben sich das Personal der Kriminalgeschichte ergeht: der Hoteldetektiv, die schöne Unbekannte, die auf ihren Lover wartet, der Lover auf der Flucht, der Concierge, einige Gangster, darunter überraschend der Bruder des Hoteldetektivs.

Um die Zimmer weiter zu bevölkern, führt Venzago Kartenspieler und eine gealterte Geigendiva ein, die als einziges Ensemblemitglied nicht singt, sondern tatsächlich Geige spielt. Dazu treten zwei sehr virtuose Partien für Bühnenklaviere, so dass von vornherein klar ist, wer in dieser Geschichte die eigentliche Hauptrolle hat: die Musik. An skurrilen und komischen Einfällen mangelt es ihm nicht: So kreiert er eine klangmalerische Roulette-Szene, die den Weg der rollenden, hüpfenden Kugel im Orchester nachzeichnet. Für das Liebesduett verwendet er Verse aus dem Hohelied Salomos und gestaltet sie als echten, perkussionsbegleiteten Rap. Das «Warten» aus dem Originaltitel der Vorlage wird gleich zu Beginn der Oper mit dem Warten der Penelope assoziiert, Monteverdi zitierend. Der Schluss zieht nach einer zehnstimmigen Trauermusik in Vokalisen ein überraschendes, halboffenes Fazit («ich warte nie mehr»).

Stimmintervalle und fernöstliche Klangidiome

In der Romanvorlage der zweiten Oper, The Piano Tuner bzw. Der Klavierstimmer ihrer Majestät von Daniel Mason, fand Venzago ganz andere Qualitäten und musikalische Aspekte, die ihn interessierten. Das Instrument, mit dem er selbst zur Musik fand, steht hier im Mittelpunkt, doch nicht in Verbindung mit Virtuosentum, sondern mit der Figur eines «Technikers»: Im späten 19. Jahrhundert reist dieser Klavierstimmer nach Fernost, um im Dschungel den Erard-Flügel eines wunderlichen Militärarztes zu reparieren. Hier wird die Utopie, mit Musik den Frieden zu bringen, verhandelt und muss grausam scheitern. Das exotische Kolorit der Schiffsreise und der Örtlichkeiten in Myanmar führen Venzago, der die epische Breite der Vorlage geschickt in fünf Szenen und zwei Epiloge fasst, zu freitonalen, teils zwölftönigen Strukturen. «Birmanische» Klangidiome sind mit sechsteltönigen Konstruktionen angedeutet.

Venzago greift die verfemte Musik der 1930er-Jahre auf sowie Elemente aus Pop und Musical, geht dabei aber dezidiert nicht collagenhaft, sondern organisch verarbeitend vor. Musikalische Burleske prägt die Welt der britischen Militärs, etwa in einem halb-sprechend deklamierten mehrstimmigen Soldatenlied. Zart erotische Momente entstehen in der Begegnung des Klavierstimmers mit der birmanischen Assistentin des Arztes, die gleichsam zur Führerin in unbekannte Klangwelten wird. Als Höhepunkt der Oper gestaltet Venzago das Stimmen des Flügels zu einer «Stimm(en)-Sinfonie», die das durchaus realistische Anschlagen der Intervalle mehr und mehr mit einer polyfonen Vogelstimmen-Welt des Orchesters umwebt.

Fern vom Mainstream

Aussergewöhnlich scheinen diese beiden Würfe, und kühn sind sie allemal, auch hinsichtlich der Aufführungsfrage. Denn welcher Intendant wird es wagen, sich so weitab vom Mainstream zu engagieren? In die Kategorien der Groteske und Bizarrerie fallen Venzagos Opern keineswegs. Sie sind trotz komischer Aspekte und exzentrischer Momente ernste Stücke und verhandeln die grossen Fragen: Was kann Musik? Was ist uns Musik? Da Venzagos Ideenreichtum zudem gute Unterhaltung garantiert, würde man es den beiden Opern sehr wünschen, dass sie eines Tages gespielt werden. Venzago selbst komponiert weiter, wenn er nicht gerade auf Konzertreisen ist: Mittlerweile arbeitet er an einem Klavierkonzert.

 

Dorothea Krimm
… ist Musikwissenschaftlerin und leitet die Bibliothek der Bühnen Bern.

 

Eine verunglückte Oper am Theater Basel

Trotz Staraufgebot mit Geigerin Patricia Kopatchinskaja und Klarinettist Reto Bieri bleibt «Vergeigt – Oper» in der Regie von Herbert Fritsch seltsam blass und plakativ. Bewegung statt Musik, Farben statt Texte. Trost gibt es bei einem Schauspiel von Altmeister Christoph Marthaler.

 

Foto: Thomas Aurin/Theater Basel

Etwas vergeigen steht für das Scheitern schlechthin. Der Begriff kommt bekanntlich von etwas auf einer Geige falsch spielen und meint alltagssprachlich etwas vermurksen, versemmeln, versieben, kurzum, etwas zu einem veritablen Misserfolg machen. Unter dem Titel Vergeigt haben der mit seinen absurden Klamauk-Inszenierungen bekannt gewordene deutsche Theaterregisseur Herbert Fritsch – etwa Ligetis Anti-Oper Le Grande Macabre in Luzern 2017 – und die weltweit präsente moldauisch-österreichisch-schweizerische Meistergeigerin Patricia Kopatchinskaja, die sich vermehrt bei ihren inszenierten Konzerten auf (stark) überzeichnete Figuren verlegt, für ein gemeinsames Projekt zusammengespannt. Auf Wunsch des Regisseurs haben sie den Versuch unternommen, das «Nicht-Beherrschen» für die grosse Bühne des Theaters Basel theatralisch respektive als «Oper» umzusetzen.

Mittel dazu war primär die Improvisation. Ziel dieses Projekts sei es, so steht es auf dem Programmblatt, spielerisch herauszufinden, wo Musik anfange und wie sie aufhöre. Die Ratlosigkeit wird zum szenischen Motor erklärt. Nicht nur Klänge und Geräusche, sondern auch Gesten, Grimassen, Körperbewegungen und Choreografien sollen hier zu Musik werden. Mit dabei Kopatchinskajas langjähriger musikalischer Partner und Klarinettenvirtuose Reto Bieri sowie ein hochkarätiges vierköpfiges Ensemble aus renommierten Schauspielerinnen und Schauspielern plus zwei Sänger.

«Schööööön»

Alles soll sich jeweils aus dem Vorhergehenden entwickeln – «ohne erkennbaren Sinn und Zweck», wird postuliert. Zu sehen sind dann ganz minimalistisch einige Grundgesten, die kommen jedoch rüber wie ein Faustschlag auf’s Auge: Eingangs beginnt Kopatchinskaja allein auf der dunklen Bühne mit einer wilden Improvisation, in der es vor allem quietscht und kratzt.

Erst allmählich wird die Geigerin von einem roten Beamer angestrahlt, wobei ihre immer schnelleren Bewegungen in einen heftig drehenden Derwischtanz münden, was plötzlich ebenso sichtbar wird wie ihre überbetont abrupten Streichbewegungen: Achtung, Slapstick! Nach dem Ende des Spielens plötzliche Stille: Achtung, auch das ist Musik! Danach werden Silhouetten von verschiedenen grossen, gehenden Menschenkörpern auf eine Gaze an die hintere Bühnenwand projiziert. Aus dem Schatten lösen sich plötzlich reale Akteure, die den gesamten Raum durchqueren, ohne je aneinander zu stossen. Ihr Laufen scheint immer rhythmischer zu werden: Achtung, auch das ist musikalisch! Alle tragen Aktenkoffer, die sich mit der Zeit als Bleche entpuppen, mit denen sich Theaterdonner produzieren lässt. Ja, auch Lärm ist Musik!

Dazwischen der Klarinettist mit diversen Spielgeräuschen, später auch mit einem stets repetierten Ton. Leider wurde mit diesem sonoren, spannenden Ausgangsmaterial nichts weiter gemacht. Ausser einem kurzen Volksmusikduo der beiden Starinterpreten und dem Anspiel einer bachschen Chaconne auf einem grossen Drehtisch bleibt Instrumentalmusik in dieser Produktion Mangelware ebenso wie Gesang oder Sprechtexte. Dankbar empfangene Ausnahmen sind der im achtköpfigen Chor dargebrachte Beatles-Song Because the world is round it turns me on, einige Takte aus dem Schlager Oh Donna Clara, ich hab Dich tanzen gesehn oder der mehrfach ausgesprochene Ausruf «Schööööön», das Markenzeichen der spanischen Clownlegende Charlie Rivel.

Zurechtgestutztes Scheitern

Gegen Ende gibt es artistische Einlagen mit Stürzen von der Leiter, hier von einem Tennisrichterstuhl, und als Schlusspointe das Einrollen des Gestürzten in einen roten Teppich als Referenz an das Theater Christoph Marthalers, der das Scheitern in seinen Inszenierungen so auf menschliche Masse zurechtgestutzt hat.

Was Vergeigt an Spielwitz und Musikalität missen lässt, hat Marthalers eine Woche später uraufgeführtes Schauspiel Abteilung Leben im Übermass. Als Theater in der ausrangierten Gemeindeverwaltung Birsfelden vor den Toren Basels angekündigt, entpuppte es sich als Musiktheater vom Feinsten mit Musik von Bach bis Wagner, dazwischen Hits von Schubert, sowie Texten von Marthaler über Jürg Laederach bis Gertrude Stein mit absurden Endloslisten im Dienste einer feinsinnigen Abrechnung mit der Bürokratie.

 

Aufführungen noch bis am 16. Juni 2023

 

Martin Wettges wird Professor für Chorleitung an der FHNW

Am 1. September 2023 tritt Martin Wettges die Stelle als Professor für Chorleitung an der Hochschule für Musik Basel an.

Martin Wettges. Foto: Erik Berg

Martin Wettges übernimmt damit die Stelle von Raphael Immoos und ist somit hauptverantwortlich für das gesamte Chorwesen an der Hochschule für Musik Basel, Klassik. Dazu gehören der Grosse Chor, der Kammerchor, Unterricht in Chordirigieren und vieles mehr.

Für sein langjähriges Engagement dankt die Hochschule für Musik Basel Raphael Immoos ganz herzlich.

Biografie und weitere Informationen zu Martin Wettges

Grosse Repertoirebrocken und neue Tanzausrichtung in Basel

Wagners «Ring» und Grönemeyers «Pferd frisst Hut» – die Saison 2023/24 am Theater Basel ist geprägt durch imposante Neuinszenierungen. Die Tanzkuratorin Adolphe Binder löst den langjährigen Ballettdirektor Richard Wherlock ab.

Foto (Ausschnitt): Ingo Hoehn

Das Theater Basel nimmt sich unter der Direktion von Benedikt von Peter für die nächste Spielzeit viel und Aufwendiges vor. 29 Premieren und 10 Wiederaufnahmen stehen auf dem Spielplan der drei Sparten Ballett, Oper und Schauspiel.

In der Oper stemmt man, auf zwei Spielzeiten verteilt, Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Der Hausherr steht am Regiepult; der britische Dirigent Jonathan Nott am Orchesterpult des Sinfonieorchesters Basel. 2023/24 werden der einaktige Vorabend Das Rheingold und die fast fünfstündige Walküre erarbeitet.

Grönemeyers Operneinstand

Eine spektakuläre Uraufführung verspricht die musikalische Komödie Pferd frisst Hut des Sängers und Bandleaders Herbert Grönemeyer in der Inszenierung von Herbert Fritsch. Die Komposition nach Eugène Labiches Ein Florentinerhut ist Grönemeyers erste Musiktheaterproduktion.

Die argentinische Choreografin Constanza Macras inszeniert mit Bizets Carmen und Rachael Wilson in der Titelpartie erstmals eine Oper, während der in Salzburg erfolgreiche Regisseur Romeo Castellucci Mozarts Requiem auf die Bühne bringt. Ivor Bolton wird dabei letztmals am Opernpult als Chefdirigent das Sinfonieorchester Basel leiten .

Christoph Marthaler knöpft sich Monteverdis letzte Oper L’Incoronazione di Poppea mit Kerstin Avemo in der Titelpartie vor. Mit der Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter und dem Countertenor Jake Arditti sind wichtige Rollen prominent besetzt. Man wird sich beim Liebesglück zwischen Nero und der neuen Kaiserin wohl wieder auf eine Kultinszenierung der Langsamkeit einstellen müssen. Für eine historisch informierte Aufführung sorgen der Leiter der Londoner Academy of Ancient Music, Laurence Cummings, und das Barockorchester La Cetra.

Einige Wiederaufnahmen füllen den Opernspielplan: Rossinis Il Barbiere di Siviglia, Webers Freischütz und Verdis Rigoletto mit Regula Mühlemann als Gilda.

Stilwechsel im Ballett

Radikal wird die Sparte Ballett umbesetzt, wenn Richard Wherlock nach über zwanzig Jahren die Ballettdirektion abgibt. Fortan wird sie von der Tanzkuratorin Adolphe Binder und dem Ballettmeister Tilman O’Donnell geleitet. Anstelle klassischer Handlungsballette kommen zur Aufführung: der Ballettabend Marie & Pierre des US-Choreografen Bobbi Jene Smith, eine «Entführung in ein sinnliches und dramatisches Multiversum»; Telling Stories des Schweizers Fabrice Mazliah, das Ballett Verwandlung – Ein poetisch pulsierender Zweiakter mit Tanz und Chor von Saburo Teshigawara und zum Thema Stoffwechsel das Tanz- und Videostück DIEstinguished von La Ribot. Nach einer Choreografie der neuen Tanztheaterleiterin hält man vergeblich Ausschau. Die gebürtige Rumänin kommt aus der Wupperthaler Tanztheater-Szene in der Nachfolge von Pina Bausch. Als «Tanz/Performance Feste & Gäste» werden die aus 16 Ländern stammenden 30 Mitglieder der künftigen Ballettkompanie bezeichnet. Immerhin ein Drittel des Wherlock-Ensembles wird übernommen.

Keine Bewerbungen soll es von Tänzerinnen und Tänzern der theatereigenen Berufs-Ballettschule gegeben haben. Der Kanton Basel-Stadt bezuschusste die Schule, deren professionelle Ausbildung per Ende Schuljahr im Sommer eingestellt wird, trotz Vorwürfen an die Direktorin zuletzt noch mit 900 000 Franken. In der externen Untersuchung wurde festgestellt, «dass ein Teil der befragten weiblichen Lernenden Herabsetzungen ausgesetzt waren und dass sie die Direktorin mit ihrem Verhalten eingeschüchtert und ein Klima der Angst erzeugt hat»! Happige Vorwürfe und ein unschönes Ende für die seit 22 Jahren bestehende Ausbildungsstätte.

Ein Lichtblick ist die Öffnung des Foyers der Grossen Bühne für die Allgemeinheit. Menschen aller Schichten und Generationen beschäftigen sich in Gespräch, Studium, Tanz und Gesang. Und dies bei freiem Eintritt und ohne Polizeipräsenz!

Durch die Zürcher Musikgeschichte spazieren

Zürich ist eine Musikstadt – das kann man neuerdings auch auf einem Audiowalk durch die Altstadt erleben. Am 23. Mai war die Vernissage.

Auf dem Weg ins Grossmünster: Darstellung des Spaziergangs auf dem Smartphone. Screenshot: Viviane Nora Brodmann

Punktgenau lotst einen eine nette Stimme über den Heimplatz, vorbei am Schauspielhaus, links hinein in den Zeltweg, durch einen Durchgang in den Innenhof der Escherhäuser und direkt in eine andere Zeit hinein. Richard Wagner höchstpersönlich schimpft dort in beinahe originalem Sächsisch über einen seine Kompositionsruhe störenden Schmied, dessen Hämmern sich mit Wagners Klavier mischt und sich alsbald in den ersten Aufzug von Siegfried verwandelt, der zum Teil tatsächlich genau hier entstanden ist.

Was lange währt …

Dieser virtuose Gang durch die Stadt und die Zeit ist Teil des soeben auf der Website des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich aufgeschalteten Audiowalks. Musik in Zürich kann man auf jedes Smartphone herunterladen. Konzipiert haben ihn die Schriftstellerin, Hörspielregisseurin, Sängerin und Journalistin Simona Ryser und der Redaktor Roger Nickl. An der Vernissage im Musikwissenschaftlichen Institut erfuhr man, dass die Idee schon vor einer Weile aufgekommen sei. Wie Institutsdirektor Laurenz Lütteken ausführte, träumte man bereits im Jahr 2007, anlässlich des in Zürich abgehaltenen Kongresses der International Musicological Society, davon, auditiv durch Richard Wagners Zürich geführt zu werden. Damals entstanden aber «lediglich» thematische Stadtführungen. Diese fussten auf umfangreichen Recherchen, welche im Rahmen des Forschungsprojekts «Musik in Zürich – Zürich in der Musikgeschichte» zwischen 2002 und 2012 initiiert wurden, aber erst vor zwei Jahren ihren Abschluss und Höhepunkt fanden.

Musik in Zürich. Ein Stadtführer: Menschen – Orte – Institutionen heisst das von Bernhard Hangartner und David Reissfelder herausgegebene und beim Chronos-Verlag bereits in zweiter Auflage erschienene Buch. Darin werden nicht nur «253 Personen, 14 Orte und 21 Institutionen» lexikalisch abgehandelt, wie die Herausgeber schreiben, sondern es enthält auch einen Abschnitt «Spaziergänge und Karten» mit Vorschlägen für eben dies: Entdeckungstouren durch das musikalische Zürich.

… wird richtig gut

Und hier setzt nun der neue Audiowalk ein. Ryser und Nickl nahmen einen dieser Vorschläge und verwandelten ihn in ein sinnliches Erlebnis. Das ist wichtig festzuhalten, denn Ziel eines solchen Audiowalks kann nicht sein, die im Buch enthaltenen Informationen einfach akustisch widerzugeben. Sie hätten sich bemüht, diese szenisch erlebbar zu machen, wie Nickl im von Viviane Nora Brodmann moderierten Gespräch betonte. Brodmann, Doktorandin am Institut, fungierte als Projektkoordinatorin und musikwissenschaftliche Beraterin und führte als Zeugin des komplexen Entstehungsprozesses auch durch die Vernissage.

Näheres über diesen Prozess erzählte dann vor allem Simona Ryser, die ja auch für die Regie zuständig war. So erfuhr man unter anderem, dass zum Konzept eine Rahmenhandlung gehöre: Einer Sängerin ist auf dem Weg ins Grossmünster, wo sie in Bachs h-Moll Messe auftreten soll. Ihr gehört die nette Stimme (Lara Körte), die einen lotst und viel zu erzählen weiss. Oder wie Ryser den gleichen Weg immer wieder gehen musste, mit dem Mikro in der Hand, hoffend, dass irgendwann keine inakzeptablen Geräusche die Aufnahme störten. Man erfuhr auch, dass der Jazzgitarrist und Komponist Philipp Schaufelberger eigens eine «Gehmusik» komponiert hat, die einen auf dem Weg zwischen den Stationen begleitet und das Ganze akustisch zusammenhält.

Zum Abschluss der Vernissage zeigten die Mitglieder des Instituts, dass auch Musikwissenschaftler durchaus zu musizieren wissen. Die hauseigene Schola schaffte es sogar unter die Musikbeispiele des Audiowalks. – Eine rundum gelungene Eröffnung, an der viele Informationen spielerisch gekonnt vermittelt wurden, für ein bleibendes Erlebnis, das einem so manchen surrealen Moment beschert, wenn man mit dem Kopfhörer im Ohr durch das moderne Zürich streift und dabei der Vergangenheit nachlauscht.

v.l. Simona Ryser, Roger Nickl und Viviane Nora Brodmann. Foto: Alessandra Origani

Ausgabe 6/2023 – Focus «Lautstärke»

Bild: Olivier Spinnler, fotografiert von Holger Jacob

Inhaltsverzeichnis

Focus

Laut und leise im Laufe der Zeit
Gehört die Lautstärke zum Werk oder zur Interpretation?

«Immer lauter ist eine Gier nach Stimulation»
Interview mit Olivier Spinnler

Zerhacken mit Liebe und Respekt
Aneignung durch Ein- und Ausblenden

Musik im Körper
Vibrationswesten im Konzert

Chatten über …
Gehörschutz beim Musizieren

 (kursiv = Zusammenfassung in Deutsch des französischen Originalartikels)

 

Critiques

Rezensionen von Tonträgern, Büchern, Noten

 

Echo

250 Jahre Hans Georg Nägeli

Radio Francesco — Die Tiefsee

Nachdenken über den Krieg
Songs of Wars I Have Seen von Heiner Goebbels 

Was Lieder mit uns machen
Das Motto «gefährlich leben» am 4. Liedfestival in Basel 

Interdisziplinäre musiktherapeutische Ansätze
Fachtagung in Basel

Carte blanche für William Blank
Unser geschundenes Ohr

 

Basis

Artikel und Nachrichten aus den Musikverbänden

Eidgenössischer Orchesterverband (EOV) / Société Fédérale des Orchestres (SFO)

Konferenz Musikhochschulen Schweiz (KMHS) / Conférence des Hautes Ecoles de Musique Suisse (CHEMS)

Kalaidos Musikhochschule / Kalaidos Haute École de Musique

Schweizer Musikrat (SMR) / Conseil Suisse de la Musique (CSM)

CHorama

Schweizerische Gesellschaft für Musik-Medizin (SMM) / Association suisse de Médecine de la Musique (SMM)

Schweizerische Musikforschende Gesellschaft (SMG) / Société Suisse de Musicologie (SSM)

Schweizerischer Musikerverband (SMV) / Union Suisse des Artistes Musiciens (USDAM)

Schweizerischer Musikpädagogischer Verband (SMPV) / Société Suisse de Pédagogie Musicale (SSPM)

SONART – Musikschaffende Schweiz

Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb (SJMW)

Arosa Kultur

SUISA – Genossenschaft der Urheber und Verleger von Musik

Verband Musikschulen Schweiz (VMS) / Association Suisse des Écoles de Musique (ASEM)

 

Knall und Fall
Rätsel von Torsten Möller

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Junge Chöre, grosse Klasse

Ein Fest der Musik, ein Fest des Singens, ein Fest der Freude, so könnte man die 13. Ausgabe des Europäischen Jugendchorfestivals umschreiben, das über die Auffahrtstage Basel erfüllte.

EJCF 2023: «Body Percussion en gros» auf dem Münsterplatz Basel. Foto: Ueli Renggli

Vor fünf Jahren konnte das Europäische Jugendchorfestival Basel letztmals in vollem Umfang mit internationalen Chören ausgetragen werden. Nach einer langen (Corona-)Durststrecke war es nun endlich wieder so weit: An fünf Tagen konnte man Jugendchöre aus aller Welt erleben. Der Publikumsansturm war gross, insgesamt besuchten gegen 40 000 Personen die Anlässe.

«Offensichtlich ist das Bedürfnis nach Jahren des Verzichts riesig», hiess es von den Veranstaltern. Zu erwähnen ist auch das seit den letzten Festivals gewachsene Vertrauen in die hohe Qualität des Gebotenen, das zum Besuch anspornte. Und nicht zuletzt die hervorragende Organisation des Grossanlasses.

Von Belgien bis auf die Philippinen

Insgesamt 19 Chöre aus Belgien, Finnland, Frankreich, Georgien, Irland, Israel, Lettland, Litauen, Polen, Serbien, der Ukraine, der Schweiz und den Philippinen zeigten ihre Darbietungen. Viele davon begnügten sich nicht mit dem Singen. Oft war eine Choreografie dabei, die dem Ganzen zu noch mehr Ausdruck und Stimmung verhalf.

Der Kinder- und Jugendchor Baao aus den Philippinen präsentierte eine spannende Mischung aus Rhythmus und Melodie, mit Stampfen auf den Boden, Schlagen auf die Arme oder Oberschenkel und seltsam berührenden Weisen. So erinnerte das Solo eines Mädchens an einen Betruf, und unterstützt von Bamboo-Instrumenten entführte der Chor das Publikum mit täuschend echten Regengeräuschen und Vogelgezwitscher in einen tropischen Regenwald.

Die Vorführung gehörte zum «Länderfokus», bei welchem auch Jugendchöre aus Georgien und Finnland ihre Musikkultur vorstellten. «Dieses Format gab es schon immer», erklärt Festivalleiterin Kathrin Renggli, «neu ist, dass wir das Gewicht mehr auf Öffnung legen. Früher fanden diese Anlässe in der Musikakademie statt und waren intellektueller ausgerichtet. Diesmal bilden wir Kooperationen mit hier lebenden Personen des jeweiligen Landes.»

Selber mitmachen

Eine Idee, die Anklang fand, es mussten bis zu 300 Besucher abgewiesen werden. Wer einen Platz ergatterte, konnte nicht nur die Chöre geniessen, sondern auch selber kurze Lieder erproben, Tänze einüben und Kulinarisches aus dem jeweiligen Land kosten. Überhaupt gab es viele Mitmachgelegenheiten. Den Höhepunkt bildete «Body Percussion en gros» auf dem «platschvollen» Münsterplatz, bei dem Tausende Menschen sich im gemeinsamen Rhythmus bewegten.

Wie ist denn die Situation der Jugendchöre nach der Pandemie international einzustufen? Rengglis Antwort kommt sofort: «Auf diesem Niveau ist kein Chor auseinandergebrochen. Natürlich gab es auch bei diesen Schwierigkeiten. Etliche Nachwuchsjahrgänge fielen aus, weil einfach nicht mehr gesungen werden konnte.» Der Kinderchor Zvezdice aus Serbien beispielsweise hat ein «Dreijahresloch» zu verkraften und reiste daher mit weniger Kindern an, als vorgesehen. Anders der phänomenale Chor Shchedryk aus Kiew, der mit gegen 40 aus der dortigen Chorschule ausgewählten Mädchen unter der Leitung von Marianna Sablina Chormusik aus Klassik und Folklore präsentierte.

Vom Zäuerli bis zu Zeitgenössischem

Die Interpretation von traditionellen Jodelliedern ist das Anliegen des Jugendchors Jutz. Auf welch hohem Niveau und mit welcher Inbrunst sich das Ensemble dieser oft als altmodisch abgestempelten Musik widmet, bewies es in der Peterskirche. Erzählt wurde die Geschichte vom Maiteli und dem Büäbli, die sich an der Chilbi begegnen. Den Auftakt machte ein Zäuerli, dann wurde von Müntschi und Heimetli gesungen. Schliesslich durfte auch ein kleines Tänzli nicht fehlen.

Die Vielfalt an Musikstilen und die Menge an hochstehenden musikalischen Darbietungen war enorm. Die meisten Chöre seien eingeladen worden, führt Kathrin Renggli aus: «Ich kenne die Chöre und habe sie besucht, und ein grosses Netzwerk hilft mir mit Empfehlungen.» Aber es gebe auch Bewerbungen, so vom Knabenchor Mdzlevari aus Georgien.

Eine Kostprobe seines Könnens bot der Chœur national des jeunes de France beim Lunchkonzert in der Clarakirche. Schon der Einstieg mit dem Chanson triste von Henri Duparc in getragenem, mehrstimmigem Gesang und der girlandenstarken Klavierbegleitung durch Hervé Noirot liess in seiner Durchhörbarkeit aufhorchen. Mit lupenreiner Diktion gelang Mendelssohns Verleih uns Friede. Höhepunkt war unbestritten Seán Dohertys (geb. 1987) sehr schwieriger Under-Song: Die jungen Frauen und Männer entwickelten, im Halbkreis im Kirchenraum um die Sitzbänke herum stehend und damit jede Stimme für sich allein, einen differenzierten und soghaften Gesang. Professionell geführt wurden sie durch ihren renommierten Schweizer Dirigenten Dominique Tille. «Ohne exzellente Chorleiterinnen und Chorleiter wären solche Leistungen nicht möglich», stellt Kathrin Renggli als Fazit fest. Das Festival hat gezeigt, wie faszinierend und geschätzt Chormusik bei Ausführenden wie bei Besuchenden ist.

EJCF 2023: Der Mädchenchor Shchedryk aus der Ukraine am Schlusskonzert. Foto: Knud Schulz
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