Unerwartetes bei Brahms

Johannes Schild legt in seinem Buch dar, dass auch die Sinfonien des «progressiven» Brahms versteckte Botschaften und Bedeutungen in sich tragen.

Brahms‘ Musikzimmer in seiner letzten Wohnung an der Karlsgasse 4 in Wien. Pastelkreidezeichnung von Carl Müller, dat. 1906. Quelle: Dorotheum/wikimedia commons

Wer sich beim Zitat im Titel des vorliegenden Buches an Gustav Mahler erinnern wollte, hätte sich geirrt, würde aber zuallerletzt bei Brahms versteckte Botschaften erwarten. Arnold Schönberg hatte ihn gerade deswegen als den «Progressiven» an die Spitze der damaligen Moderne gesetzt, weil sein Komponieren der «tönend bewegten Form» von Hanslick entsprach und die mit Literatur gesättigten «sinfonischen Dichtungen» eines Liszt und Strauss hintanstellte.

Schönberg würde heute staunen, wenn er das Buch von Johannes Schild in die Hand bekäme, wo der Autor in den vier Sinfonien von Brahms viele verborgene Mitteilungen eruiert, die Verbindungen zu Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Liszt u. a. herstellen. Dass nicht nur Mahler, sondern auch Brahms die Sprachfähigkeit der Musik genutzt hat, um über sich und sein Schaffen selbst ins Klare zu kommen, verblüfft bei jedem neuen Fall, den Schild stilsicher und verständlich zu erklären versteht, und dies nicht nur jener Leserschaft, die in der Lage ist, die vielen Notenbeispiele entsprechend auszuwerten.

Die satzübergreifenden Beziehungen in den Sinfonien an sich sind schon interessant, noch ergiebiger sind die werkübergreifenden und jene, die über Musikepochen hinweg Verbindungen herstellen. Ausgehend von Bachs E-Dur-Fuge erschliesst sich über das Finalthema von Mozarts Jupiter-Sinfonie ein ganzer Fächer von Bezügen bis hin zum Schicksalslied.

Besonders verblüffend sind in einem anderen Zusammenhang die Meistersinger-Aspekte, die Tristan-Anklänge oder die musikalischen Hinweise auf den «milchjungen Knaben» Felix, der allenfalls der aus seiner intimen Nähe zu Clara Schumann hervorgegangene uneheliche Sohn von Johannes Brahms sein könnte.

Mit dreihundert Musikbeispielen, sechzig Seiten Anmerkungen und vierundzwanzig Seiten Bibliografie untermauert das Buch die überraschende Fülle von kompositorischen «Innereien», aber auch aussermusikalischen Einflüssen, wie man sie gerade bei Brahms nicht erwartet hätte.

Johannes Schild: «In meinen Tönen spreche ich» – Brahms und die Symphonie, 443 S., € 49.99, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2022, ISBN 978-3-7618-2525-9

Nichts aus heiterem Himmel

Wie geht Komponieren heute? 33 Musikschaffende äussern sich dazu im Band «musik machen».

«Man setzt zusammen, man erfindet nicht», sagt Wolfgang Heiniger über das Komponieren. Foto: Thomas Jäger

Beim Wort «komponieren» schwingt einiges mit: natürlich Kreativität, auch das Ringen um Ideen, das Erdenken neuer Klänge oder neuer Konstellationen. Da ist schon mal bemerkenswert, wenn der in Basel lebende Komponist Wolfgang Heiniger glaubt, dass man Musik nicht «neu erfinden kann». Seiner Meinung nach steckt die Bedeutung von Komposition schon im Wort: «Man setzt zusammen», sagt er.

Das im Vexer-Verlag erschienene Bändchen musik machen mit ein- bis dreiseitigen Stellungnahmen von 33 zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten ist kurzweilig wie inspirierend. Neue Musik ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Und das gilt auch für die abgedruckten Texte, die um Ästhetik im Allgemeinen kreisen, um persönliche Arbeitsgewohnheiten oder Schaffensprozesse. Manches erinnert durchaus an ältere Komponisten-Bilder. Dieter Ammann schreibt: «Komponieren bedeutet eigentlich, als Suchender in einer Welt unterwegs zu sein, deren eigener Schöpfer man gleichzeitig ist.» Ammanns Suche kann manchmal dauern. Zuweilen denkt er drei Jahre über ein Werk nach. Ja, da kommt einem vielleicht Beethovens eingekerbte Stirnfalte in den Sinn.

Ammanns Ton ist erfrischend direkt, und das gilt auch für seine Kolleginnen. Isabel Klaus macht aus der Not eine Tugend. Sie braucht Widerstände, sieht die üblichen Auftragsvorgaben – «schreibe ein Stück für diese oder jene Besetzung mit dieser oder jener Dauer» – nicht etwa als Einschränkung ihrer Kreativität, sondern als Möglichkeit, sich kreativ zu reiben an «Steinen, die ihr in den Weg gelegt» werden.

Die von den Herausgebern Désirée Meiser, Matthias Schmidt und Anja Wernicke ausgewählten und interviewten Komponisten stammen zum guten Teil aus dem Basler Umfeld. Manch grosser Name erweitert den regionalen Blick: Wolfgang Rihm etwa, der Deutsche Mathias Spahlinger oder der in den letzten Jahren sehr erfolgreiche Däne Simon Steen-Andersen. Letzterer erwähnt seine «negative Inspiration»: Hört er «tolle Musik», denkt er, dass er sich bemühen muss, «das ganz anders zu machen».

Ganz anders stellt sich letztlich auch das heutige Komponieren dar. Frühere Vorstellungen eines gottgleichen Creatio-ex-nihilo-Genies, das einschüchternd autoritär seine zündenden Funken zu Papier bringt, sind zum Glück passé. Heute, das zeigt der Sammelband eindrücklich, geht es weit mehr um Kooperation mit Musikern, um Einflüsse, manchmal auch ganz bodenständig um eine Arbeit, die getan werden muss. Schön auf den Punkt bringt es der an der Hochschule für Musik Basel als Professor für Komposition lehrende Johannes Kreidler: «Ideen fallen nicht aus heiterem Himmel. Der Anfänger wartet auf den Musenkuss, der Profi fängt an zu arbeiten.»

musik machen, hg. von Désirée Meiser, Matthias Schmidt, Anja Wernicke, 144 S., Fr. 28.00, Vexer, St. Gallen 2023, ISBN 978-3-907112-63-2

Landflucht und Stadtsucht

Die Lieder von Eugen Meier auf walliserdeutsche Texte von Hannes Taugwalder erklingen hier alternierend mit hochdeutschen Liedern von Schweizer Komponisten.

Franziska Heinzen. Foto: Sebastian Magnani

Als der Aargauer Pianist Werner Schmid zusammen mit der Sopranistin Christina Lang und der Mezzosopranistin Margrita Sarbach 2010 für die pionierhafte CD Und ’s Meiteli singt grösstenteils unbekannte Kinder-und Mundartlieder von Schweizer Komponistinnen und Komponisten aufnahm, ragten Kostproben aus dem Heft Lieder us um Tal von Eugen Meier ihres ausgeprägten Walliser Dialekts wegen hervor.

Von den insgesamt 16 Liedern auf Texte des in Zermatt aufgewachsenen Schriftstellers und Industriellen Hannes Taugwalder (1910–2007) haben die Sopranistin Franziska Heinzen und der Pianist Benjamin Mead nun mit Ausnahme von zwei mehrstrophigen Nummern erstmals alle eingespielt, gegenüber dem Erstdruck von 1981 teilweise mit pianistischen Einleitungen und Nachspielen erweitert.

Der 1934 im Aargau geborene, in Wien von Julius Patzak und Hans Swarowsky ausgebildete Komponist, Dirigent und Pädagoge Eugen Meier lebt und wirkt seit 1961 im Wallis, das zu seiner zweiten Heimat wurde. Seine von Sehnsucht, Liebe und Naturverbundenheit handelnden Lieder us um Tal erklingen auf der klug konzipierten CD mit dem Untertitel «An Homage to Swiss Art Song» konsequent alternierend mit sorgfältig ausgewählten, thematisch verwandten Liedern auf deutschsprachige Texte u. a. von Hesse, Lenau, C. F. Meyer, Morgenstern und Storm. Vertonungen durch so bekannte Komponisten wie Joachim Raff, Othmar Schoeck, Frank Martin und Heinz Holliger wechseln einerseits mit zeitgenössischen Beiträgen von Isabel Mundry und Werner Bärtschi ab, andererseits mit Liedern von lange Vergessenen wie Walter Courvoisier, Emil Frey und Hermann von Glenck.

Aus dem Kanton Wallis stammend, garantiert Franziska Heinzen für eine authentische Textwiedergabe der Lieder us um Tal, die sie mit volksliedhaft schlichter Tongebung singt. Bei den mehrheitlich spätromantischen Kunstliedern driftet sie vor allem in hohen Lagen mit starkem Vibrato ins Opernhafte ab. Dies im Widerspruch etwa zu Hans Huber, der im Mädchenlied op. 61 Nr. 3 «schmeichelnd, mit dem zartesten Ausdruck» empfiehlt. Von Benjamin Mead pianistisch diskret unterstützt, erweckt die Sängerin den Eindruck, sie müsse aus dem Reservat der rustikalen Walliser Musik landfluchtartig ausbrechen, um mit einer expressiveren Gesangsweise ein urbanes Publikum für sich zu gewinnen.

Lieder us um Tal. Franziska Heinzen, Sopran, Benjamin Mead, Klavier. Prospero PROSP 0062

Hitchcockscher Schwindel

Das Klavierstück «Vertigo» von Philipp Manuel Gutmann entwirft in kurzer Zeit ein dramatisches Geschehen.

Ausschnitt aus dem Original-Filmplakat von Saul Bass, 1961. Quelle: Library of Congress

Vertigo – wer denkt bei diesem Wort nicht an Alfred Hitchcocks Psychothriller? Ein Film, der sich um einen Polizisten (James Stewart) dreht, der nach einer traumatischen Erfahrung an Höhenangst leidet. Ein Film übrigens, in dem Bernard Herrmanns kongeniale Musik eine zentrale Rolle spielt. Den Namen «Vertigo» hat nun auch der junge österreichische Komponist Philipp Manuel Gutmann einem seiner neusten Werke vorangestellt und nennt es im Untertitel «Bagatelle für Klavier». Im Juni 2021 hat er damit den Publikumspreis der 1. Tage für neue Klaviermusik Graz gewonnen.

Philipp Manuel Gutmann wurde 1993 in Zwettl (Niederösterreich) geboren. Er studierte Komposition in Wien (bei Dirk D’Ase) und in Zürich (bei Kaspar Ewald und Isabel Mundry). Trotz seiner jungen Jahre kann er schon ein beachtliches Œuvre vorweisen. Bühnenwerke und Sinfonisches finden sich darin genauso wie Kammermusik und zahlreiche Werke für Chor. Und ein besonderes Faible scheint er offenbar für Blasorchester zu haben.

Zurück zu seinem Klavierstück Vertigo, das sich tatsächlich auf Hitchcocks Film bezieht. Es beginnt «langsam und bedrohlich» mit Repetitionsfiguren, die sich in Tempo und Lautstärke allmählich steigern. Dazu gesellen sich melodische Fetzen, die offensichtlich Motive aus Bernard Herrmanns Filmmusik zitieren. Akkorde werden abwechselnd mal rauf, mal runter gebrochen. Aus dem ruhigen Beginn wird auf der letzten Seite schlussendlich ein ungestümes Jagen. Der daraus resultierende Effekt ergibt nun wirklich ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, des Schwindels.

Pianistisch ist Vertigo gar nicht so vertrackt, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Der Klaviersatz liegt ganz ausgezeichnet. (Der einzige Fingersatzhinweis ganz am Anfang sollte aber wohl besser 3213 lauten.) Es ist jedenfalls nicht erstaunlich, dass das Publikum in Graz von dem Werk angetan war, denn Gutmann schafft es, mit modernen Mitteln auf wenigen Seiten sofort eine dramatische und anschauliche Szene zu beschwören.

Und wem diese Musik trotzdem fremd bleibt, sollte sich vielleicht wieder mal Hitchcocks Meisterwerk zu Gemüte führen …

Philipp Manuel Gutmann: Vertigo, Bagatelle für Klavier, D 01 450, € 12.95, Doblinger, Wien

Ein fein gesponnenes Album

«Cocoon» von Annakin ist eine Sammlung zart-durchsichtiger Lieder, in denen das Piano eine wichtige Rolle spielt.

Foto: Christian Ammann

Das achte Soloalbum von Annakin – einst die Stimme der Badener Trip-Hop-Kombo Swandive – beginnt mit einem der schönsten Lieder, das sie während ihrer langen Karriere aufgenommen hat. Es heisst Marian und ist so etwas wie ein klingendes Programmheft. Sie habe den Song geschrieben, als der Angriff auf Mariupol begann, erklärt die Künstlerin. Später habe sie realisiert, dass hier das Thema des ganzen Albums auf den Punkt gebracht werde. «Es geht um Schutz und um Krieg und vor allem auch um Katharsis. Um ein Erlebnis, das man verarbeiten muss, um zur Kreativität durchzufinden und Neues zu schaffen.»

Nach dem Frust des Lockdowns, der allerhand Pläne zunichte gemacht hatte, geriet sie in einen regelrechten Schaffensrausch, der mit ihrem Ausflug ins La-Frette-Studio in der Nähe von Paris – eine elegant verlotterte Villa, wo auch schon Nick Cave, Marie-Joe Thério und Marianne Faithfull klingende Feinkost geschaffen haben – seinen Höhepunkt fand. Die Wahl war auf dieses Studio nicht zuletzt darum gefallen, weil dort ein Instrumentarium bereitstand, das den klanglichen Vorstellungen der Künstlerin entgegenkam: ein Bösendorfer-Klavier zum Beispiel, das klingt, als ob es in einen Wattekokon (ha!) eingehüllt wäre, ein wuchtiger Oberheim-Synthesizer sowie ein Neve-Mischpult. Wie schon bei ihrem letzten Album entstanden die Aufnahmen unter der Ägide des britischen Produzenten Ed Harcourt, der als singender Songschreiber auf eine Reihe von noblen, eigenwilligen Alben zurückblicken kann. Ihm, findet Annakin, sei es zu verdanken, dass das Album weniger elektronisch, dafür eher pianolastig ausgefallen ist.

Der Titel Cocoon bringt die Stimmung nicht nur vom Thema her auf den Punkt, metaphorisch beschreibt er auch die Wirkung dieser gazeartig-transparenten Lieder. Sie brauchen ihre Zeit, um Hörerinnen und Hörer einzuspinnen, aber die Fäden sind stark … Ein weiteres feines Kapitel in der Geschichte einer unermüdlichen, stillen Abenteurerin.

Annakin: Cocoon, Phonag Records, annakin.net

Vergnügliches Minitaschenbuch

Basiswissen zur klassischen Musik, mit vielen Zeichnungen und Humor serviert.

Eine der zahlreichen Zeichnungen von Linda Grädel. zVg

Die Autorin, die in Schaffhausen Chöre geleitet hat und als Konzertrezensentin tätig ist, möchte den Menschen mit diesem bunten Büchlein die klassische Musik näherbringen. Die von «absolutes Gehör» bis «Zauberei» aufgeführten musikalischen Begriffe sind gewürzt mit humorvollen Bemerkungen, 14 besondere Komponistinnen und Komponisten von Hildegard von Bingen bis John Cage erhalten eine Sonderseite, 350 werden mit Lebensdaten und Musikstil aufgelistet und die Orchesterinstrumente sind gezeichnet und benannt.

Auf jeder zweiten Seite schildern Linda Grädels schwungvolle Zeichnungen die Hingabe von Musizierenden. Hilfreich und anregend für junge Musikschülerinnen und -schüler sowie für den Konzertbesuch.

Gisela Zweifel-Fehlmann: Klassik ist klasse! Das musikalische Glossar samt Komponistenverzeichnis für Einsteiger, mit Zeichnungen von Linda Grädel, 160 S., Fr. 10.00, Edition ABCDEF…, Diessenhofen 2023, ISBN 978-3-03858-732-3 (Druck)

Stabwechsel bei den «Talentscouts»

23 Jahre war Howard Griffiths künstlerischer Leiter der Orpheum-Stiftung. Nun übernimmt der Pianist Oliver Schnyder diese Aufgbe. Ein Rück- und Ausblick

 

Der bisherige und der neue künstlerische Leiter der Orpheum-Stiftung: Oliver Schnyder am Flügel und Howard Griffiths am Pult. Fotos: Thomas Entzeroth

Weshalb man ihn vermissen wird, zeigte sich auch beim Abschied. Seit über 30 Jahren fördert die Orpheum-Stiftung junge Musikerinnen und Musiker. Beim Konzert vom 21. Oktober, gleichzeitig Stabübergabe in der künstlerischen Leitung, demonstrierte Howard Griffiths in einer kurzen Abschiedsrede, was es für eine erfolgreiche künstlerische Laufbahn neben Talent eben noch zusätzlich braucht. Das von ihm geleitete Orpheum Supporters Orchestra umschrieb er als «Ärzteorchester», eine Bezeichnung, die aus seinem Mund in keiner Weise despektierlich klang, sondern nur den Schalk und die Begeisterungsfähigkeit seiner Persönlichkeit unterstrich.

Die Einzigartigen finden

Persönlichkeit sei denn auch das Kriterium, auf das er als «Talentscout» neben den musikalischen Qualitäten in erster Linie achte, betonte Griffiths im zuvor geführten Telefongespräch. In den letzten Jahren sei die Menge an technisch hochbegabten Leuten grösser geworden, die «ganz besonderen künstlerischen Persönlichkeiten» blieben aber so selten wie eh und je. Eine Einschätzung, die auch sein Nachfolger Oliver Schnyder teilt. In einem schriftlich geführten Interview betonte dieser, dass sich die Interpretationen junger Künstler aufgrund der fehlenden Zeit für eine organische Entwicklung immer mehr einem «breit akzeptierten Standard» annäherten, und schliesst mit dem bemerkenswerten Satz: «Ich bin mir gar nicht so sicher, ob sich Musikerpersönlichkeiten wie ein Fritz Kreisler, ein Edwin Fischer, eine Clara Haskil oder ein Pablo Casals heute noch in vergleichbarer Weise durchsetzen würden.»

In der Sache sind sich die beiden also einig. Es geht bei der Orpheum-Stiftung darum, einzigartige Persönlichkeiten aus dem grossen Reservoir an Talenten herauszupicken. Eine Aufgabe, die bislang auch erfolgreich bewältigt wurde, wie ein Blick in das Archiv zeigt: Truls Mørk, Renaud und Gautier Capuçon, Yuja Wang, Alisa Weilerstein, Nikolaj Znaider, um nur einige zu nennen, haben alle von der Förderung durch die Stiftung profitiert. Man kann also mit einigem Recht von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Und alle Anzeichen sprechen dafür, dass diese mit Schnyder fortgeschrieben wird. Schnyder, der einst selbst zu den «Zöglingen» zählte, sieht sich in erster Linie als neues Mitglied eines starken Teams. Kontinuität ist also das Zauberwort, lediglich die Setzung einiger neuer Schwerpunkte ist zu erwarten.

Entwicklungspotenzial ausschöpfen

Bezüglich dieser neuen Schwerpunkte kann man das Konzert vom 21. Oktober denn auch als programmatisch bezeichnen. Denn die 1996 geborene dänisch-ukrainische Geigerin Anna Agafia Egholm trat dabei nicht als alles überstrahlende Solistin auf, sondern spielte gemeinsam mit dem ehemaligen Orpheum-Solisten Maximilian Hornung am Cello und Oliver Schnyder am Klavier Beethovens Tripelkonzert. Damit wies das Konzert die Richtung: Stiftungszweck und Fördermodell der Orpheum-Stiftung sind es, junge Solistinnen und Solisten mit bekannten Orchestern und Dirigenten zusammenzubringen. «Neu werden wir die Idee auch auf die Kammermusik übertragen und grosse Mentorinnen und Mentoren einladen, die mit den Jungen proben und auftreten», beschreibt Schnyder seine Zukunftsvision.

Aus diesem Grund spielte es auch keine Rolle, dass kein «Spitzenorchester» den Abend bestritt. Denn auch wenn das aus Laien und einigen Profis zusammengesetzte Orpheum Supporters Orchestra seine Sache gut machte, so ist es doch kein Ensemble im Sinne der Stiftungsvorgaben. Das Zusammenspiel mit den beiden etablierten Solisten war hingegen durchaus eine Spitzenleistung. Gerade der Vergleich mit Hornung zeigte auch Entwicklungspotenzial bei Egholm auf. Dessen prägnantere und plastischere Phrasierung demonstrierte eindrücklich, was man aus dem häufig verkannten Tripelkonzert herausholen kann.

Bei den Proben: Anna Agafia Egholm, Violine, Oliver Schnyder, Klavier Maximilian Hornung, Cello, und Howard Griffiths.

Apropos Entwicklungspotential: Bei allem Lob für den Leistungsausweis der Orpheum-Stiftung könnte auch sie einige neue Möglichkeiten ausschöpfen. Nicht aus der Sicht derjenigen, die mit dem Status quo des klassischen Konzertbetriebs zufrieden sind: Berühmte Interpreten spielen das bekannte Repertoire aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Für alle andern aber wäre es schön, würde sich die 800-jährige, stets weiter fortgeschriebene Tradition der klassischen Musik auch in der Nachwuchsförderung stärker abbilden.

Howard Griffiths hat das unter anderem mit der Einführung von Composers in Residence versucht, führte im Gespräch aber den damit verbundenen, enormen Aufwand an, den eine kleine Stiftung organisatorisch kaum stemmen könne. Oliver Schnyder verwies diesbezüglich explizit auf den Stiftungszweck, schloss aufgrund der neuen Kammermusikformate eine gewisse Erweiterung des Repertoires aber nicht aus. Und ja, es ist nicht die Aufgabe einer einzelnen Stiftung, den Klassikbetrieb zu refomieren. Aber ist es vermessen, ein klein wenig Hoffnung in eine Stiftung zu setzen, welche vor etwas mehr als 30 Jahren ein revolutionäres Förderkonzept etablierte?

Orpheum-Stiftung

 

Kultur ist, was das Leben besser macht

Am 9. November fand in Baden ein Forum lanciert vom Aargauischen Kulturverband und der Kulturstiftung Pro Argovia statt. Die Referate und Podiumsdiskussionen kreisten um das Thema «Kultur ist systemrelevant!».

Podiumsdiskussion (v. li.): Monika Schärer, Maja Wanner, Antonia Businger, Christian Brönniman, Christine Egerszegi. Fotos: Jean-Marc Felix, XMedia

Der Aargauische Kulturverband ist relativ neu. Im November 2019 haben sich diverse Aargauer Kulturinstitutionen und Freischaffende darin zusammengeschlossen. Der engagierte Vorstand deckt verschiedene Sparten ab und hat sich zum Ziel gesetzt, das Aargauer Kulturschaffen sichtbarer zu machen und vor allem in politischen Kreisen mit einer Stimme für die Kultur zu lobbyieren. Eben wurde mit Daniel Hertli ein neuer Geschäftsführer gewählt.

Unter seinem ersten Geschäftsführer Michael Schneider hat der Verband nicht nur deutlich Stellung genommen zu Grossratsentscheidungen und zum Aargauer Kulturkonzept 2023–2028. Er kümmerte sich auch um eine bessere Information der Grossratsmitglieder über die schwierigen Rahmenbedingungen der Kultur. Dank Grossrat Markus Lang ist eine Kulturgruppe entstanden, die rund 40 Mitglieder aus verschiedenen Parteien zählt. Für diese Gruppe werden Führungen organisiert, die einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen.

Der Stellenwert der Kultur

In seinem Grusswort zur Eröffnung des Forums betonte Stadtammann Markus Schneider, dass Baden eine selbstwusste und lebendige Kulturstadt sei, auf die er stolz sei. Und Regierungsrat Alex Hürzeler meinte im Gespräch mit der Moderatorin Monika Schärer, dass Kultur vor allem in unseren geopolitisch schwierigen Zeiten wichtig sei für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Attraktivität eines Standorts.

«Was ist Kultur?» – Mit dieser Frage eröffnete die politische Philosophin Katja Gentinetta die Reihe der Referate.

Katja Gentinetta reflektierte als politische Philosophin in ihrem Eröffnungsreferat den Kulturbegriff. Kultur sei die Weiterentwicklung der geistigen und moralischen Kräfte, alles, was unser Leben besser mache. Ihrer Meinung nach ist Kultur nicht weniger systemrelevant als Landwirtschaft oder das Gesundheitswesen. Und eine gute Unternehmenskultur sei zwar nicht messbar, aber unverzichtbar.

Eine interessant besetzte Runde führte nach jedem Referat eine Podiumsdiskussion: Für den Physiker Christian Brönnimann, Gründer und VR-Präsident der Firma Dectris, hat Kultur viel gemein mit der Wissenschaft. Beide Bereiche seien mit grossen Anstrengungen und mit viel Passion verbunden, das Geld stehe nicht im Vordergrund. Seine Firma unterstützt Kultur mit einem Anteil des Firmengewinns. Das gehe aber nur, wenn das Geschäft erfolgreich ist.

Für Maja Wanner, die Ehefrau von Peter Wanner, VR-Präsident des Medienunternehmens CH-Media, ist Kultur das Schmiermittel der Gesellschaft und ein Bollwerk gegen die Verrohung. Sich zu treffen, das gemeinsame Liveerlebnis werde immer wichtiger. Sie, die sich im Fundraising für Kultur stark engagiert, sieht in der wachsenden Anonymität der Unternehmen ein Problem. Es fehlten selbständige und begeisterungsfähige Unternehmer, die man persönlich ansprechen könne.

Kunst ist für Christine Egerszegi, ehemalige Ständerätin und Kulturbotschafterin, keine gemeinnützige Arbeit, sondern ein ernst zu nehmender Beruf. Ein Problem des Aargaus sei, dass es hier sehr wenige Stiftungen gebe. Zudem plädierte sie vehement dafür, dass per Quote ein Teil jedes Firmengewinns für Kultur ausgegeben werden sollte. Wenn man bedenkt, was das Migros-Kulturprozent bis heute bewirkt hat, kann man Egerszegi nur recht geben.

Welche Werte generiert Kultur? Und für wen?

Christoph Weckerle, Direktor des Zurich Center for Creative Economies an der ZHdK, relativierte in seinem Referat den Wertebegriff, indem er ihn global betrachtete. Und Nicola Forster, Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, betonte, dass die Schweiz mit ihren vier Sprachkulturen eine Willensnation sei. Sie habe nicht eine Leitkultur, eher das Bedürfnis nach Herkunft und Heimat.

Mit Antonina Businger diskutierte eine junge Künstlerin auf dem Podium mit, die erfolgreich eine eigene GmbH gegründet hat. Bei der Badenfahrt im Sommer war sie die jüngste Festgestalterin und künstlerische Leiterin, die dieser Anlass je hatte. Am Forum wurde auch für originelle Unterhaltung gesorgt, die sprachakrobatischen Intermezzi des Schriftsteller Simon Libsig kamen gut an. Als Monika Schärer nachfragte, ob im Publikum auch Unternehmerinnen und Politiker sässen, gingen doch etliche Hände hoch. Auch Georg Matter, der Chef der Abteilung Kultur im Aargauer Departement Bildung, Kultur und Sport, war anwesend und wurde zum Schluss von Schärer über die Rolle der Wirtschaft in der Kulturförderung befragt. Er meinte treffend, dass sich auch dieses Forum in einer Blase befinde. Er habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen keine Ahnung hätten von Kultur. Umso wichtiger sei es, öffentlich über sie zu sprechen und sie sichtbarer zu machen. Der volle Saal machte deutlich, dass der Aargauische Kulturverband und das Forum Pro Argovia mit diesem Anlass einen Anfang gemacht haben.

Aargauischer Kulturverband: agkv.ch/

Volksmusik in Graubünden

In der Sonderausstellung «Grenzenlos lüpfig» deckt das Rätische Museum in Chur die Vielfalt der traditionellen Musik dieses Kantons auf und macht deutlich, wie sie Einflüsse aus anderen Regionen aufnahm und ihrerseits auf auswärtige Musik einwirkte.

«Grenzenlos lüpfig» ist nicht modisch in Szene gesetzt, sondern wirkt mit eigens geschreinerten Kisten, Kasten, Tischen und Stabellen wie eine Bündnerstube mit Hörstationen. Fotos: Corina Hochholdinger, Rätisches Museum Chur

Silvia Conzett und ihr Team haben rund vierzig Musikinstrumente aus der hauseigenen Sammlung, einigen Bündner Heimatmuseen und dem eben eröffneten Haus für Instrumente in Kriens versammelt und mit zahlreichen Fotos und Tonbeispielen ergänzt. Zum vertiefenden Studium stehen in jedem Ausstellungsraum zudem kleine Handbibliotheken mit Singbüchern, Spielheften und Sekundärliteratur bereit.

Die im Bündnerland wichtige Vokaltradition – es wird in fünf romanischen Idiomen, Deutsch, Italienisch und Rumantsch grischun gesungen – präsentiert sich in Bildern, Notenblättern, Hörstationen und Publikationen, unter ihnen Ausgaben der bedeutenden Volksliedersammlung von Alfons Maissen. Die lebensgrossen Silhouetten einer Gruppe von sieben Sängern lädt den Besucher zum Mitsingen einer der sieben Melodien ein. Anstelle eines Katalogs stehen die Ausstellungstexte als Handouts zur freien Verfügung.

Von der Tiba bis zum Schüblöt da marmel

So wie die traditionelle Musik der ganzen Schweiz entspricht auch die Volksmusik Graubündens einer lokal ausgestalteten alpenländischen Volksmusik, die aber die Einflüsse der Nachbarländer spiegelt. Die Südtäler haben die Bandella, eine kleine Blasmusik, mit dem Tessin, der Lombardei und dem Piemont gemeinsam. Im Unterengadin wurde noch im frühen 20. Jahrhundert das Tiroler Raffele, eine Kratzzither in Salzburgerform, gezupft.

Zithern in Salzburgerform erinnern im Unterengadin ans Tiroler Raffele, die ausgestellten Geigen an die Geigenschulen im Safiental.

Die Ausstellung im Rätischen Museum weist daneben auf klingende Spezialitäten aus Graubünden hin. War die Tiba, ein konisches Naturtoninstrument aus Holz oder Weissblech, vor fünfzig Jahren fast vergessen, lebt dieses Alphorn in der Surselva wieder auf. Es wird gebaut, als Amateurinstrument gespielt und hat zu einer neuen Verwendung, den Tibadas, geführt. Dabei stellen sich die Bläser in der Landschaft auf und antworten reihum einem zentralen Tibaspieler.

Zur Hirtenmusik gehörte im Münstertal neben Viehglocken und Geisshörnern ein in der Schweiz einzigartiges Signalinstrument, der Schüblöt da marmel. Er wird aus Gipssteinen, wie sie in Santa Maria Müstair in den Rambach fallen, geschnitten. Das kleine, zum Spiel ganz auf der Zunge liegende Gefässflötchen wäre ausgestorben, hätte nicht ein aufgeweckter Ferienbub aus dem Elsass die Herstellung und Spielweise einem alten Hirten abgeschaut.

Der Bündner Stil erreicht die ganze Schweiz

Zu den Besonderheiten der Musiktradition Graubündens dürfen die Geigenschulen aus dem Safiental gezählt werden. Bereits im 19. Jahrhundert unterrichteten mehrere Lehrer Schulkinder im Bau und Spiel von Streichinstrumenten und führten die in Streusiedlungen weit auseinander wohnenden Jugendlichen in musizierenden Gruppen zusammen. Neuerdings werden die Tanzhandschriften aus dem Safiental bearbeitet und publiziert.

Vor der Standardisierung der Ländlerkapelle formierten sich in den Dörfern der deutschsprachigen Schweiz aus lokalen Streichern und Bläsern zusammengesetzte Tanzensembles, die man nach dem Vornamen des jeweiligen Bandleaders benannte. Aus der Fränzlimusik, nach dem legendären blinden Geiger Franz Waser, ist die fürs Engadin typische Besetzung der Fränzlis da Tschlin geworden (Red. siehe SMZ 11/2022, S. 19 f.).

Heute ist die Volksmusik-Szene vielfältig und lebendig. Die Ausstellung zeigt ihr Wurzeln, ihre Geschichte und ihre vielfältigen Verbindungen.

Erst in den 1930er-Jahren festigte sich die Besetzung der Ländlerkapelle, und zwar je nach den grossen Volksmusiklandschaften im sogenannten Berner Stil (mehrere Schwyzerörgeli und Bass), im Innerschweizer Stil (Klarinette, Schwyzerörgeli, Kontrabass und Klavier) und im Bündner Stil, einer Besetzung mit zwei Klarinetten, zwei Schwyzerörgeli oder Akkordeon und Bass. Dieser durch Bündner Musikanten vorerst in Gastspielen bei Bündnervereinen in den Städten, später als Mitglieder von deutschschweizerischen Kapellen, vor allem aber durch Radio Beromünster und Schallplatten verbreitete Ländlerstil wurde während der Landesausstellung 1939 zur Schweizer Nationalmusik und damit zur geistigen Landesverteidigung. Das erklärt, warum der Bündner Stil in der ganzen Schweiz bekannt und beliebt ist.

 

Grenzenlos lüpfig. Zur Volksmusik Graubündens. Sonderausstellung im Rätischen Museum (bei der Martinskirche) Chur, bis zum 3. März 2024, Di–So 10–17 Uhr

Tierische Geigenstücke

Über zwanzig Originalwerke für Geige und Klavier, vom Huhn bis zum Hai, vom Floh bis zum Elefanten.

Bild: MikyR/depositphotos.com

Neben den sieben berühmten Tierstücken kann man in diesem Heft 14 wenig bekannte Werke entdecken. Sie sind leicht (1.–3. Lage) bis mittelschwer (bis in hohe Lagen) zu spielen. Die Klavierbegleitung ist im Stil der jeweiligen Originale (17.–20. Jahrhundert und südamerikanisch) gut getroffen; hie und da übernimmt auch die Geige die Begleitung.  Die Tonarten bewegen sich zwischen zwei B und zwei Kreuzen, davon ein Drittel in Moll. Das Heft könnte sich für ein Klassenvorspiel eignen.

Animals in Music, 21 Originalwerke für Violine und Klavier, bearbeitet von Wolfgang Birtel mit Fingersätzen und Bogenstrichen von Barbara Leichtweis-Birtel. ED 23524, € 19.50, Schott, Mainz

Mit zwei Stimmen eine dritte zaubern

Adrian Wehlte macht aus einem akustischen Phänomen eine Hör- und Intonationsschulung.

Foto: r7g0/depositphotos.com

Was ist schlimmer als eine Blockflöte? Zwei! – Was in diesem Witz unter anderem angesprochen wird, ist die Tatsache, dass die Intonation auf der Blockflöte schwierig und bei zweien kompliziert ist, weil dabei immer etwas «mitsurrt, schwirrt, zirpt oder brummt», wie es im Vorwort zu den Trios zu zweit heisst. Ein Grund dafür ist im spezifischen Obertonspektrum der Blockflöte zu finden. Spielen zwei (vor allem hohe) Blockflöten zusammen, entsteht mindestens ein sogenannter Kombinationston. Während man gewöhnlich einfach versucht, die beiden Blockflöten einigermassen gut zueinander zu intonieren, macht sich Adrian Wehlte genau dieses Prinzip zunutze. Seine notierten Duos ergeben, wenn sie vollkommen rein intoniert werden, einen Kombinationston, der exakt zu den beiden gespielten Tönen stimmt; aus dem Duo wird ein Trio.

Das Heft mit progressivem Schwierigkeitsgrad soll eine praktische Anleitung zur Intonationssicherheit sein, indem Kombinationstöne bewusst wahrgenommen werden. Diese sind deshalb in einem weiteren Notensystem als virtuelle dritte Stimme notiert, die satztechnisch zu den beiden Oberstimmen passt und ein wirkliches Trio zu zweit ergibt. Nimmt man das Duo auf, wird hörbar, dass die dritte Stimme nicht nur im Ohr der Musizierenden als akustisches Phänomen existiert, sondern klanglich real vorhanden ist. Drei der Duos stellen ein Rätsel dar, in dem die unsichtbare dritte Kombinationstonstimme eine bekannte Melodie ergibt.

Erläuterungen zur Obertonreihe und zu den Kombinations- bzw. Differenztönen runden das Heft ab; wer es noch genauer wissen will, kann unter forum.floeno.de weitergehende Ausführungen erfragen oder sich auf der Diskussionsplattform zu diesem Phänomen austauschen.

Die Trios zu zweit gibt es in einer Ausgabe für zwei Sopranblockflöten (Oboen oder Klarinetten) und für zwei Altblockflöten (Querflöten), wobei die Hefte die gleichen Übungen bzw. Originalkompositionen enthalten.

Adrian Wehlte: Trios zu zweit; Ausgabe für 2 Sopranblockflöten: EFL 1221; für 2 Altblockflöten oder Querflöten: EFL 1220; je € 12.50; Edition Floeno, Dinkelsbühl

 

Anspruchsvolles für Cello und Orgel

In der «Sonata da chiesa» von Harald Feller kann das Cello durch lyrische Passagen hervortreten.

Harald Feller, 2022. Foto: Nila Thiel/wikimedia commons

Harald Feller (*1951) unterrichtet Orgel am Institut für Kirchenmusik der Hochschule für Musik und Theater München. Mehrere seiner Kompositionen wurden mit Preisen ausgezeichnet. Bekannt ist er zudem für die Interpretation des berühmten Orgelparts im Film Schlafes Bruder. Sein Werkkatalog umfasst Kompositionen für Chor a cappella, Vokalmusik mit Ensemble oder Orchester, Musik für Tasteninstrumente, Kammermusik sowie Orchesterstücke.

Die vorliegende viersätzige Sonata da Chiesa für Cello (Viola) und Orgel basiert auf dem musikalischen Material von Fellers 2006 entstandener Feldafinger Messe für 7-stimmigen gemischten Chor, Streicher, Harfe, Schlagzeug und Orgel. Der Messestruktur entsprechend sind die Satzbezeichnungen der Sonate: Kyrie eleison – Ruhig, ausdrucksvoll; Gloria in excelsis Deo – Lebhaft, sehr rhythmisch; Sanctus – Benedictus – Ruhig, feierlich; Communio – Adagio. Fellers Kompositionsstil erinnert bisweilen an Maurice Duruflé, Flor Peeters oder eben an Filmmusik.

Der Cellopart bietet überwiegend dankbare, lyrische Aufgaben, wobei im dritten Satz einige anforderungsreiche Doppelgriff-Passagen in hoher Lage zu bewältigen sind (Tonumfang: G–f2). Gemäss dem Komponisten «muss ein grosser Teil des Orgelparts auf zwei Manualen gespielt werden, da sich die Hände häufig überschneiden. Es ist darauf zu achten, wann eine Stimme hervortreten soll oder wann die beiden Hände gleichberechtigt auf zwei oder auch auf einem Manual gespielt werden können. Wichtig ist, dass der Orgelpart immer abwechslungsreich und transparent bliebt.»

Die Sonate eignet sich als liturgische Musik im Gottesdienst, kann aber auch als Konzertstück verwendet werden. Das nicht allzu reiche Repertoire an Originalliteratur für Cello und Orgel erhält mit dieser technisch anspruchsvollen Komposition eine originelle Bereicherung. Als Ergänzung steht zudem eine transponierte Fassung für Viola zur Verfügung.

Harald Feller: Sonata da chiesa für Cello (Viola) und Orgel, EW 1229, € 19.80, Edition Walhall, Magdeburg

Diabelli-Variationen neu variiert

Der Pianist Rudolf Buchbinder hat zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten zu Werken rund um Diabellis Walzer angeregt.

Anton Diabelli. Lithografie von Josef Kriehuber, 1841. Foto: Peter Geymayer/wikimedia commons

Zum Beethoven-Jubiläumsjahr hat der Wiener Pianist Rudolf Buchbinder dessen 33 Veränderungen über einen Walzer von A. Diabelli erneut eingespielt, und zwar schon zum dritten Mal. Dabei liess er sich etwas ganz Besonderes einfallen: Er kombinierte Beethovens gigantischen Zyklus mit Vertonungen von dessen Zeitgenossen, die damals für den Verleger Diabelli ja ebenfalls Variationen über das gegebene Thema verfassten, darunter die Versionen von Franz Schubert, Franz Xaver Mozart und dem erst elfjährigen Franz Liszt. Darüber hinaus aber regte Buchbinder heutige Komponisten und Komponistinnen an, sich mit Diabellis Walzer auseinanderzusetzen. Die Liste ist beeindruckend und umfasst elf Namen von Lera Auerbach bis Jörg Widmann.

Einige dieser Werke sind nun im Verlag Schott erschienen, so zum Beispiel Christian Josts rassiges Rock it, Rudi! (ED 23535) oder die Variation über ein Thema von Anton Diabelli von Rodion Schtschedrin (ED 23536). Letzteres entpuppt sich als pfiffiges Stück voller Pirouetten und Überraschungen und soll ganz ohne Pedal gespielt werden (wobei das mittlere Pedal da und dort hilfreich sein könnte).

Mehr in die Tiefe geht der Beitrag von Toshio Hosokawa. Der 1955 in Hiroshima geborene Komponist scheint sich dabei nicht nur an Beethovens Veränderungen, sondern auch an jener Variation orientiert zu haben, die Franz Schubert damals für das Gemeinschaftswerk beisteuerte. Hosokawas Diabelli-Variation mit dem Titel Verlust steht nämlich ebenfalls in der Tonart c-Moll und trägt auch sonst durchaus verwandte Züge. Es ist eine Meditation, deren stille Klänge immer wieder durch schroffe Einwürfe unterbrochen und in Frage gestellt werden. Dieses «Adagio, sostenuto, mit Empfindung und Ausdruck» lässt Diabellis Thema stets klar durchscheinen und ist mit Ausnahme einer schnellen Kadenz von geringen pianistischen Anforderungen. Gegen Ende frönt Hosokawa mit zwei längeren Trillern allerdings auch einer Vorliebe des späten Beethoven …

Das in seiner Einfachheit einnehmende Stück wurde zusammen mit den anderen Beiträgen im März 2020 von Rudolf Buchbinder im Wiener Musikverein uraufgeführt und ist auf der CD The Diabelli Project zu entdecken (Deutsche Grammophon 00028948377077).

Toshio Hosokawa: Verlust/Loss, Diabelli-Variation für Klavier, SJ 1211, € 7.50, Schott, Mainz

Meilenstein der Forschung

Aus seinen Forschungen zu Hans Georg Nägeli hatte sich Martin Staehelin eine Lebensaufgabe gemacht. Nun liegt das biografische Gesamtbild vor.

Nägeli-Büste an der Kirche in Wetzikon. Foto: Roland zh/wikimedia commons (Schnitt)

Es kommt nicht häufig vor, dass man vierzig (40) Jahre auf ein Buch wartet. Von Martin Staehelins Biografie des Zürcher Musikers Hans Georg Nägeli (1773–1836) erfuhr ich erstmals im Frühjahr 1983. Nun liegt es da, das Opus ultimum des geachteten Schweizer Musikwissenschaftlers, der sich sein Leben lang mit Nägeli und dessen Zürcher Umfeld beschäftigt hat. Dass Nägeli «Sängervater», Komponist, Verleger, Bach-Verehrer, Musikästhetiker war und mit Beethoven korrespondierte, wusste man, aber dass der Ideenmensch Nägeli sich darüber hinaus an pädagogische, philosophische und theologische Themen heranwagte, dichtete, theoretisierte und sich in die Politik einmischte – aber nicht der Komponist von Freut euch des Lebens war – , das erfährt man aus Staehelins umfassender Studie.

Sie beruht ganz auf Schriftquellen, vor allem aus Nägelis Zürcher und Winterthurer Nachlässen, bezieht aber eine Unmenge an zeitgenössischen Schriften und entlegener Sekundärliteratur ein. Dabei ist der 640 Seite starke Textteil leicht zu lesen, zwar detailgenau, aber nie langfädig, und der Autor versteht es, die Lesenden sicher durch das Labyrinth seiner weitreichenden Gedanken zu führen. Noch nicht veröffentlichte Texte von Hans Georg Nägeli liefert ein digitaler Band II, der kostenlos heruntergeladen werden kann.

Dass dieses doppelte Nägeli-Monument infolge der Erkrankung seines Autors nur dank kundiger Unterstützung von Helferinnen veröffentlicht werden konnte, merkt man dem Buch kaum an. Dennoch scheint es, als würden Martin Staehelin und seine Co-Autorinnen es bedauern, seinen diversen Aufforderungen zu vertiefteren Detailstudien nicht selbst nachkommen zu können. Das Warten hat sich gelohnt: Das Buch ist nicht nur ein Lebenswerk, sondern ein Meilenstein der schweizerischen Musikgeschichtsschreibung.

Martin Staehelin: Hans Georg Nägeli (1773–1836). Einsichten in Leben und Werk, Band I, 789 S., Fr. 90.00, Schwabe, Basel 2023, ISBN 978-3-7965-4746-1

Aus einem anderen Firmament

Die vier Musikerinnen und Musiker von Quiet Island berücken auf «push/pull» mit neblig-zartem Gesang.

Quiet Island. Foto: Red Brick Records

Anarchistisch angehauchte DIY-Experimente, multikulturelle Fusionsklänge und atmosphärischer Rap stellen mittlerweile so etwas wie eine stilistische Orthodoxie von Genf dar (siehe SMZ 11/2023, Der Sound der besetzten Häuser). Aber die Stadt verfügt auch über allerhand «Outliers». Am einen Ende des Spektrums steht die Extrem-Metal-Band Rorcal, die auf der Suche nach dem «Unausdrückbaren» bei einem pechschwarzen Sound-Sturm gelandet ist. Am anderen finden wir Quiet Island, ein Quartett von vier Stimmen – eine Frau, drei Männer – und einem Instrumentarium von zurückhaltend gezupften Gitarren, Cello, Querflöte und einem Hauch Synthi. push/pull ist ihr drittes Album.

In früheren Tagen gewannen sie einmal die Kategorie «Pop» bei der Demotape-Clinic am m4music-Festival. Dabei liegt ihre elegante, fein ziselierte Musik meilenweit entfernt von poppigem Alltagsschaum. Leicht wie Gaze legen sich die vierstimmigen Gesangsharmonien über Bossanova-artige Beats, die viel Raum belassen für die unaufgeregten Riffs oder das sanfte Gezupftwerden einer diskret-jazzigen Gitarre. Kurioserweise hat die Band ihr schönstes Stück, Frozen Lake, ganz am Schluss dieses berückend nebligen Albums vergraben. Dabei ist der urplötzliche Holzbläsereinsatz ein veritabler Glanzmoment.

Vergleiche? The Swingle Singers vielleicht oder Fifth Dimension und Simon & Garfunkel. Nur halt alles in Zeitlupe vorgetragen und aus einem anderen Firmament eingebeamt.

Quiet Island (Julien Dinkel, Voice, Drums, Guitar; Julien Henchoz, Voice, Guitar, Piano; Louise Meynard, Voice, Bass, Cello; Laurent Zito, Voice, Guitar,Transverse Flute): push/pull. Red Brick Records

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