Agentenfilm für Orchester

Eine Partitur zeigt die Qualität von Bernard Herrmanns Filmmusik zu «North by Northwest» bis ins Detail.

Viel zu selten gelangen Filmscores in den Druck. Dabei sind derartige Partituren äusserst hilfreich, um Details der vielfach akustisch in den Hintergrund gerückten Komposition jenseits von frei zusammengestellten «Suiten» zu studieren. Dies ist vor allem dann lohnend, wenn sich die Musik als suggestiv und eigenständig erweist. So etwa die von Bernard Herrmann (1911–1975) komponierte zu Alfred Hitchcocks genialem, mit feiner Ironie gespicktem Agenten-Thriller North by Northwest (1959).

Bereits die ersten Takte sind prägend: Ein Fandango-Rhythmus in den Pauken (doppeltaktig als 6/8 lesbar), beantwortet durch eine synkopierte Wechselnote in den tiefen Streichern (doppeltaktig als 3/4). Beschrieben wird so in der Ouvertüre das Pulsieren der Grossstadt, später die wilde Fahrt auf einer Küstenstrasse. Leitmotivisch ziehen sich Rhythmen, Themen, harmonische Wendungen und Klangfarben durch den ganzen Film – und vereinheitlichen somit die nahezu ununterbrochene Folge dramatischer Szenen, deren Auslöser im Film vorgeblich auf den 24. November 1958 datiert wird durch die Einblendung einer Ausgabe von The Evening Star vom Folgetag (übrigens, wenn auch grafisch verändert, mit einer authentischen Schlagzeile). Ganz ohne Musik (und über eine atemraubende Strecke auch ohne Sprache) kommt die legendäre Szene im Maisfeld aus.

Die gedruckte Partitur umfasst auch all jene Nummern, die im Film (aus guten Gründen) nicht berücksichtigt oder gekürzt wurden. Eine beschreibende Analyse auf zwanzig Seiten macht den Notentext auch für Filmliebhaber verständlich. Wünschenswert wäre eine Fortsetzung mit weiteren legendären Herrmann-Vertonungen etwa von Vertigo oder Psycho.

Bernard Herrmann: North by Northwest (1959), Partitur, Omni 50791, XX+211 S., € 79.00, Omni Music Publishing/Schott, Los Angeles/Mainz 2022, ISBN 978-1-73450-791-1

 

Musikwissen trainiert Hirn und Ohr

Das flexible Lehrmittel «musik-wissen – easy to learn» vermittelt Musiktheorie online und/oder mit Lehrbuch.

Foto: Tengyart/unsplash.com

Musikwissen ist eine Lebensaufgabe. Wer ist schon in allen Epochen bewandert, wer kennt schon das Œuvre eines Komponisten in Gänze, wer weiss schon über Genregrenzen hinaus Bescheid, kann also zu Duke Ellington, Def Leppard oder Johann Sebastian Bach ähnlich gut Auskunft geben? Angesichts der Vielfalt ist es eine gute Idee, sich erstmal mit den Basics zu befassen – mit jenen Grundlagen, die Das praktische Theorie-Buch für den Musik-Unterricht vermittelt, schon 1997 erstmals veröffentlicht vom heute pensionierten Musiklehrer Emil Wallimann und dem Bandleader und Musik-Coach Peter Wespi.

Lern-Plattform

Seit 2015 treiben beide Fachmänner eine das Buch begleitende E-Learning-Plattform voran, abrufbar unter www.musikwissen.ch. Das Zielpublikum seien – nach Selbstauskunft – «Schüler des Gymnasiums, aber auch angehende Dirigenten oder Musiklehrer». Wer sich mit den Übungen beschäftigt, dem fällt noch andere «Kundschaft» ein: neben dem Bewerber an einer Musikhochschule oder dem interessierten Laien oder Rentner durchaus auch der langjährige Musikredakteur oder Musikjournalist, der sein Theoriewissen ruhig mal wieder auffrischen kann. Na, wie war das nochmal mit der enharmonischen Verwechslung? Wo waren nochmal die Halbtonschritte im mixolydischen Modus? Oder: Wie hört sich eigentlich die Bebop-Scale in Moll an?

Man merkt: Die beiden langjährigen Pädagogen haben Vermittlungserfahrung. Und sie nutzen fantasievoll die vielfältigen digital-interaktiven Möglichkeiten: Erfrischend klar und ohne Gedöns sind die Website und ihre jeweiligen Seiten gestaltet. Es gibt Hörbeispiele (besonders empfehlenswert ist die Gehörschulung unter dem Titel «Eartraining»), es gibt einfache Fragen im Multiple-Choice-Verfahren, auch Fliesstexte, die ergänzt werden sollen. Ist eine Lerneinheit abgeschlossen, geht es weiter zur nächsten Übung. Motivierende Fortschritte sind schnell möglich, ein kurzer Blick in das Buch oder Links zu kurzen Informationsvideos helfen weiter, wenn es einmal stockt.

Musikhistorische Einblicke

Die Plattform ist in vier Schwierigkeitsstufen unterteilt. Wenn man alles mit einem grünen Häkchen erledigt hat, ist schon mal ein sehr solides Fundament erreicht, und zwar in Aspekten der Notenschrift, der Rhythmik, der Instrumenten-, Gattungs- und Formenlehre und der Harmonik. Durch die anschaulichen Beispiele erhält der Lernwillige en passant so manchen musikhistorischen Einblick, die natürlich ausbaubar sind. Ein wenig kurz ist von aussereuropäischer Musik die Rede, auch vom 20. und 21. Jahrhundert, in denen sich Komponisten eben ganz bewusst verabschieden vom traditionellen Musikwissen und tradierten Elementen wie dem Quintenzirkel, dem Rondo oder der Sonatenhauptsatzform.

In Zeiten des eklatanten Verlusts musikalischer Bildung bleibt diese mit viel Eifer betriebene und stets aktualisierte Lern-Plattform eine überaus sinnvolle Initiative!

 

musik-wissen – easy to learn. Angebote und Konditionen für Einzelbenutzer, Schulen, Institutionen und Verbände mit gedrucktem Arbeitsbuch, Multimedia-eBook oder E-Learning unter: musikwissen.ch/angebot

Gamben-Fantasien für Bratsche

Die geschickte Bearbeitung von Brian A. Schiele macht diese raffinierten Stücke mehr Spielenden zugänglich.

Georg Philipp Telemann, Stich von Georg Lichtensteger. Quelle: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Viele Geigenspielende kennen und lieben Telemanns 12 Fantasien für Geige TWV 40:14–25. Die Fortsetzung, TWV 40:26–37, ist nur den Gambenspielenden bekannt, heute eine Minderheit. Schon zu Telemanns Zeiten kam die Viola da Gamba aus der Mode, weshalb er 1735 seine 12 Gambenfantasien mit besonders viel Raffinesse ausstaffierte, um Käufer zu gewinnen: gebrochene Akkorde und Passagenspiel, ein- und mehrstimmige Schreibweise sowohl in fugiertem als auch in galantem Stil.

Schon 2019 hat Viacheslav Dinerchtein für den Amadeus-Verlag die Fantasien für Bratsche adaptiert. 2022 folgte nun eine Bearbeitung des Engländers Brian A. Schiele. Jedes dieser lebhaften Werke hat zwei oder drei Sätze, und alle ungeraden Fantasien enthalten ein Fugato voller Überraschungen. Einige Sätze erinnern an Tänze wie Allemande, Gavotte, Courante, Bourrée, obschon sie nie so benannt sind. Andere sind besinnlich-mehrstimmig oder spielfreudig-virtuos. Jede gut liegende Tonart kommt einmal vor: Acht stehen im Quintenzirkel in Dur von Es bis E, vier in Moll von c bis e. Da die Gambe sechs Saiten in Quart-Terz-Stimmung und einen grösseren Tonumfang in der Tiefe hat, muss man auf der Viola Oktavierungen in Kauf nehmen und Akkorde entweder brechen oder ausdünnen. Schiele hat das geschickt gemacht, empfiehlt im Vorwort dennoch, das Faksimile (die Druckausgabe in der Edition Güntersberg/Walhall G281 oder online) zu konsultieren.

Georg Philipp Telemann: Fantaisies pour la Basse de Violle TWV 40:26-37, 12 Fantasien bearbeitet für Viola von Brian A. Schiele, EW 1150, €18.50, Edition Walhall Magdeburg

Chormusik für Pfingsten

Stephen Harrap hat Stücke aus 500 Jahren zusammengetragen, die a cappella oder mit Orgelbegleitung zu singen sind.

Deckengemälde «Ausgiessung des Heiligen Geistes» in der Oberseifersdorfer Kirche (Sachsen). Foto (Ausschnitt): Erwin Meier/wikimedia commons

Pfingsten, der fünfzigste Tag nach Ostern, faszinierte und inspirierte mit seinem Sprachenwunder sowie der Aussendung des Heiligen Geistes seit jeher viele Komponisten. Mit Music for the Spirit liegt nun erstmals ein Chorbuch zu diesem Themenkreis vor, das der deutsch-englische Komponist, Dirigent und Kirchenmusiker Stephen Harrap bei Breitkopf und Härtel herausgegeben hat.

Die Sammlung für gemischten Chor a cappella oder mit Orgelbegleitung ist eine wahre Fundgrube und enthält über 500 Jahre Chormusik bedeutender europäischer Komponisten. Ein gewisser Repertoire-Schwerpunkt liegt bei der englischen Chormusik. Auch auf unterschiedliche Längen, Schwierigkeitsgrade und Besetzungen (von 3- bis 8-stimmig) der Stücke wurde geachtet. Sehr empfehlenswert!

Music for the Spirit. Chorbuch zu Pfingsten & anderen Anlässen, hg. von Stephen Harrap, ChB 5384, € 26.90, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Komposition des Tastenmagiers

Die lange hinter dem Eisernen Vorhang verschollenen Kompositionen des jungen Vladimir Horowitz erscheinen in einer eigenen Reihe.

Vladimir Horowitz, vermutlich in den 1930er-Jahren. Unbekannter Fotograf, Quelle: Bain Collection/Library of Congress.

Es ist allgemein bekannt, dass Vladimir Horowitz, der legendäre Pianist, den Notentext oft auf ganz persönliche Weise interpretierte und dabei auch vor Eingriffen nicht zurückschreckte. So veränderte er in Mussorgskis Bilder einer Ausstellung den Klaviersatz in einer Art, die seiner eher orchestralen Klangvorstellung entsprach. Auch Rachmaninows zweite Klaviersonate oder etwa Liszts Mephisto-Walzer spielte er in seinen Privatversionen. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Klaviertranskriptionen, die ebenfalls sein kreatives Temperament bezeugen und einen Teil seines Ruhms begründeten.

Selbst eingefleischte Fans dürfte es aber überraschen zu erfahren, dass Horowitz als Teenager offenbar auch ein ambitionierter Komponist war und eine ganze Reihe originaler Klavierwerke schrieb. Als die Russische Revolution dann aber Kiew erreichte und seine Familie schwer darunter zu leiden hatte, musste er diesen Traum aufgeben. Er versuchte nun, eine Karriere als Pianist zu beginnen, um seine Angehörigen wenigstens finanziell unterstützen zu können. «Hätte die Revolution seiner Familie nicht so hart mitgespielt und ihn zum Konzertieren gezwungen, so hätte die Welt später wohl einen anderen Horowitz kennengelernt», meinte seine ehemalige Mitschülerin Vera Resnikow.

Als Horowitz später im Westen nach seinen Kompositionen gefragt wurde, antwortete er stets, dass die Manuskripte in Russland an einem geheimen Ort verblieben seien. Erst 1986, als er endlich wieder seine Heimat besuchen konnte, erhielt er die Noten zurück. Schott Music hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, im Rahmen der Horowitz-Edition diese bisher unbekannten Werke zu veröffentlichen.

Darunter ist Fragment douloureux op. 14, wohl die letzte Komposition, die noch in Kiew entstanden ist. Das Stück umfasst gerade mal 73 Takte und beginnt «lento, lugubre, misterioso» als eine Art Trauermarsch im 3/4-Takt. Die folgenden Seufzermotive und ausladenden Arpeggien erinnern stark an Rachmaninow, während die zahlreichen Triller ab Takt 27 doch eher auf Skrjabins Handschrift weisen. In stetiger Steigerung von Tempo und Dynamik erreicht das Stück bei Takt 47/48 seinen Kulminationspunkt und kehrt von da an allmählich wieder in die Atmosphäre des Anfangs zurück «poco a poco a tempo lento». (Vermutlich ist hier auch ein Diminuendo zu ergänzen.)

In seiner Kürze ist dieses Fragment douloureux also eine Art Drama im Miniformat. Der Klaviersatz ist pianistisch ziemlich anspruchsvoll und nur von grossen Händen zu bewältigen. Mit viel Gespür werden die Möglichkeiten des Instruments ausgereizt. Man ahnt schon den kommenden Tastenmagier … Gewidmet hat Horowitz das Werk seinem Klavierlehrer Felix Blumenfeld, der ja selber ein grossartiger Pianist und Komponist war.

Vladimir Horowitz: Fragment douloureux pour piano, The Horowitz Edition, ED 23085, € 12.00, Schott, Mainz

Über alle Grenzen hinweg

Sarah Chaksad hat ihr Orchester zu einem 13-köpfigen Ensemble reduziert und beweist mit ihrem neuen Album die Richtigkeit ihres Entscheides. Die neue Formation versteht es, zugleich mutiger und beweglicher zu agieren.

Sarah Chaksad. Foto: zVg

Seit mehr als zehn Jahren steht der Name Sarah Chaksad für Jazz voller prägnanter Motive, gedämpfter Sounds und komplexer Rhythmen. Bis zur Corona-Pandemie war die Saxofonistin, Komponistin und Bandleaderin in erster Linie mit ihrem «Orchestra» unterwegs, mit dem sie auch zwei Alben veröffentlichte. Für ihr neuestes Werk, Together, hat sie ihr Ensemble jetzt nicht etwa erweitert, sondern auf 13 Musikerinnen und Musiker reduziert. Laut der 40-Jährigen ist die aktuelle Formation dadurch beweglicher und geniesst zusätzlichen Raum für Improvisationen.

Seltene Instrumente, ungerade Metren

2022 erklärte Chaksad in einem Interview mit dem Verfasser dieser Zeilen, dass es ihr Anliegen sei, sich immer weiterzuentwickeln, und ihr dabei die Musik als Kraftort diene. Beides schlägt sich in ihren zehn neuen Stücken nieder. Ein Gros der Kompositionen wurden durch den Tod ihres aus dem Iran stammenden Vaters ausgelöst. Das brachte sie dazu, sich intensiver mit traditioneller persischer Musik zu beschäftigen. Mit dem Ergebnis, dass sie ihr dynamisches Klangbild mit Instrumenten wie Eufonium, Ventilposaune und persischer Geige, die im Jazz wenig bekannt sind, erweitert hat.

Hinzu kommt, dass fast alle Lieder auf Together auf ungeraden Metren basieren. Während das verspielte Imagine Peace mit einem 13/8-Takt aufwartet, setzt das atmosphärische Titelstück auf einen 5/8-Takt und weiss insbesondere dank Misagh Joolaees gefühlvollem Solo auf der Kamantsche, einer Spiessgeige, zu gefallen. Auch Nummern wie das elegische Love Letters oder das kecke Lost, das vom elterlichen Leben in Berlin inspiriert wurde, zeigen sich ideenreich, inspiriert und bleiben haften.

Letztlich zeichnet sich das Album durch Tiefenschärfe, mannigfaltige Klangfarben und behutsame Solobeiträge aus. Sarah Chaksad möchte Together zudem als Plädoyer für einen Zusammenhalt über alle Grenzen hinweg verstanden haben – was sich aufgrund der gebotenen Musik, die voller Neugier von Genre zu Genre zieht, bestens nachvollziehen lässt.

Sarah Chaksad Large Ensemble: Together. Clap Your Hands CYH

Line up: Yumi Ito (voc), Hildegunn Øiseth (tp, goat horn), Paco Andreo (vtb), Lukas Wyss (tb), Sophia Nidecker (tuba), Catherine Delaunay (basset horn), Christoph Bösch (fl), Fabian Willmann (ts), Julia Hülsmann (p), Fabio Gouvea (g), Dominique Girod (b), Eva Klesse (dr), Misagh Joolaee (kamancheh), Sarah Chaksad (ss, as, comp)

Die Schweiz a cappella

A-cappella-Stücke in allen Landessprachen, Englisch und Latein von Antognini bis Vögele.

Der Schweizer Jugendchor unter der Leitung von Nicolas Fink anlässlich der CD-Einspielung zu «Swiss Choral Music». Foto: Ruben Ung

Die Schweiz hat durch ihre verschiedenen Landessprachen und den damit verbundenen Kulturräumen im Bereich der Chormusik viel zu bieten. Die schweizerische Föderation Europa Cantat nahm dies zum Anlass, beim Carus-Verlag ein kompaktes Chorbuch herauszugeben, welches diese Vielfalt abbilden und international bekannter machen möchte. Ein anspruchsvolles Unterfangen.

Das Ergebnis ist eine interessante Sammlung mit 28 Stücken unterschiedlicher Länge und Schwierigkeit für gemischten Chor a cappella in allen Landessprachen sowie Englisch und Latein. Enthalten sind Volkslied-Highlights, Werke von bekannten und unbekannteren Komponisten der Schweizer Chormusikszene, Kürzest-Stücke der «Stars» Heinz Holliger und Beat Furrer und neueste Kompositionen der jüngeren Generation, darunter vier Komponistinnen.

Neben wirklich originellen und empfehlenswerten Werken hält auch hier der in der Chormusik inzwischen weitverbreitete, verkaufsorientierte Weichspülsound mit immergleichen Kuschel-Akkorden Einzug. Vielleicht hätte sich der Blick zu wirklich repräsentativen Grössen wie Willy Burkhard, Adolf Brunner, Arthur Honegger oder Frank Martin gelohnt. Als sinnvolle Ergänzungen gibt es aber QR-Codes für die Aussprache der drei rätoromanischen Stücke und schöne Einspielungen aller Werke auf CD mit dem Schweizer Jugendchor.

Swiss Choral Music, Chorbuch Schweiz (SATB), hg. von Patrick Secchiari und Johannes Meister; Carus, Stuttgart.

Bestellungen aus der Schweiz über Editions Henry Labatiaz: Chorbuch CV 2.305/10, Fr. 23.00; Chorbuch mit CD, CV 2.305.00, Fr. 37.00 (günstigere Staffel- und Spezialpreise für Mitglieder SFEC)

 

 

In der Waage

Giorgi Iuldashevi spielt auf «Simplicity» vermeintlich einfache Klavierstücke, als wäre es überhaupt nicht schwer.

Giorgi Iuldashevi. Foto: zVg

«Bemühe dich, leichte Stücke gut und schön zu spielen, es ist besser, als schwere mittelmässig vorzutragen.» Robert Schumanns Tipp aus seinen Musikalischen Haus- und Lebensregeln könnte ein Leitfaden sein für diese wunderbare CD, die beim österreichischen Label Gramola erschienen ist. Der 28 Jahre junge georgische Pianist Giorgi Iuldashevi, der in Zürich studiert hat und auch dort lebt, spielte nicht nur Schumanns bekannte Stücke aus dem Album für die Jugend ein, sondern auch viel anderes, das dem Klavierschüler bekannt sein könnte: Ausschnitte aus For Children von Belá Bartók, aus der Sammlung Játékok von György Kurtág oder auch pädagogisch Motiviertes von Sergei Prokofiew oder Peter Tschaikowsky. Weniger verbreitet, aber nicht minder attraktiv fürs Ohr und die Finger sind die 12 Stückchen des 1933 in Tiflis geborenen Komponisten Nodar Gabunia: Aus dem Tagebuch eines Schülers.

Ja, es klingt kinderleicht – und einem ausgebildeten Berufspianisten, der schon als 12-Jähriger mit Mozarts schwerem Klavierkonzert KV 466 in d-Moll debütierte, so gar nicht auf den Leib geschrieben. Aber, Stichwort Mozart: Das Einfache hat seine Tücken. Und Giorgi Iuldashevi meistert diese nicht nur, sondern zeigt in den so verschiedenen Stücken eine seltene Spannweite an musikalischem Ausdruck. Selbst das Bekannte erscheint in seinen Interpretationen frisch – auch weil er an keiner Stelle verfällt in überlegene Distanz oder ins unnötige Romantisieren. Iuldashevi hält die Waage, und das stets spannungsvoll. Mit Witz garniert er Bartók, mit dem stellenweise nötigen Ernst Tschaikowsky, vor allem begeistern die Tempi und dieser so natürliche Fluss in den Stücken Robert Schumanns.

Wer Pianist ist (oder war), hat sofort wieder Lust aufs neuerliche Ertasten manch hübscher Miniatur. Aber auch dem Hörer tut diese CD einfach nur gut: in ihrem unaufdringlichen Ton, in diesem Ausdruck, der so gar nichts hat von einem verspannten Muskelspiel, das leider verbreitet ist unter Klaviervirtuosen.

Simplicity. Giorgi Iuldashevi spielt Werke von Gabunia, Bartók, Kurtág, Prokofiew, Tschaikowsky und Schumann. Gramola 99291

Klaviertrio für die Geschwister

Zwei Jugendwerke von Jean Sibelius wurden hier erstmals ediert. Gewisse Streicherstellen weisen auf den späteren Sinfoniker voraus.

Familiäres Streichtrio 1885: Jean Sibelius an der Geige, die ältere Schwester Linda am Klavier und der jünger Bruder Christian am Cello. Foto: Natalia Linsén / Wikimedia commons

Ob Jean Sibelius mit der Herausgabe dieser Frühwerke einverstanden wäre? Unterschiedlich sind die Aussagen, die der Komponist im Alter zu seinen damals verlorenen oder unveröffentlichten Kammermusik-Manuskripten machte. Von «Verbrennen» ist da die Rede, ein anderes Mal meinte er: «Es war ja die Zeit, als man sich entwickelte.»

Sibelius komponierte vor und während seiner Studienzeit für seine Geschwister jeden Sommer ein Klaviertrio und führte diese während der Ferien im Verwandten- und Freundeskreis auf. Selbst spielte er den Violinpart. Die Ortsbezeichnungen «Havträsk» und «Korpo» gehen auf diese Entstehungsgeschichte zurück, stammen aber nicht vom Komponisten. Fünf mehrsätzige Trios entstanden in den Jahren 1883 bis 1888. Keines wurde zu Sibelius’ Lebzeiten gedruckt. Später komponierte er keine Werke mehr für diese Besetzung. Die Erben schenkten die Manuskripte der beiden vorliegenden Klaviertrios 1982 der Finnischen Nationalbibliothek.

Die Herausgeber Folke Gräsbeck und Anna Pulkkis haben sich 2021 mit Akribie hinter die Aufbereitung dieser Quellen gemacht. Der kritische Bericht hat in beiden Heften beinahe den Umfang des Notentexts. Vom ersten Satz des «Havträsk»-Trios werden gar zwei Versionen wiedergegeben. Wer sich die Interpretationen im Netz anhört, kommt ganz schön ins Blättern!

Im Vergleich ist das kürzere Trio Havträsk in a-Moll (22 Minuten) das eingänglichere und ganz vom Geist der Romantik beherrschte Stück. An die Interpreten stellt es weniger technische Herausforderungen. Im mehr als halbstündigen Korpo-Trio wird diesen ungleich mehr abverlangt, Sibelius hat als Geiger wohl viel Paganini geübt! Dieses zweite Trio weist auf den späteren Sibelius hin. Besonders der mit «Fantasia» überschriebene zweite Satz experimentiert mit Klangfarben, Spieltechniken und Harmonien. Gelegentlich kommt der Instrumentalsatz etwas hölzern daher, etwa wenn das Klavier alleine spielt und seine Melodie über lange Strecken mit Vierteln begleitet. Wenn dann die Streicher zu zweit übernehmen, meint man allerdings die Tonsprache der späteren Sinfonien zu vernehmen. Dort wirken die formalen Blöcke viel zusammenhängender als in diesen Jugendwerken. Der Meister hat tatsächlich eine grosse Entwicklung gemacht!

Dem Genie des bedeutenden Sinfonikers nachzuspüren, das ist wohl die Legitimation dafür, uns mit seinen Frühwerken auseinanderzusetzen, auch wenn er diese nicht zum Druck freigegeben hat.

Jean Sibelius: Trio a-Moll «Havträsk» JS 207, für Violine, Violoncello und Klavier, hg. von Folke Gräsbeck und Anna Pulkkis, EB 9448, € 39.90, Breitkopf &Härtel, Wiesbaden

id.: Trio D-Dur «Korpo» JS 209, EB 9449, € 39.90

 

Lilis bezaubernde Geigenwerke

Die wenigen Werke für Violine und Klavier von Lili Boulanger sind neu herausgegeben worden.

Lili Boulanger fotografiert von Henri Manuel, 1913. Quelle: Wikimedia commons

Die frühbegabte, aber an einer chronischen Lungenkrankheit leidende Lili Boulanger (1893–1918) konnte mit Hilfe ihrer älteren Schwester Nadia (1887–1979) Komposition studieren und wurde von wichtigen Komponisten gefördert. Mit 23 Jahren gewann sie den Prix de Rome. Unter den 50 erhaltenen Werken finden sich weltliche und geistliche Chorkantaten, sogar eine unvollendete Oper. Um die Verbreitung der Werke nach Lilis Tod kümmerte sich Nadia, die bis ins hohe Alter eine berühmte Kompositions- (Copland, Piazzolla, Glass, Bacewicz …) und Klavierlehrerin (Lipati) war.

Vier Stücke für Violine und Klavier sind von Lili Boulanger überliefert: D’un matin de printemps (1917/1918), Nocturne (1911), Introduction – Cortège (1914) und Pièce (1910). Die Herausgebenden haben die Erstdrucke als Vorlagen für die Neuedition herangezogen. Autografe und Alternativ-Fassungen dienten nur zur Klärung herausgeberischer Fragen.

Pièce der Siebzehnjährigen ist lediglich handschriftlich überliefert und hier so getreu wie möglich wiedergegeben. Dieses mystische, langsame Stück mit der wellenförmigen Klavierbegleitung birgt überraschende chromatische Harmoniefortschreitungen, enharmonische Umdeutungen und farbige Dissonanzen. Auch das rassige erste, das zarte zweite und das flamencoartige dritte Stück haben uns beim Musizieren bezaubert. Sie wurden 1972 von Yehudi Menuhin uraufgeführt.

Lili Boulanger: Die Violinwerke, für Violine und Klavier, hg. von Edmund Wächter und Elisabeth Weinzierl, VLB 232, € 19.50, Schott, Mainz

Zwei Quellen in einer Ausgabe

Sowohl das Autograf wie ein späteres Manuskript von fremder Hand sind in dieser Ausgabe berücksichtigt.

Gaetano Donizetti: Eigenkarikatur, 1843. Quelle: Wikimedia commons

Das Concertino für Englischhorn und Orchester von Gaetano Donizetti ist eines der bekanntesten und beliebtesten Werke für diese Besetzung. Die Situation der Quellen und der Überlieferung ist vielschichtig und kompliziert; die Unklarheiten reichen bis zur Wahl der Tonart und der Struktur der einzelnen Variationen. Eine neue Ausgabe, die kürzlich bei Boosey & Hawkes erschienen ist, beschreibt und berücksichtigt im Detail alle Quellen und wägt insbesondere zwischen dem Autograf (aus Paris) und einer späteren Handschrift (nicht von Donizetti, aus Bologna) ab. Als überaus erfreuliche und gewinnbringende Zutat enthält die gelungene Edition eine doppelte Solostimme, bei welcher beide Varianten übereinander gedruckt sind. Gerade bei den Variationen bietet es sich an, sich bei den Wiederholungen abwechslungsweise bei beiden Varianten zu bedienen.

Gaetano Donizetti: Concertino for English Horn 1816, Critical edition by Stefaan Verdegem, Piano reduction with solo part, BB 3571, Druckausgabe € 28.00, Boosey & Hawkes / Bote & Bock, Berlin  

 

 

234 Millionen zu Null – eine Aufgabe für die PGM

Beim Treffen der Parlamentarischen Gruppe Musik vom 28. Februar kamen erstaunliche Zahlen zum Streaming von Schweizer Musik zur Sprache. Sie legen nahe, dass die Politik handelt.

Foto: Freigeist67/depositphotos.com

Neben Stefan Müller-Altermatt, dem Präsidenten der Parlamentarischen Gruppe Musik PGM, waren die Nationalrätinnen Estelle Revaz, Cellistin, und Vroni Thalmann-Bieri, Volksmusikerin, anwesend, als es am jüngsten Treffen der Gruppe um die Benachteiligung von Schweizer Musikerinnen und Musikern auf Streaming-Plattformen ging.

Bei den Pro-Kopf-Ausgaben für Tonträger (sprich: aufgenommene Musik) belegt die Schweiz weltweit Rang 6. 234 Millionen Franken gaben Schweizer Kundinnen und Kunden 2023 dafür aus, davon 88 Prozent für Streaming. Diesem enormen Betrag gegenüber steht die Null: Kein einziger der sogenannten Digital Service Provider (DSP) beschäftigt auch nur einen Angestellten, der sich hauptsächlich um Schweizer Musik kümmert, kein einziger betreibt hierzulande eine Niederlassung. Die Kuratorinnen und Kuratoren bearbeiten den Schweizer Markt nebenher, bei Marktführer Spotify von Berlin aus als «Zugabe» zum zehnmal grösseren Deutschen Markt. Sie kennen sich mit der hiesigen Szene nicht aus, haben auch keine Zeit, sich damit zu beschäftigen. Noch weniger Beachtung finden Acts aus der Romandie und dem Tessin. Dementsprechend kommt Schweizer Musik auf den Playlists, die sie zusammenstellen, auch kaum vor. Die Untervertretung verstärkt sich durch die von Algorithmen auf dieser Grundlage erstellten weiteren Playlists. Es besteht eine deutliche Diskriminierung gegenüber Acts aus vergleichbaren Ländern.

Bisherige Vorstösse von Verbänden in dieser Sache haben nichts gefruchtet. Nun hat Stefan Müller-Altermatt eine Motion eingereicht, die verlangt, dass DSP ab einer gewissen Grösse eine Schweizer Redaktion mit Sitz in der Schweiz haben. Sie wird in einer der nächsten Sessionen von den Räten behandelt.

Ausführlicher Bericht über Schweizer Musik auf dem Streaming-Markt

E-Bass spielen mit dem Plektrum

Das Lehrmittel von Christoph Herder bietet klare Anleitungen und eröffnet neue Klangwelten.

Foto: wachiwit/depositphotos.com

Im Doppelstockzug gibt es diejenigen, welche immer oben sitzen und die Untensitzenden. Es gibt Migros- und Coop-Kinder. Sogar der Wolf kennt Freunde und Feinde. Viele Aspekte unseres Lebens teilen wir auf in Entweder-oder. Dabei täte uns etwas mehr Diversität enorm gut. Nicht nur als Gesellschaft, sondern auch beim E-Bassspiel. Es sind die kleinen Dinge, die uns das bewusst machen. In diesem Fall ist das kleine Ding etwa 3 mal 3 Zentimeter gross und heisst Plektrum.

Die meisten Bassistinnen und Bassisten spielen ausschliesslich mit den Fingern oder mit dem Plektrum. Die jeweils andere Technik wird schlicht ignoriert, wenn nicht sogar abgewertet. Diese Prägung führte bei mir zu einem regelrechten Erweckungserlebnis, als ich mich mal längere Zeit mit dem Plektrum beschäftigte. Das ist nicht nur eine andere Welt, das ist eine wunderbare Ergänzung zu meinem Spiel. Nur – wie geht das genau? Wie übe ich das richtig und wer hat mir ein paar Ratschläge zum Einstieg?

Wie immer kann mensch selber probieren. Irgendwann klappte das mit dem Feuer, dann wird das mit dem Plektrum auch nicht so schwer sein. Aber mit dem Buch Plektrum Bass von Christoph Herder gelingen Erfolgserlebnisse doch etwas schneller. Dabei wird er nicht kompliziert. Er beleuchtet die Welt des Plektrumspiels in einer seriösen Auslegeordnung, gibt Tipps, ordnet die technischen Aspekte und stellt Übematerial zur Verfügung. Die im Grundsatz einfachen Übungen bauen aufeinander auf und helfen sowohl Einsteigern als auch Umsteigerinnen. Belohnt wird der Übeeinsatz mit faszinierenden (neuen) Klangwelten und einem fundierten technischen Know-how.

Einziger Nachteil: Noch sind Lehrmittel für Plektrum-Bass charmante Nischenprodukte. So auch dieses, welches aus dem Jahr 2020 stammt und dessen dazugehörige MP3-Files auf einer CD mitgeliefert werden. Doch wer irgendwo noch ein Laufwerk auftreiben kann, dem stehen auch die knackigen Play-along-Grooves zur Verfügung.

Christoph Herder: Plektrum Bass für Vier- und Fünfsaiter, Alles, was du zur Plektrumtechnik wissen musst!, mit CD und Plektrum, 128 S., Best.-Nr. 20287G, € 23.95, Alfred Music, Köln

Bläserquintette aus dem 20. Jahrhundert

Das Art’Ventus Quintet spielt Werke von Paul Mieg, Paul Huber, Gion Antoni Derungs und Paul Juon.

Art’Ventus Quintet, v. li: Raquel Saraiva, Tiago Coimbra, Horácio Ferreira, Paula Soares, Nuno Vaz. Foto: zVg

Schweizer Komponisten haben für das 1955 gegründete Stalder-Quintett unzählige Bläserquintette komponiert, aber nicht diejenigen, die das Art’Ventus Quintet auf seiner neuen CD aufgenommen hat. Das aus einigen der besten jungen portugiesischen Musikerinnen und Musikern bestehende Ensemble spielt erst seit drei Jahren zusammen, hat aber bereits ein sehr hohes Niveau erreicht. Die Flötistin und der Oboist haben in der Schweiz studiert. Für ihr Programm Swiss Treasures haben sie sich für Werke von Peter Mieg, Paul Huber, Paul Juon und Gion Antoni Derungs entschieden; die ersten beiden sind Ersteinspielungen. Die grafisch ansprechende CD enthält auch einen interessanten Booklettext von Dominik Sackmann.

Wenn Goethe über das Streichquartett sagte, dass man vier vernünftige Leute sich unterhalten höre, sollte das eigentlich trotz etwas grösserer Besetzung auch für ein Bläserquintett gelten. Bei Peter Miegs Quintett, das 1977 beendet wurde, hat man eher das Gefühl, dass alle ständig reden und niemand die anderen zu Wort kommen lässt. Ein Blick in die Partitur zeigt denn auch, dass die meiste Zeit alle fünf Instrumente gleichzeitig spielen, was wirklich ein Schwachpunkt der Komposition ist. Die Satzanfänge klingen vielversprechend, aber das Interesse erlahmt schnell, weil die Musik unglaublich repetitiv ist.

Bedeutend besser gelungen sind die Quintette von Paul Huber, zu seinen Lebzeiten eine musikalische Institution in St. Gallen, und Gion Antoni Derungs, der ein wichtiger Vertreter der Bündner Musik war. Beide Werke, 1963 bzw. 1977 komponiert, halten an der Tonalität fest, was aber aus heutiger Optik kein Merkmal mangelnder Aufgeschlossenheit oder Qualität sein kann. Das portugiesische Quintett identifiziert sich hörbar mit den Stücken und gewährleistet ideale Aufführungen. Das Werk von Huber besteht aus einem expressiven, melancholischen Adagio und einem virtuosen Scherzino, in dessen Trio man Ferdinand Fürchtegott Hubers Volkslied Luegid vo Berg und Tal unschwer erkennen kann. Derungs’ Divertimento, etwas moderner als die anderen Stücke auf der CD und stilistisch schwierig einzuordnen, ist, entgegen dem Titel, kein besonders heiteres Stück und erschliesst sich vielleicht nicht beim ersten Hören.

Konditoren aus dem Kanton Graubünden waren in ganz Europa erfolgreich und kamen oft zu beachtlichem Wohlstand, wovon Villen von Zurückgekehrten im Puschlav und Bergell Zeugnis ablegen. Paul Juon, in Moskau geboren, war Sohn eines Bündner Zuckerbäckers aus Masein. Er erhielt eine fundierte musikalische Ausbildung und studierte bei Anton Arenski und Sergei Tanejew Komposition. Er selbst lehrte später an der Berliner Musikhochschule, bevor er die sechs letzten Jahre seines Lebens in Vevey verbrachte. In seiner Musik wird man Schweizer Spuren vergeblich suchen, aber Kontakte zum Schweizer Musikleben gab es. So ist das hier eingespielte Bläserquintett op. 84 von 1928 dem langjährigen Präsidenten des Bernischen Orchestervereins Jakob Vogel gewidmet.

In den Zwanzigerjahren entstanden einige der bekanntesten und meistgespielten Bläserquintette, so etwa diejenigen von Paul Hindemith, Carl Nielsen, Hanns Eisler, Arnold Schönberg und Jacques Ibert. Juons Quintett kann den Vergleich mit diesen Werken mühelos aushalten. Es ist handwerklich untadelig gearbeitet, kraft- und fantasievoll, harmonisch oft kühn und fordert jedes Instrument heraus. Die Neuaufnahme des Art’Ventus Quintet ist zwar sehr energiegeladen, der erste Satz wird aber merklich zu langsam gespielt, was ihm zuviel Erdenschwere verleiht. Die Dynamik hätte an einigen leiseren Stellen besser respektiert werden müssen, da es der Interpretation noch etwas mehr Relief verliehen hätte.

Insgesamt ist Swiss Treasures eine empfehlenswerte CD, da sie Werke etwas weniger bekannter Schweizer Komponisten dokumentiert.

Swiss Treasures. Chamber Music for Wind Quintet. Art’Ventus Quintet (Paula Soares, Flöte; Tiago Coimbra, Oboe; Horácio Ferreira, Klarinette; Nuno Vaz, Horn; Raquel Saraiva, Fagott). Prospero PROSP0081

 

Die Musik der Aneignung

Mit Karte, Uhr und Partitur im Zentrum seiner Betrachtungen schreibt Johannes Schöllhorn über Eroberung und die dazugehörige Musik.

Bild: PantherMediaSeller/depositphotos.com

In seiner Musik hat sich der deutsche Komponist Johannes Schöllhorn (*1962) immer wieder mit der Musik anderer beschäftigt, hat sie transkribiert und transformiert, hat Musik über Musik gemacht, so über Bach und Ravel, Purcell und Satie und wunderbar über Gabriel Fauré. Mehrere dieser Stücke finden sich auf der Doppel-CD Sérigraphies (bastille musique 20).

Schöllhorn ist also selber ein Experte des Sich-Aneignens und Sich-Anwandelns. Um die Dialektik dieses Vorgehens geht es auch in seinem 500 Seiten starken Buch, einer teilweise losen und doch innerlich konsistenten Sammlung von kürzeren Texten. Die Eroberung der Welt steht dabei im Zentrum sowie ihre Begleitmusik, die immer auch eine der Aneignung, ja des Diebstahls war – und eine des Ordnens: Deshalb spielen Karte, Uhr und Partitur im Titel die Hauptrolle.

Unsere europäische Kultur hat sich mit Hilfe dieser Instrumente den Globus zu eigen gemacht. Diesen Spuren folgt Schöllhorn, zum Buchdruck und über die Meere, in die Malerei und in die Kompositionstechnik, in die Vergangenheit wie in eine Zukunft. Und weil er einen breiten Horizont hat, kann man mit ihm enorm viel lernen. Das Buch scheint schnell geschrieben und liest sich auch schnell. Diese Spontaneität ist erfrischend, voller Verve, manchmal packt den Autor die Wut, manchmal verwildern und verwirren die Gedanken, denn Schöllhorn wagt sich mithilfe guter Sekundärliteratur auf fremdes Terrain.

Das Ganze ist unsystematisch, bündelt nicht, sondern legt Fäden aus, die man zu einem Kernpunkt zurückverfolgen könnte. Ein paar Lücken möchte man gerne schliessen, anderes genauer wissen, und oft hat man beim Lesen Einwände, viele sogar, aber die sollen einem recht sein. Denn das Buch ist anregend – und es lässt uns bei allen Zweifeln und Verzweiflungen nicht hoffnungslos, denn «eines kann Musik immer – uns trösten».

Johannes Schöllhorn: Karte, Uhr und Partitur. Variationen und Volten über Eroberung und ihre Begleitmusik, hg. von Rainer Nonnenmann, 512 S., € 24.00, MusikTexte, Köln 2022, ISBN 978-3-982467-0-2

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