Liebesbriefe und Philosophisches

Vokalzyklen mit Orchester aus frühen und späten Schaffensperioden Heinrich Sutermeisters.

Heinrich Sutermeister 1982. Foto: Hans Müller/wikimedia commons

Die Musikwissenschaftlerin Antje Müller schreibt in einem Artikel über Heinrich Sutermeister, in dem sie den Komponisten ziemlich eindeutig als Nazi-Mitläufer charakterisiert, dass bei der Betrachtung «konformer» Musik aus Deutschland zwischen 1933 und 1945 nicht die «ohnehin meist dürftige Musik untersucht werden müsste», sondern die Rezeption, da die Musik allein kaum das ganze assoziative Beiwerk vermitteln würde. Damit wird sie der Musik des 1910 in der Nähe von Schaffhausen geborenen und 1995 in seiner Wahlheimat am Genfersee gestorbenen Komponisten nicht gerecht.

Tatsache ist aber, dass Sutermeister, der in München unter anderem bei Walter Courvoisier und beim erzkonservativen Hans Pfitzner studiert hatte und zu dessen Freunden Carl Orff und Werner Egk gehörten, die dem NS-Regime sehr nahestanden, mit Blindheit geschlagen schien, was Leben und Politik in Deutschland betraf. Zwei seiner Opern wurden 1940 und 1942 in Dresden mit Erfolg uraufgeführt, eine dritte, für Berlin geschriebene konnte nur aufgrund der Kriegsereignisse nicht gespielt werden. Dass im Booklet der neuen Toccata-Classics-CD diese Problematik mit keinem Wort erwähnt wird, mutet seltsam an, wird Othmar Schoeck doch für seine mangelnde Distanz zum nationalsozialistischen Staat regelmässig kritisiert.

Die CD enthält die grossen Vokalzyklen Sutermeisters sowie eine Arie aus der Oper Romeo und Julia (1940). Es ist keine Frage, dass der Komponist sein Handwerk verstand und auch einen persönlichen Stil entwickeln konnte, der von der deutschen Spätromantik ausgeht und der Tonalität und der herkömmlichen Instrumentation treu bleibt, wobei das Cembalo einige ungewohnte Farbtupfer beisteuern darf. Erstaunlich ist, dass die Sieben Liebesbriefe für Tenor und Orchester von 1935 klanglich nicht Welten von den Sechs Liebesbriefen für Sopran und Orchester von 1979 entfernt sind. Eigentlich ist die Textwahl originell: Es sind Liebesbriefe aus dem 16. und 18. Jahrhundert von zumeist bekannten Persönlichkeiten und Dichtern, die ganz unterschiedliche Gemütslagen schildern. Das Problem ist die Fülle an Text, die zumindest ohne Booklet in der Hand nicht immer verständlich ist und auch etwas langatmig wirkt. Das gleiche trifft auf die Consolatio philosophiae für hohe Stimme und Orchester auf lateinische Texte des römischen Philosophen Boethius zu, die zum Andenken an Ernest Ansermet entstanden ist und 1979 von Peter Schreier in Genf uraufgeführt wurde.

Trotz kompetenter Interpretationen durch die Sopranistin Juliane Banse, den Tenor Benjamin Bruns und die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter der Leitung von Rainer Held ist die CD kein feuriges Plädoyer für erneute Konzertaufführungen dieser Werke.

Heinrich Sutermeister: Orchestral Music Vol. 2, Works for Voice and Orchestra. Juliane Banse, soprano; Benjamin Bruns, tenor; Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz; Rainer Held, conductor. Toccata Classics TOCC 0608

Die «Weltrhythmusformel»

Gerhard Reiter zeigt in «Rhythmus ohne Grenzen», wie Songs aus aller Welt mit einigen Basis-Modellen in Szene gesetzt werden können.

Foto: cheekylorns2/depositphotos.com

Was haben afrikanische, orientalische und karibische Musik gemeinsam? Nichts weniger als die «Weltrhythmusformel». Sie lautet:Nur die Tonhöhe und die Betonung der einzelnen Zählzeiten machen den Unterschied, ob sich das afrikanische, orientalische oder Latin-Feeling einstellt. In der afrikanischen Variante lautet die Rhythmusformel

in der orientalischenin der karibischenDazu kommen die Instrumente, die den spezifischen Klang ausmachen. Konzis und anschaulich werden die Spieltechniken der Djembe (afrikanisch), Conga (karibisch), Darabukka (orientalisch) und weiterer Perkussionsinstrumente erklärt und in den Videos vorgeführt, die über die Helbling-Media-App bereitstehen.

Die Rock- und Poppatterns hingegen widersetzen sich dem ternären Rhyhtmusempfinden und sind straight. Je nach Song passen sie aber besser. Das Drumset verteilt sich dann auf mehrere Perkussionsinstrumente und eignet sich dadurch gut fürs Klassenmusizieren. Wiederum ein anderes Feeling zeigt sich im brasilianischen Choro oder im Samba, von den ungeraden Rhythmen des Balkans ganz zu schweigen. Alle diese Stile mit ihren je eigenen Akzenten und Klangfarben haben in Rhythmus ohne Grenzen Eingang gefunden.

Die Rhythmusformel aus zwei punktierten Vierteln plus einem Viertel bildet die Grundlage für die Ausgestaltung der Arrangements, mit denen die Beispielsongs begleitet werden. Für einmal ist es also gerade umgekehrt: nicht rhythmische Playbacks begleiten Lieder, sondern Melodien und Harmonien unterstützen die Rhythmen, die im Ensemble gespielt werden. Beide, die Vollversionen der Songs und die Playbackversionen ohne Rhythmusinstrumente, können in der App angesehen werden.

Rhythmen mit oder ohne Lieder

Autor Gerhard Reiter ist einerseits ein weit gereister Musiker, der die Stile und ihre Rhythmen vor Ort erlernt hat. Andererseits ist er Lehrer und weiss um erfolgreiche Vermittlungstechniken. Dazu gehört die Rhythmussprache, die nicht nur die Rhythmen selbst, sondern ebenso die Tonhöhen der Rhythmusinstrumente bezeichnet – eine ausgezeichnete Hilfe für die Erarbeitung der Akzente und Klangfarben der Perkussionsinstrumente. Die Arrangements liegen in einer Basic- und in einer erweiterten Variante vor, wobei die einfache vollauf für eine spannende Begleitung der elf Lieder reicht. Die Rhythmusarrangements können aber auch unabhängig von den Liedern gespielt werden.

Fazit: Wenige, fundierte Zutaten gut gemixt, das ist das Rezept für die authentischen Feelings grosser Musiktraditionen. Was will man mehr?

Gerhard Reiter: Rhythmus ohne Grenzen. Percussion-Modelle zur Begleitung von Songs aus aller Welt, für die Sekundarstufe, 56 S., Audiobeispiele und 90 Videos, Fr. 39.60, Helbling, Bern 2020, ISBN 978-3-99069-315-5

Flinke Flötenfinger

Im Übungsheft «Fingerflink» von Anna-Barbara Rösch lernen und üben kleine Flötistinnen und Flötisten spielerisch anhand von Geschichten.

Illustration von Jasmin Céline Baumann. zVg

Bereits im Vorwort zu Fingerflink, das aus einer Reflexion im Rahmen ihres Pädagogikmasters an der Zürcher Hochschule der Künste hervorging, weist die Autorin Anna-Barbara Rösch auf das Ziel hin, «mit kleinen Kindern (ab dem Kindergarten bis zur dritten Klasse) an der Fingertechnik zu arbeiten, ohne das Thema Fingertechnik konkret zu erwähnen».

Der erste Teil enthält zwölf Geschichten mit den Figuren Flurina und Niels, die jeweils am Ende der Geschichte elementare Bausteine der Flötentechnik wie Tonleiterspiel, Griffwechsel und Improvisation üben. Beispielsweise steigen die beiden in der zweiten Geschichte, «In der Schule», die Schultreppe hinauf und werden am Ende aufgefordert, diese auch mit der Flöte zu erklimmen (Tonleiter). Parallel dazu steht auf der gleichen Seite ein Musikstück aus der Literatur, das zum Thema passt, in diesem Fall ein Tonleiterausschnitt aus einem Maestoso von Franz Anton Hoffmeister. Diese Musikbeispiele in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden können zum Üben vereinfacht werden. Farbenfrohe Illustrationen von Jasmin Céline Baumann machen die musikalischen Geschichten für Kinder noch anschaulicher. Der zweite Teil enthält eine Reihe von Übungen, die die Beweglichkeit und Geschicklichkeit der Finger auch ohne Instrument fördern und zum Teil aus der Ergotherapie stammen. Dazu gehören zum Beispiel Aufwärmübungen, Übungen zur Feinmotorik oder zur Körperhaltung.

Das abwechslungsreiche Heft, das eine Bereicherung für den Musikunterricht mit kleinen Kindern darstellt und spielerisch technische Elemente übt, ohne sie beim Namen zu nennen, ist ursprünglich für die Querflöte konzipiert, kann aber mit etwas Kreativität genauso für das Üben mit anderen Instrumenten verwendet werden.

Anna-Barbara Rösch: Fingerflink – Musikalische Fingerübungen in Form von Geschichten, illustriert von Jasmin Céline Baumann, 130 S., Fr. 35.00, Selbstverlag anna-barbara.com/fingerflink

Angst um und vor dem Musikunterricht

Im Kanton Zürich findet das Fach Musik an der Volksschule vielerorts kaum mehr statt. In einer Diskussion kamen Ursachen und Lösungen zur Sprache.

Wenn niemand da ist, der Musikunterricht erteilen kann oder will, nützt auch ein guter Lehrplan nichts. Foto: uatp12/depositphotos.com

Um den Musikunterricht an der Volksschule steht es schlecht. Woran liegt das? Wie kann das Schulfach Musik passend belebt werden? Die Gewerkschaft für den Service Public VPOD Zürich/Musik veranstaltete dazu am 23. September eine öffentliche und gut besuchte Podiumsdiskussion, die von Esther Girsberger moderiert wurde.

Zum Stand der Dinge meinte Maja De Luca vom Vorstand des VPOD Zürich.Musik zu Beginn, dass sich Bund und Kantone für einen hochwertigen Musikunterricht einsetzten. Es gibt das Musikschulgesetz des Kantons Zürich, und dank der Volksinitiative jugend + musik ist die musikalische Breitenförderung im Artikel 67a der Bundesverfassung verankert. Im Lehrplan 21 wurde der Musikunterricht an der Volksschule stark aufgewertet. Darin sind von der 1. bis 6. Klasse zwei Wochenlektionen Musik vorgeschrieben.

Woran liegt es?

Doch heute, zehn Jahre nach der Einführung des Verfassungsartikels, ist die Realität im Kanton Zürich ernüchternd. In der Unterstufe der Primarschule gibt es zwar eine «Musikalische Grundbildung». Die wird jedoch von einer Fachlehrperson erteilt und ist freiwillig, sie ist nicht im Lehrplan 21 enthalten. Später ist der Musikunterricht abhängig von der Lehrperson. Den einen ist das Fach Musik wichtig, entsprechend engagiert unterrichten sie es. Den anderen nicht, ihr Musikunterricht findet kaum mehr statt. Kontrolliert wird das von niemandem. Kommt dazu, dass an der Pädagogischen Fachhochschule Musik kein Pflichtfach mehr ist, es wird freiwillig angeboten. Nur sehr wenige Studierende wählen Musik als Kunstfach.

Auf Esther Girsbergers Frage, wie schlimm es wirklich sei, meinte die Lehrerin für Musikalische Grundausbildung Sibylle Dubs: «Es steht schlecht. Der Grund dafür ist meist individuell: Die Lehrpersonen haben oft Angst vor dem Musikunterricht. Sie trauen ihn sich nicht zu, vor allem nicht das Singen. Das hat oft mit einem Kindheitstrauma zu tun. Vielen wurde eingebläut, sie könnten nicht singen und hätten keine Stimme.»

Gibt es Auswege?

Für Simone Kramer, Volksschulleiterin in der Stadt Zürich, steht und fällt die Qualität des Musikunterrichts mit der Schulleitung. Da sie selber eine musische Kindheit hatte, ist für sie Musik ein wichtiger Teil der Bildung. So entstand in Zusammenarbeit mit der Musikschule eine Tagesschule mit musischem Profil. Das heisst konkret, die Kinder sollen auf jeder Stufe intensiv Kontakt haben mit Musik: Musikalische Grundbildung, Chorsingen und Klassenmusizieren. Dafür gibt es zwei Wochenlektionen. In der 5. und 6. Klasse können sie in einem Chor oder einer Band mitmachen. Und wenn einem Kind sein Instrument gefällt, kann es damit weiterfahren.

Interessant ist die Idee, dass die Lehrpersonen der Volksschule an diesem Musikunterricht teilnehmen, ihn mitmachen. Da Kramers Volksschule vis-à-vis vom Toni-Areal liegt, behilft sie sich mit Musikstudentinnen und -studenten. Dass man eher musische Menschen für den Musikunterricht beiziehen sollte, war bald klar. An der ZHdK gibt es eine entsprechende Ausbildung, den BA Musik und Bewegung. Doch dieser Studiengang hat kein gesichertes Arbeitsfeld. Es gäbe zwar Jobs, doch die Gemeinden entscheiden über die Finanzierung, ob solche Stellen auch besetzt werden. Könnten nicht diese an der ZHdK ausgebildeten Fachlehrpersonen an der Volksschule unterrichten?

Was in anderen Kantonen bereits möglich ist, scheint im Kanton Zürich in weiter Ferne. Myriam Ziegler, die Chefin des Volksschulamts, stellte die politische Situation klar: «Als sich vor rund 20 Jahren die Fachhochschulen entwickelten, wurde diskutiert, ob an Volksschulen Fachlehrerinnen und -lehrer zugelassen werden sollen oder nicht. Man kam zum Schluss, dass man das nicht wolle, um die Klassenlehrkraft als Bezugsperson beizubehalten.» Auf der Primarstufe sind heute maximal 3 Fachlehrpersonen zugelassen.

Was bremst? Die Finanzen!

Wo gibt es Lösungsansätze? An der ZHdK diskutiert man zurzeit über ein Weiterbildungsangebot «Klassenmusizieren» für Volksschullehrkräfte. Auch wäre laut Bernhard Suter, Fachdidaktik-Dozent an der PH Zürich, eine bessere Zusammenarbeit zwischen Musik- und Volksschulen wichtig, doch dafür braucht es mehr Finanzen. Seiner Meinung nach wäre die folgende Möglichkeit vielversprechend: «Man könnte doch in einem Schulhaus eine musikverantwortliche Person einstellen. Diese könnte dann von den Klassenlehrerinnen und -lehrern für den Musikunterricht beigezogen werden.» Das klingt doch vernünftig, man müsste es nur tun und anständig honorieren.

Unter der Leitung von Esther Girsberger (links)  diskutieren hier Simone Kramer, Olivier Scurio und Sibylle Dubs. Foto: zVg

 

Version vom 23. Oktober 2023

Sanftes soziokulturelles Abenteuer

Im Tessiner Musikdorf Sobrio verbinden sich Konzerte, Sommerakademie und lokale Strukturen zu einem integrativen Ganzen. Ein künstlerisch und gesellschaftlich nachhaltiges Festivalmodell, unverwechselbar und unwiederholbar.

Behutsam und eng verflochten entwickeln sich Dorf und Festival. Foto: Max Nyffeler

Tief unten in der Leventina braust auf der Gotthardautobahn der Verkehr, doch oben in Sobrio, auf elfhundert Metern Höhe, sieht und hört man nichts davon. Nach der Fahrt über eine steil ansteigende Strasse mit unzähligen Haarnadelkurven landet man hier in einer anderen Welt: Ein abgeschiedenes Bergdorf, auf einem Sonnenhang zwischen Wiesen und einem Waldstück gelegen, die Häuser mit Natursteinen gedeckt. Eine Kirche aus dem 14. Jahrhundert, ein Ristorante mit einer schönen Terrasse. Die Aussicht auf die gegenüberliegenden Berge ist atemberaubend.

Sobrio hat wie die meisten Tessiner Bergdörfer im Lauf des 20. Jahrhunderts massiv an Bewohnern eingebüsst, 2016 waren es gerade noch achtzig. Doch nun ist neues Leben eingekehrt. «Villaggio della Musica», Dorf der Musik, nennt es sich heute, und an einem Geländer am Dorfeingang hängt ein Transparent: Sobrio Festival. Von Juli bis Mitte Oktober finden hier Instrumentalkurse für Studierende und junge Profis statt, die Dozenten kommen unter anderem von den Berliner Philharmonikern und dem Orchester der Mailänder Scala.

Es wird geübt und geprobt, es gibt Konzerte und den Klavierwettbewerb Elizabeth Tschaikowsky – eine entfernte Nachfahrin des russischen Komponisten stellte dafür ihren Namen zur Verfügung. Die Aktivitäten teilen sich auf zwei Veranstaltungsschienen auf, die sich ergänzen: die Sommerakademie mit den Meisterkursen und das Sobrio Festival. Dieses bietet neben den Konzerten internationaler Künstler auch den besten Kursteilnehmern eine Auftrittsgelegenheit, und umgekehrt unterrichten manche Gastsolisten in den Kursen. Das Villaggio della Musica bildet das gemeinsame Dach.

Ein Dorf verändert sich

Eine Metamorphose hat stattgefunden in Sobrio. Viele Häuser wurden inzwischen nachhaltig renoviert, wobei ihr Äusseres unangetastet blieb. An den Hauswänden befinden sich kleine Messingschilder mit ihren Namen: Casa Gioacchino Rossini, Casa Héctor Berlioz, Casa Franz Schubert. Rund fünfzig der alten Häuser sind inzwischen auf diese Weise «musikalisiert» worden. Die meisten gehören Privatpersonen, die auf unterschiedliche Weise einen Beitrag zu den musikalischen Aktivitäten leisten; auch praktizierende und ehemalige Musiker befinden sich darunter.

Das Innere der Casa Mahler. Foto: Max Nyffeler

Zwei dieser Häuser sind Eigenbesitz der Veranstalter: Das eine ist die grosse Casa Francis Poulenc mit Doppelzimmern für die jungen Musiker und einer geräumigen Küche, wo sie als Selbstversorger kochen und sich treffen können. Auf dem weitläufigen Grundstück gibt es eine Reihe von noch jungen Bäumen; für jeden Gewinner, jede Gewinnerin des Klavierwettbewerbs wird jeweils ein neuer gepflanzt. Das andere Haus ist die perfekt eingerichtete Casa Mahler. Mit einem kleinen Saal für Kammerkonzerte, Workshops und Meisterkurse bildet sie das Herzstück des Unternehmens. Ein grösserer Konzertraum mit rund hundertsechzig Plätzen ist die Kirche San Lorenzo, und für Freiluftkonzerte gibt es einen von alten Mauern abgestützten Bereich direkt hinter der Casa Mahler.

Die Verwirklichung eines Traums

Initiator und kreativer Kopf des Villaggio della Musica ist Mauro Harsch, Pianist und Dozent am Conservatorio della Svizzera Italiana in Lugano. Mit dem Projekt hat er sich einen alten Traum verwirklicht, und im kleinen Dorf Sobrio, das er seit seiner Kindheit kennt, fand er den idealen Ort dafür. «Meisterkurse oder Konzerte gibt es überall, aber Sobrio ist einmalig, nicht nur wegen der Landschaft, sondern auch weil hier ein ganzes Dorf in die Musik einbezogen wird.» Harsch spricht begeistert über die Atmosphäre vor Ort: «Diese Ruhe und Harmonie findet man sonst nirgendwo. Hier, im Kontakt mit der Natur und abgeschirmt von den Banalitäten des Alltags, können sich die jungen Musikerinnen und Musiker frei entfalten.» In einer mehr touristischen oder urbanen Umgebung sei das nicht möglich.

Mauro Harsch, Gründer des Musikdorfs (links) mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Meisterkurses von Francesco De Angelis, Geiger im Orchester der Mailänder Scala (4. v. re.). Foto: Sobrio Festival

Institutionell steht das Musikdorf auf zwei Beinen. Der von Harsch gegründete Verein Ars Dei, dem er vorsteht, ist verantwortlich für die künstlerischen und organisatorischen Fragen, und die Stiftung Amici del Villaggio della Musica kümmert sich um alle institutionellen Aspekte. Diese beiden Träger, dazu ein Freundeskreis mit über zweihundert Mitgliedern, garantieren auch für die finanzielle Sicherheit. Das Musikdorf finanziert sich weitgehend selbst, Zuwendungen Dritter sind willkommen.

Damit Dorf und Musik gewinnen

Das Musikdorf ist ein langfristiges Entwicklungsprojekt. Das betrifft vor allem den Ausbau der Liegenschaften. Gerade wurde mit dem Umbau eines alten Albergo am Dorfende begonnen, und vielleicht schon im nächsten Jahr soll dann unter dem Namen «Hotel Symphony» ein kleines Hotel für die Unterbringung von Festivalgästen zur Verfügung stehen. Bereits fasst man auch ein Wohnprojekt für betagte Musiker ins Auge, neue Unterkünfte für Kursteilnehmer sind ebenfalls angedacht.

Doch alles schön der Reihe nach, überstürzt wird nichts. Nicht zuletzt, weil die Verantwortlichen wissen, dass das musikalische Unternehmen einen Eingriff in das altgewachsene soziale Gefüge des Dorfs darstellt, Probleme für die Infrastruktur inbegriffen. Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Einheimischen und strikte Nachhaltigkeit sind darum erstes Gebot. Soziale Spannungen sind nicht immer vermeidbar, weshalb man bei den einzelnen Entwicklungsschritten mit der Gemeinde Faido zusammenarbeitet, zu der Sobrio seit 2016 politisch gehört.

Schwierigkeiten gab es zum Beispiel beim Vorhaben, auf der Wiese vor dem Dorf einen kleinen Konzertsaal zu bauen. Der Architekt Mario Botta hatte den Auftrag zur Gestaltung des Baus erhalten und auch bereits einen Entwurf geliefert. Doch dann erhoben einige Bewohner Einspruch. Sie befürchteten, das Dorfleben könnte durch einen wachsenden Kulturtourismus auf den Kopf gestellt werden, und das Projekt blieb einige Jahre liegen. Inzwischen hat man sich geeinigt, und die Suche nach Geldgebern für die Baukosten von 3,5 Millionen hat begonnen.

Das Musikdorf Sobrio ist ein soziokulturelles Abenteuer, das seinesgleichen sucht. Hier kann man beobachten, wie eine ursprünglich rein kulturelle Idee weit über ihren Bereich hinauswirken und die gesellschaftliche Realität tiefgreifend verändern kann. Es ist ein Prozess mit offenem Ausgang. Doch wenn Begeisterung für die Sache und soziale Verantwortung so eng zusammengehen, wie es hier der Fall zu sein scheint, dann besteht Grund zur Annahme, dass für beide Seiten, die Musik und das Dorf, die Zukunft gerade erst begonnen hat.

www.sobriofestival.com

 

Ursprünglich schlecht aufgenommen

Die Cellosonate von Joachim Raff erfüllte die Erwartungen bei der Uraufführung offenbar nicht. Aber sie ist ein kurzweiliges, brillantes Werk.

Foto: Alenavlad/depositphotos.com

Joachim Raff (1822–1882) hinterliess mehrere Werke für das Violoncello und Klavier: zwei Romanzen op. 182, die Fantasiestücke op. 86 sowie das Duo op. 59. Das umfangreichste Werk ist jedoch seine viersätzige Cellosonate D-Dur op. 183. Über deren Entstehungsgeschichte gibt es kaum gesicherte Informationen. Sie wurde im Dezember 1873 in einem Novitätenkonzert in der Berliner Singakademie uraufgeführt und beim Verlag C. F. W. Siegel veröffentlicht. Die Rezensionen waren überwiegend kritisch. Zu gross waren offenbar die Erwartungen nach der triumphalen Berliner Uraufführung von Raffs 5. Sinfonie Lenore am 29. Oktober gleichen Jahres.

Das damalige Kritikerurteil wird dem Stück aber nicht gerecht. Es handelt sich um ein unterhaltsames, brillant-virtuos geschriebenes Werk: Cello und Klavier sind gleichberechtigte Partner, den Ausführenden wird viel an technischem Können abverlangt. So wird bei Aufführungen eines gewiss nie zu kurz kommen: das Spielvergnügen! Die Sonate ist in ihrem Charakter vielleicht «plakativer» als beispielsweise die Sonaten von Felix Mendelssohn. Die eingängige Tonsprache der vier Satze ist sehr bildhaft, so dass man sich gelegentlich auch an Raffs sinfonische Werke mit aussermusikalischen Programmbezügen erinnert fühlt.

Der 2022 begangene 200. Geburtstag des Komponisten gab Anlass zu zahlreichen Aufführungen und Neueditionen. So ist auch Raffs Cellosonate in Zusammenarbeit mit dem Joachim-Raff-Archiv in Lachen nun in einer kritischen Urtext-Ausgabe bei Breitkopf & Härtel erschienen.

Joachim Raff: Sonate für Klavier und Violoncello op. 183, hg. von Claus Kanngiesser, EB 9406, € 28.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Für den Beginn auf dem Drumset

Das Workbook für Drumset von Toni Schilter motiviert die Kinder zum Grooven und Ausprobieren.

Foto: phranai2006@gmail.com/depositphotos.com

Das DrumBook von Toni Schilter kommt freundlich, farbenfroh und überaus ansprechend daher. Das praxisorientierte Lehrmittel ist für Kinder im Alter von fünf bis neun Jahren konzipiert. Die Idee des Autors, im ersten Teil die einzelnen Komponenten des Schlagzeugs mit einer Farbe in Verbindung zu bringen, ist für Anfänger und Anfängerinnen eine grosse Hilfe.

Nach einer kurzen Einführung geht es auch schon los mit dem ersten Warm-up, gefolgt von einer kurzen Notentheorie, dem «Pizzavergleich». Der Fortschritt in diesem Heft ist nicht auf den rhythmischen Aufbau mit Figuren fokussiert, sondern auf den Groove, Ausdruck und Koordination. Das DrumBook hat eine klare Struktur und legt zudem eine Basis in Themenbereichen wie Rudiments, Notenlehre, Unabhängigkeit und Allgemeinwissen über das Drumset und dessen Komponenten.

Früh kommen Kombinationen mit den Füssen sowie Übungen mit Akzenten an die Reihe. Eine kleine Anregung, mit Wortrhythmen zu arbeiten, wird ebenfalls aufgezeigt. Schon nach wenigen Seiten grooven die Kinder über das komplette Drumset. Im weiteren Verlauf wird der Aufbau eines Songs veranschaulicht und erklärt, aus welchen Formteilen er besteht.

Mit zahlreichen Übungen, praktischen Bildern und Illustrationen sowie einigen Soli und Duetten in verschiedenen Schwierigkeitsstufen verbindet und veranschaulicht der Autor auf 122 Seiten das Lernen, Üben und Musizieren in abwechslungsreicher Weise. Freiräume für eigene Ideen sorgen für die individuelle und kreative Entwicklung der Lernenden, welche auch durch die Lehrpersonen mitgestaltet werden können. Der Autor ist überzeugt: «Mit Tonis Trommelbuch feiern die Kinder stetig kleine Erfolgserlebnisse und bleiben daher motiviert.» Neugierig? Musterseiten gibt es auf der Website, wo das Buch auch bestellt werden kann.

Toni Schilter: DrumBook «Tonis Trommelbuch», Workbook für Drumset mit klarer Storyline, Erstes Lehrmittel für junge Drummer, Fr. 35.00, Eigenverlag www.drumbook.ch

Zündende Lieder

«Liederfunken» für Vier- bis Achtjährige, die auf deren Alltag eingehen, den Spracherwerb unterstützen und das Zusammenwirken fördern.

Foto: Oksixx/depositphotos.com

Plappern, rufen, flüstern, jauchzen, singen – «die Stimme – unser erstes Musikinstrument». Das ist der musikpädagogische Ansatz in den Liederfunken für den Musikunterricht im 1. Zyklus, den Kindern im Alter zwischen vier und acht Jahren. Wobei Musikunterricht hier nicht in Musiklektionen gepackt ist, sondern in verschiedenen Momenten des Schulalltags aufscheint: beim Begrüssen und Verabschieden, an Geburtstagen der Kinder, in Verbindung mit dem Kennenlernen von Naturphänomenen oder im Zusammenhang mit lebenskundlichen Themen. Überhaupt wird in den vorliegenden Liederarrangements stark auf einen altersgerechten lebensweltlichen Bezug geachtet. Ein Kapitel heisst denn auch «Kinderalltag», ein Lied darin nennt sich Pflaster, Salbe oder Tee? Die weiteren Kapitel sind überschrieben mit «Grüezi und Adieu», «Draussen unterwegs», «Winterzeit» und «Nachtstimmung». Sie ordnen die Lieder inhaltlich.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf «Versen und Sprüchli» und damit auf der Verwandtschaft zwischen Sprache und Musik. So kombinieren die «Fingerverse» Sprechen mit Motorik und Rhythmus humorvoll – «Chömed all’ zu mir zum Znacht, ich han us Schnee e Pizza gmacht!» –, auch mit Blick auf Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, denen die Verse zu einem fantasievollen Spracherwerb verhelfen.

Durch die Einbettung der Lieder und Sprachspiele ins soziale Miteinander wird Musik zum Instrument, das das persönliche Erleben und die Gemeinschaft stiftende Kraft der Musik zur Förderung fachlicher wie auch überfachlicher Kompetenzen nutzt: Sich singend, tanzend und musizierend ausdrücken oder aufeinander hören fördert das musikalische Ausdrucksvermögen ebenso wie Eigenständigkeit und Kooperationsfähigkeit. Die 24 Lieder des Buchs beziehen sich explizit und detailliert auf die im Lehrplan 21 benannten Kompetenzen. Im Mittelpunkt stehen jedoch die vielfältigen und spielerischen Erarbeitungsweisen der von der Autorin komponierten Lieder – einfach und anschaulich erklärt.

Christina Schnedl: Liederfunken. Singen, tanzen, musizieren, 127 Seiten, Fr. 51.00, Verlag LCH, Zürich 2021, ISBN 978-3-908024-31-6

Expressives kleines Orgelwerk

Eine gut spielbare Choralpartita von Anton Heiller mit zwei erstmals veröffentlichten Vatiationen.

Von Anton Heiller konzipierte Pirchner-Orgel in der Pfarrkirche Sandleiten, Wien 16, errichtet 1958. Foto: DerHHO/wikimedia commons

Passend zu seinem 100. Geburtstag erscheint ein bisher zumindest teilweise noch unveröffentlichtes Werk des grossen Wiener Organisten, Pädagogen und Komponisten Anton Heiller. Die kleine Choralpartita entstand Anfang 1975 als Auftragswerk für eine Sammlung mit gottesdienstlicher Orgelmusik; es wurden davon allerdings nur Intonation, Choralsatz und Variation 1 veröffentlicht, während die beiden verbleibenden Variationen aufgrund ihrer komplexen Harmonik nicht berücksichtigt wurden und daher hier erstmals im Druck erscheinen. Laut einem Online-Kommentar von Anton Heillers Sohn zu einer Einspielung des Werks durch den Herausgeber scheint das Stück die von Erkrankung und zunehmender Erschöpfung geprägte seelische Verfassung des Komponisten zu spiegeln.

Eine kurze (Manualiter-)Intonation leitet einen Choralsatz ein, der hierzulande für eine Alternatim-Aufführung mit gesungenen Strophen allerdings rhythmisch der Fassung im reformierten Gesangbuch angepasst werden müsste. Eine erste, sehr expressive Variation begleitet die Melodie mit einer Gegenstimme in ausdrucksvollen, teils weit gespannten Seufzer-Floskeln. Variation 2 ist ein etwas kauzig-tänzerischer Satz im 6/8-Takt, der die ersten beiden Choralzeilen integriert. Als Abschluss steht ein vollgriffiger, harmonisch schroffer Choralsatz in wuchtigem Forte. Dank seiner nicht besonders hohen spieltechnischen Ansprüche und seiner Eignung auch für kleine Instrumente mit einem oder zwei Manualen und Pedal stellt Heillers kurzes Opus eine praxisnahe und daher sehr willkommene Bereicherung des Repertoires dar. Es erlaubt eine (Wieder-)Begegnung mit einem Künstler, der auch die Schweizer Orgelwelt nachhaltig geprägt hat und dessen kompositorisches Schaffen zu Unrecht etwas in den Hintergrund gerückt ist.

Anton Heiller: Intonation, Choral und drei Variationen über die Melodie «Aus tiefer Not schrei ich zu dir», hg. von Lukas Frank, D 02 542, ca. € 12.00, Doblinger, Wien

 

Handwerk und Geheimnis des Komponierens

Bruno Monsaingeons Gespräche mit Nadia Boulanger sind nun auch auf Deutsch zu lesen.

Nadia Boulanger 1925 an der Ecole normale de musique de Paris, wo sie unterrichtete. Foto: Edmond Joaillier (1886–1939), Paris/Bibliothèque nationale de France

Nadia Boulanger, die Grande Dame, war Lehrerin und richtungsweisende Gesprächspartnerin von Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin, Igor Stravinsky, auch von vielen Komponisten, die nicht so stark im imaginären Museum der Musikgeschichte verankert sind. Boulanger, das zeigt das vorliegende Buch eindrücklich, kommt zwar von der romantischen Inspirationsästhetik, ist aber bis ins hohe Alter offen geblieben. Dem Neuen stand sie nie ablehnend oder gar skeptisch gegenüber, wobei ihre Schwerpunkte in französischer Ästhetik und Geschichte lagen.

Bruno Monsaingeon hat sein Buch Mademoiselle. Entretiens avec Nadia Boulanger bereits 1981 veröffentlicht, nun liegt es, hervorragend lektoriert und übersetzt von Joachim Kalka, auf Deutsch vor. Im Vorwort bemerkt Monsaingeon, dass es Boulanger nicht mochte, «irgendwelche vertraulichen Mitteilungen zu machen». So ist vermutlich der etwas kleinteilige Stil des Buches zu erklären, das aus Gesprächen aus den letzten Lebensjahren entstanden ist. Boulanger ist weder Musikphilosophin noch Wissenschaftlerin oder Theoretikerin. Ihre Gedanken sind sprunghaft, aber deshalb nicht unergiebig.

Über ihre Schwester Lili äussert sich Nadia noch recht ausführlich, über ihre Begabung, auch über Lilis genialischen Funken, der bei ihr selbst nie übersprang. Oft kreist das Buch – siehe «romantische Inspirationsästhetik» – um Themen wie Begabung, Schöpfertum, Schaffensdrang. Auf Seite 97 konstatiert Boulanger:

«In der Frage nach Genie oder Meisterwerk muss ich meine Verlegenheit eingestehen. Tatsächlich weiss ich nichts … Ich weiss es und ich weiss es nicht, weil ich eine Gewissheit habe, die nicht auf Vernunft beruht. Es beginnt natürlich mit einer Gewissheit, die teilweise vernünftig ist, insofern ich konstatiere, dass eine Musik gut geschrieben ist, gut orchestriert, gut konstruiert. Aber in dem Augenblick, wo es noch um etwas anderes geht, tritt man in ein Geheimnis ein. Da ich ein gläubiger Mensch bin, erscheint mir alles ein Geheimnis.»

Man kann es Respekt nennen, Respekt vor der Kunst, Respekt vor der Musik. Je mehr man sich jedoch in Boulangers Gedanken vertieft, beschleicht einen auch das Gefühl eines gepflegten Mystizismus, der in merkwürdiger Schräglage steht zu recht konkreten Vorstellungen von musikalischem Handwerk sowie tiefen und handfesten Einblicken in bedeutende Werke der Musikgeschichte. Just dieser Eindruck erklärt vermutlich Boulangers pädagogischen Erfolg: Sie vermittelte, kenntnisreich und streng zugleich, Grundlagen. Was ihre Schüler und Schülerinnen daraus machten, was in unbewussten Vorgängen geschah – davor hatte sie Respekt und schwieg. Dies ist wohl auch das Resümee dieses facettenreichen Buches: Es gibt viele Impulse. Aber fürs Weiterdenken ist der Leser zuständig.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen – Gespräche mit Nadia Boulanger, 176 S., € 28.00, Berenberg, Berlin 2023, ISBN 978-3-949203-50-3

Die Schweiz swingt

Vor allem in den 1920er- und 1930er-Jahren und oft für die Gäste in illustren Hotels schrieben viele Schweizer Komponisten Klavierstücke im Stil der populären amerikanischen Tänze.

Albert Moeschinger in den 1920er-Jahren in Grindelwald. Er spielte zuweilen auch als Unterhaltungspianist in Berghotels. Foto: Albert-Moeschinger-Stiftung

Der vor 250 Jahren geborene Sängervater Hans Georg Nägeli brachte es fertig, dass die Schweiz singt. Ironie des Schicksals, dass zu seinem Geburtstag ausgerechnet eine CD erschienen ist, die ein ganz anderes Bild der helvetischen Musiklandschaft zeigt: Die Schweiz swingt.

In der Reihe «20th Century Foxtrots» kamen als fünfte Folge lauter Raritäten von zwölf Schweizer Komponisten sowie dem lange in Zürich lebenden Deutschen José Berr und der in Paris erfolgreicheren Genfer Komponistin Marguerite Roesgen-Champion heraus. Aufgestöbert hat die mehrheitlich unveröffentlichten Tanzstücke der Musikologe Mauro Piccinini, der diese Serie auch wissenschaftlich betreut. Er schreibt, wie sich der fälschlicherweise für Jazz gehaltene Foxtrott beispielsweise in St.Moritzer Hotels mittels einer «Tschetzpend» etablierte. Mit hinreissendem Elan und viel Humor gespielt werden die Stücke auch in der jüngsten Folge vom Wiener Pianisten Gottlieb Wallisch. Das von Alastair Taylor in zeittypischer Art-Déco-Manier brillant gestaltete Booklet-Titelblatt zeigt ein tanzendes Paar vor verschneiter Bergkulisse. Die im SRF-Radiostudio Zürich aufgenommene, in Deutschland hergestellte CD verströmt auch damit internationales, vorwiegend amerikanisch geprägtes Flair.

In zwölf Ersteinspielungen erklingen Foxtrotts und Tangos von Komponisten, die, zwischen 1865 (Emile Jaques-Dalcroze) und 1941 (Urs Joseph Flury) geboren, alle ihr Herz kurzfristig an den Jazz und an amerikanische Modetänze verloren hatten. Nebst Arthur Honegger, Conrad Beck, Paul Burkhard, Peter Mieg und Julien-François Zbinden sind auch weniger bekannte wie René Gerber, Walter Lang oder André-François Marescotti in diesem Projekt zu finden.

Den mit viel Swing bezwingenden Einstieg macht Albert Moeschinger mit besonders hellhörigen Einfühlungen in den Jazz. Tallula nennt er seine synkopenreiche Foxtrott-Fantasie von 1930, der sich ein waschechter Farewell Blues anschliesst. Für alles Folgende haben diese beiden scharf profilierten Stücke Modellcharakter. Der Rheinberger-Schüler José Berr erheitert kurioserweise mit einem One-Step über das Jodellied Ich bin ein Schweizerknabe und das Thurgauerlied.

20th Century Foxtrots, Vol. 5. Switzerland. Gottlieb Wallisch, piano. Grand Piano GP 922

Rekonstruiert, erstmals ediert oder ganz neu

Konzerte für Oboe oder Englischhorn von Gustave Vogt, Domenico Cimarosa und Pēteris Vasks.

Oboenblaetter. Foto: Vivasis/depositphotos.com

In einer Liste der bedeutendsten Oboistinnen und Oboisten der Musikgeschichte dürfte neben Leuten wie den Gebrüdern Plà, Carlo Yvon, Antonio Pasculli, Léon Goossens, Evelyn Rothwell oder Heinz Holliger auch der Name Gustave Vogt (1781–1870) nicht fehlen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete er während knapp 50 Jahren zwei Generationen von Spielerinnen und Spielern aus und prägte die Pariser Oboenschule fundamental. Von einem dreisätzigen Konzert für Englischhorn und Orchester ist nur der 2. Satz im Original überliefert. In einer transponierten Version erscheint dieselbe Musik in seinem 2. Oboenkonzert, was den Oboisten und Herausgeber Michel Rosset darauf gebracht hat, nun analog auch den 1. und 3. Satz für das Englischhorn zu übertragen. Seine verdienstvolle Rekonstruktion überzeugt in hohem Masse.

Die drei direkt aneinander anschliessenden Sätze folgen einem romantischen Gestus, und der opernhafte Ton erinnert gelegentlich an die knapp 20 Jahre ältere Scène für Englischhorn und Orchester von Antoine Reicha. Die hohe Virtuosität liegt gut in der Hand, die gesanglichen Passagen sind immer fein und reichhaltig ausgeziert, und auch formal überzeugt die gut viertelstündige Komposition aufs Schönste.

Beim selben Verlag ist erstmals Domenico Cimarosas originelles C-Dur-Konzert erschienen. Es entstand 1781, also 3 Jahre nach Mozarts berühmtem Beitrag zu dieser Gattung. Wiewohl es durchaus Anklänge an das grosse Vorbild gibt, sind die beiden Konzerte nicht vergleichbar. Cimarosa komponiert viel knapper – er schafft es beispielsweise im 3. Satz in gerade einmal 2 Minuten ein veritables Rondo zu schreiben – und verbindet die Sätze mit «Attacca»-Vorschriften. Das Herzstück des Konzerts ist ein gesangliches Andante sostenuto in a-Moll: Hier beweist sich Cimarosa als inspirierter Opernkomponist.

Ein ganz neues Konzert hat Pēteris Vasks‘ soeben veröffentlicht. Sein Englischhornkonzert (1989) hat bereits grosse Beliebtheit erlangt, vermutlich wegen der unverholenen stilistischen Nähe zu Jean Sibelius‘ Schwan von Tuonela. Auch sein nun (als Klavierauszug mit Solostimme) erschienenes Oboenkonzert wird vermutlich den Weg in die Konzertsäle finden, da seine einfach gehaltene modale Tonsprache dem Musikgeschmack der Abonnementspublika entgegenkommt. Zwei melodische Pastoralsätze (Morgen- und Abendpastorale) umrahmen einen lebendigen Mittelsatz, in dem sich verschiedene Tänze und ein Arioso ein Stelldichein geben und eine ausführliche Solokadenz umrahmen. Der spröde Klavierauszug dürfte für eine Aufführung nicht befriedigen, sondern dient lediglich als Vorbereitung für eine Einstudierung mit Orchester.

Gustave Vogt: Solo de Concert pour le Cor anglais, für Englischhorn und grosses Orchester, Erstausgabe und Rekonstruktion von Michel Rosset; Partitur: EW 1216, € 32.50; Klavierauszug: EW 1208, € 18.50; Edition Walhall, Magdeburg

Domenico Cimarosa: Konzert C-Dur für Solo-Oboe, 2 Hörner, 2 Violinen, Viola und Basso, Erstausgabe von Sandro Caldini; Partitur: EW 1200, € 23.50; Klavierauszug: EW 1194, € 14.90; Edition Walhall, Magdeburg

Pēteris Vasks: Konzert für Oboe und Orchester, Klavierauszug von Claus-Dieter Ludwig, ED 23365, Druckausgabe € 32.00, Schott, Mainz

 

 

Gesang im 20. und 21. Jahrhundert

Im Handbuch «Stimmen – Körper – Medien» stehen die Anforderungen aktueller Musikstile an die Stimme und pädagogische Aspekte im Zentrum.

Nelly Melba singt 1920 in ein Mikrofon. Foto: Library of Congress

Ein Foto der legendären Nelly Melba bei einer Radioaufnahme 1920 ziert als Titelbild den zweiten Band des «Handbuchs des Gesangs» aus dem Laaber-Verlag. Dieses Foto hält einen grossen und entscheidenden Moment fest, der der Entwicklung der Gesangskunst und ihrer Rezeptionsgeschichte eine neue Bahn öffnete.

Einer der Herausgeber dieses Buches, Thomas Seedorf, legte erst 2019 ein Handbuch der Aufführungspraxis Sologesang vor, das eine Fülle von Informationen für das Singen Alter und Neuer Musik enthält (Bärenreiter). Es widmet sich der Vokalpraxis von 1600 bis zur Gegenwart, Stimmtypen, Gesangsästhetik, Ornamentik und Deklamation, setzt aber seine Schwerpunkte im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Die Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts werden eher am Rand mit einem Kapitel über Neue Musik und moderne Notation gestreift.

So schliesst das neue Handbuch mit dem Titel Stimmen – Körper – Medien, Gesang im 20. und 21. Jahrhundert inhaltlich an die bereits vorliegende Arbeit an. Es öffnet einen neuen Blickwinkel auf Stimme und Körper auf der Bühne, und zwar in Song und Chanson des populären Musiktheaters wie auch auf der Opernbühne, widmet sich dem Singen als kultureller Praxis, dem Chorgesang als globalem Phänomen. Nicht mehr wegzudenken ist die Auseinandersetzung mit modernen Medien, mit Transformationen der Gesangsstimme durch Tonträger, Studiotechnik und Digitalisierung. Die Ästhetik populären Gesangs im 20. und 21. Jahrhundert stellt andere und neue Anforderungen an eine Gesangsstimme, wo Sprechen, Rufen und Schreien in Pop- und Jazzgesang nicht nur erlaubt sind, sondern dem vokalen Ausdruck von Gefühlen dienen, wo ihre Mitspieler Mikrofone und Toningenieure sind.

Ein grosses Kapitel widmet sich den Fragen der Pädagogik und Therapie. Nie war die Vielfalt von Klangästhetik und stilistischer Erweiterung grösser als heute. Man denke an Pop, Rock, Soul, Jazz und Musicalgesang, an Tango und Indie -Gruppen, an Obertonsingen und Jodel, an experimentelle Geräuschhaftigkeit und Klangkreationen der Neuen Musik – neben dem Ideal des klassischen Gesangs, der offensichtlich nichts an Attraktivität eingebüsst hat; man schaue sich die Anmeldezahlen an den Hochschulen an …

Das Kaleidoskop stimmlicher Vielfalt spiegelt sich in einem äusserst pluralistischen Angebot von Gesangsunterricht, das im Buch thematisiert wird, reichend von chorischer Stimmbildung über funktionale Stimmarbeit, über verschiedenste Pop-Gesangsschulen und sogenannter Belcantotechnik hin zu Stimmarbeit verbunden mit Körper- und Atemschulung. Methodenvielfalt wird zu einem attraktiven Qualitätsmerkmal gesangstechnischer Unterweisung, Vernetzung statt Abgrenzung heisst das Zauberwort.

Das Handbuch endet philosophisch: Macht Singen glücklich? «Ja», lautet die Antwort! Die Frage ist, warum… Weshalb wirkt das Tönen, das Erschallenlassen der eigenen Stimme, das ungehinderte Sich-Entfalten derselben, euphorisierend?

Stimmen – Körper – Medien: Gesang im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Nils Grosch und Thomas Seedorf, (= Handbuch des Gesangs 2), 396 S., € 98.00, Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-906-6

 

Frisch von der Leber weg

Auf dem zweiten Album «Inner Smile» bleibt die Zürcher Band Annie Taylor ihrem spritzigen Rock treu, serviert ihn aber variationsreicher.

Annie Taylor. Foto: Fabio Martin

Schweizer Bands haben sich traditionellerweise schwergetan damit, draufloszurocken und dabei nebst mitreissender Dynamik auch noch knackige Ohrwürmer zu produzieren. Das Zürcher Quartett Annie Taylor – benamst nach der 63-jährigen Lehrerin, die 1901 als erste in einem Fass die Niagara-Fälle hinunterstürzte und das Abenteuer überlebte – hat keine Probleme dieser Art. Von der instrumentellen Expertise her könnten Gini Jungi (Gesang, Gitarre), Tobias Arn (Gitarre), Michael Mutter (Bass) und der unlängst von den Winterthurer Post-Krautrockern Klaus Johann Grobe dazugestossene Drummer Daniel Bachmann bestimmt auch virtuosen Neo-Progressive-Rock kredenzen. Gottseidank wollen sie dies nicht. Vielmehr sind sie auch auf ihrem zweiten Album der organischen Melange aus Post-Grunge-, Garage- und Pop-Rock treu geblieben, die ihr Debut vor drei Jahren so spritzig machte. Sweet Mortality kratzte damals an den Schweizer Album-Charts und trug der Band eine lange Reihe von nationalen und internationalen Festivalauftritten ein. Das auf diese Weise gewonnene Selbstvertrauen schwitzt aus jeder Rille von Inner Smile.

Für die Aufnahmen verlegte man sich nach Bristol, wo man die Tage im Studio von Produzent Ali Chant verbrachte, der sich auch schon mit PJ Harvey, Yard Act, Katy J Pearson (eine Favoritin von Jungi) und Aldous Harding beschäftigt hat. Nachts zog man sich in die Villa zurück und feilte an den Einfällen der vergangenen Stunden. Der Sound ist dabei deutlich vielseitiger geworden. Ausgelassen rumpelnden Pop-Punk-Nummern (Schoolgirl) stehen eingängige Songs gegenüber, in denen die von den Pixies erschlossene Laut/Leise-Dynamik gekonnte Anwendung findet (Push Me). Ride High ist sozusagen kalifornischer «Sunshine-Pop», selbst Fucking Upset findet Platz für ein paar nachdenkliche Momente, und Sister lebt nicht zuletzt vom gloriosen Bassriff. Dabei beherrscht die begnadete Sängerin, Songschreiberin und Frontfrau Jungi das Geschehen souverän. Fazit: eine grandiose Live-Band, mit Geschick auf Vinyl konserviert.

Annie Taylor: Inner Smile. Taxi Gauche Records TGR 037 (Vinyl)

Pianistischer Einstieg in die Ländlermusik

Zwei Notenhefte für Klavier erschliessen Grundlagen der Schweizer Volksmusik auf unterhaltsame Art.

Marion Suter. Foto: zVg

Kinder reagieren oft erstaunlich positiv auf Ländlermusik. Umso bedauerlicher ist es, dass kaum Anfängerliteratur für den Unterricht vorhanden ist. Diesem Umstand will der Müliradverlag in Altdorf abhelfen mit einer neuen Reihe, die mit zwei Heften eröffnet wird. Marion Suter und Claudio Gmür, zwei Koryphäen des Ländlerklaviers aus zwei verschiedenen Generationen – Suter war lange Zeit Schülerin von Gmür –, legen je ein Heft mit 16 einfachen Tanzstücken vor. Bei Suter sind es Eigenkompositionen, bei Gmür hälftig eigene Stücke und Bearbeitungen von Klassikern des Genres.

Die Stücke sind leicht und vergnüglich zu spielen und vermitteln gleichzeitig auch die formalen und harmonischen Grundlagen der Schweizer Volkstanzmusik. Die Neukompositionen folgen den traditionellen Mustern und Abläufen und sind doch originell und witzig. Es ist deutlich erkennbar, dass der Autor und die Autorin bestens vertraut sind mit der Materie. Die wichtigsten Formen – Ländler, Walzer, Polka, Schottisch sowie bei Suter eine Mazurka und bei Gmür ein Ländlerfox – werden in einfacher Art exemplarisch vermittelt.

Wem das zu simpel ist, der kann sich auf der Grundlage der beiden Hefte an die Variations- und Verzierungspraxis der Ländlermusik heranwagen und ganz im Sinn der alten Tradition die Stücke nach eigenem Gusto verändern und erweitern. So sind die Hefte nicht nur für Anfänger*innen, sondern auch für versiertere Interessierte aus anderen Sparten ein lohnender Einstieg in die Schweizer Volksmusik.

Schweizer Ländlermusik für Klavier,

Vol. 1: 16 neue Kompositionen von Marion Suter, Nr.1211;

Vol. 2: Eine Tasten-Bike-Tour, 16 neue und traditionelle Tänze komponiert und bearbeitet von Claudio Gmür, Nr. 1212;

je Fr. 25.00, Mülirad, Altdorf 2021

 

get_footer();