Luzerner Kulturförderer tritt zurück

Nach acht Jahren als Kulturbeauftragter des Kantons Luizern tritt Stefan Sägesser im März 2023 zurück. Seine Stelle wird im Rahmen der Umstrukturierung der Dienststelle Hochschulbildung und Kultur neu ausgeschrieben.

Stefan Sägesser. Foto: zVg

Sägesser ist seit Mai 2015 Leiter der Kulturförderung des Kantons Luzern. Er hat laut der Mitteilung des Kantons insbesondere den Aufbau und die Etablierung der regionalen Kulturförderung in den vergangenen acht Jahren vorangetrieben, in Kooperation mit den Partnerorganisationen im Kulturbereich.

Die Einführung und Weiterentwicklung der selektiven Produktions- und Werkförderung fällt auch in seine Amtszeit. Ein weiterer Schwerpunkt legte Sägesser auf die Stärkung der Zentralschweizer Zusammenarbeit in den Bereichen Theater, Tanz, Musik und Film sowie die Förderung der entsprechenden Vernetzungs- und Vermittlungsstellen. Nebst zahlreichen Projekten standen in den letzten knapp drei Jahren die Massnahmen wie die Ausfallentschädigung zur Bewältigung der Corona-Pandemie stark im Fokus seiner Aktivitäten.

Ab kommendem Frühling wird sich Stefan Sägesser nach einer kurzen Auszeit neuen Projekten widmen und sich damit beruflich neu orientieren. Seine Stelle wird im Rahmen der Neustrukturierung der bisherigen Dienststelle Hochschulbildung und Kultur DHK zu einer eigenen Dienststelle Kultur ausgeschrieben.

Kammerorchester Genf verpflichtet Merlin

Das Orchestre de Chambre de Genève hat Raphaël Merlin, den Cellisten des Quatuor Ebène, zum künstlerischen und musikalischen Leiter ernannt. Er folgt in dem Amt mit Beginn der Saison 2023/24 auf Arie van Beek.

Raphaël Merlin (bild: zVg)

Merlin begann seine musikalische Ausbildung am Konservatorium von Clermont und in Paris bei Igor Kiritchenko, Xavier Gagnepain und Philippe Müller (Cello), Hortense Cartier-Bresson (Kammermusik) und Janos Komives (Dirigieren). Seit 2002 ist er Cellist des  Quatuor Ebène. 2014 gründete er überdies das Ensemble Les Forces majeures.

Das OCG arbeitet zudem künftig mit zwei Künstlern zusammen, die im Rahmen der Konzertsaison des Orchesters auftreten werden. Es ist dies zum einen die junge Dirigentin Holly Hyun Choe, die bereits in ganz Europa und den USA gastierte, zum andern möchte das Ensemble seine Verbindung zu Gábor Takács-Nagy, einem langjährigen Freund des Orchesters, stärken.

Barras leitet Walliser Kulturförderung

Der Walliser Staatsrat hat Magali Barras zur Leiterin der Sektion Kulturförderung (SKF) ernannt. sie folgt in dem Amt auf Hélène Joye-Cagnard.

Magali Barras. Foto: zVg

Magali Barras wird ihr Amt laut der Mitteilung des Kantons am 1. April 2023 antreten. Die aus Sitten stammende Magali Barras, die an der Universität Lausanne ein Lizentiat in Französisch, Englisch und Archäologie erworben hat und seit 2003 als professionelle Journalistin tätig ist, übte ihren Beruf zunächst bei der Edipresse-Gruppe aus, bevor sie 2008 ins Wallis zurückkehrte und in der Redaktion von Canal9 | Kanal9 arbeitete.

Als Kulturverantwortliche des Regionalfernsehens verfüge Magali Barras über «ausgezeichnete Kenntnisse der Walliser Kulturszene und ein sehr breites Netzwerk, das sie unter anderem durch Reisen durch den Kanton für die Kulturmagazine L’agenda und Tandem während den letzten Jahren aufgebaut hat», so der Kanton weiter.

Finnische Chormusik

In den Liedern op. 18 und op. 65. vertonte Sibelius Naturbilder und Liebesromanzen für gemischten Chor a cappella.

Finnische Chormusik
Sibelius-Denkmal in Helsinki. Foto: twabian/depositphotos.com

Der sowjetisch-finnische Winterkrieg von 1939 ähnelt in vielerlei Hinsicht dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine; und Finnland ist damit wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Besonders vor den beiden schrecklichen Weltkriegen war in Skandinavien Chorgesang Ausdruck politischer, liberal-nationaler Emanzipation. Der Komponist Jean Sibelius ist bis heute für Finnland die alles überstrahlende Identifikationsfigur, ähnlich wie Edvard Grieg für Norwegen. Und die Singende Revolution von 1989 im Baltikum zeigt, dass auch die Kraft der Lieder durchaus relevant sein kann.

Der Verlag Breitkopf & Härtel hat nun in seiner Serie Chorbibliothek zwei vorbildliche Urtext-Einzelausgaben aus der Gesamtausgabe von Jean Sibelius‘ Werken veröffentlicht: die frühen Vier Lieder aus op. 18 und die Zwei Lieder op. 65, jeweils für gemischten Chor a cappella. Die relativ kurzen Stücke zeichnen wunderbare Naturbilder und Liebesromanzen. Wegen ihres moderaten Schwierigkeitsgrades und aufgrund der Tatsache, dass die Schrift der finnischen Sprache fast phonetisch ist, sind sie sehr empfehlenswert für Laienchöre. Neben ausführlichen Vorworten gibt es zusätzlich singbare deutsche Übersetzungen. Eine echte Bereicherung.

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Jean Sibelius: Vier Lieder für gemischten Chor a cappella aus op. 18, hg. von Sakari Ylivuori, Chorpartitur, ChB 5372, € 7.50, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

id.: Zwei Lieder op. 65, ChB 5373, € 8.70

Spielpraktische Erörterungen

Eine Auseinandersetzung mit aufführungspraktischen Fragen ist auch für das 19. Jahrhundert nötig. In seiner Dissertation hat Burkhard Wind Mendelssohns Orgelwerke unter diesem Gesichtspunkt betrachtet.

Spielpraktische Erörterungen
Ausschnitt aus dem Buchcover

In seiner Besprechung von Band 7 der Studien zur Orgelmusik (SMZ 3/2020) hatte der Rezensent bedauert, dass der 2018 im Butz-Verlag erschienene Band zum Orgelwerk Felix Mendelssohns (hg. von Birger Petersen und Michael Heinemann) trotz einer Fülle an analytischen und historischen Informationen nur wenig auf explizit spielpraktische Fragen der Interpretation eingeht. Das vorliegende Buch (es handelt sich um eine Doktorarbeit, vorgelegt an der Musikhochschule Frankfurt) scheint nun erfreulicherweise eine Art «Komplementarität» dazu zu schaffen. Unter Verwendung umfassender Quellentexte aus dem historischen Umfeld des Komponisten beleuchtet der Verfasser Burkhard Wind die wesentlichen aufführungspraktischen Aspekte der Orgelmusik Mendelssohns (und darüber hinaus ganz generell der Musik der deutschen Frühromantik), d. h. Fragen zur Fingersetzung, Pedalspieltechnik, Artikulation, Phrasierung und Interpunktion, Akzentuierung, Ornamentik und Tempo. Einzig Mendelssohns instrumentale Vorlieben und seine Registrierpraxis werden vom Autor – unter Verweis auf bereits existierende Arbeiten – nicht weiter ausgeführt. Die Fülle des Materials zeugt von einer akribischen Sichtung der vorhandenen Primärquellen, in erster Linie deutsche Orgelschulen aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (oft für die Lehrerausbildung an Seminarien geschrieben und daher relativ grundlegend), Klavierschulen sowie musikästhetische Schriften aus der Zeit Mendelssohns und seiner Lehrer. Dazu kommt eine gründliche Auseinandersetzung mit zahlreichen Sekundärquellen rund um Mendelssohns Orgelmusik bis in die jüngste Zeit, die im einleitenden «Literaturbericht» knapp dargestellt und dann in den einzelnen Kapiteln teilweise noch eingehender – teilweise auch kritisch – kommentiert werden.

Fazit: eine wichtige und grundlegende Arbeit, die auf eindrückliche Weise zeigt, dass eine vertiefte Auseinandersetzung mit aufführungspraktischen Fragen auch bezüglich der Musik des 19. Jahrhunderts nötig geworden ist, da unsere Zeit durchaus nicht mehr in einer ungebrochenen «Traditionslinie» zur Epoche Mendelssohns steht.

Burkhard Wind: Zur Aufführung der Orgelwerke Felix Mendelssohn Bartholdys, 280 S., € 48.00, Georg Olms, Hildesheim u.a, 2021, ISBN 978-3-487-16935-1

Aufatmen im Instrumentenhandel

Die befürchteten gravierenden Registrierungspflichten für Fernambukholz, die den Handel und Transport vieler Instrumentenbögen betroffen hätten, sind vorerst vom Tisch.

In der Werkstatt eines Bogenbauers. Foto: jonlauriat/depositphotos.com

Bei der CITES-Konferenz CoP19, die am 25. November 2022 in Panama zu Ende ging, wurde laut dem Deutschen Musikrat beschlossen, dass Fernambukholz im Appendix II des Artenschutzabkommens bleibt. Damit sind die befürchteten gravierenden Registrierungspflichten für Fernambukholz, die den Handel und Transport vieler Instrumentenbögen betroffen hätten, vorerst vom Tisch. Lediglich für die erstmalige Ausfuhr aus Brasilien bedarf Fernambukholzes nun einer Genehmigung.

Die Entscheidung, Fernambukholz nicht in den Appendix I des Artenschutzabkommens zu transferieren, bedeutet laut Christian Höppner, dem Generalsekretär des Deutschen Musikrates, für das Musikleben ein weiterhin relativ barrierefreies Reisen und Handeln mit aus Fernambukholz gefertigten Bögen. Dies sei für das internationale Musikleben ebenso bedeutsam wie für das in Deutschland besonders verwurzelte Traditionshandwerk Bogenbau.

Schumanns schreiben in die Schweiz

Die Korrspondenzen mit Freunden und Künstlerkollegen geben einen ungeahnten Einblick in den Aufschwung des hiesigen Musiklebens ab 1850.

Robert und Clara Schumann 1847. Lithografie von Eduard Kaiser, Wikimedia commons

Die Schumann-Briefedition ist ausserordentlich umfangreich – es ist schier unglaublich, was Robert und Clara alles geschrieben haben. Soeben sind die «Briefwechsel mit Theodor Kirchner, Alfred Volkland und anderen Korrespondenten in der Schweiz» erschienen, die einen spannenden Einblick in die Entwicklung der Musik hierzulande bieten.
Am umfangreichsten ist der Briefwechsel mit Theodor Kirchner, der auf Empfehlung von Mendelssohn und Schumann ab 1843 in Winterthur eine Organistenstelle bekleidete und den in späteren Jahren eine enge Freundschaft mit Clara Schumann verband. Der grösste Teil des über 100 Schriftstücke umfassenden Konvoluts stammt aus der Feder Clara Schumanns, leider sind viele Kirchner-Briefe verschollen. Dank Clara Schumanns Beiträgen erfährt man aber einiges zu Kirchners Wirken in der Schweiz sowie indirekt zu Jakob Rieter-Biedermann.

Der Winterthurer Verleger, bei dem Clara Schumann Werke ihres verstorbenen Mannes herausbrachte, gehört zu einer grossen Anzahl von Briefadressaten, deren Schreiben oft nur wenige Seiten umfassen. In Basel war es etwa das Ehepaar Riggenbach-Stehlin, das Clara Schumann 1857 bei einem Konzert dort kennengelernt hatte, worauf sich bald eine Freundschaft ergab. Insgesamt sind 58 Briefe nachzuweisen, von denen allerdings nicht alle erhalten sind.

Ein besonderes Beispiel ist der Komponist Wilhelm Baumgartner, von dem nur ein einziger Brief vom Dezember 1851 überliefert ist. Darin stellt er Robert Schumann als Widmungsträger seine Klavierlieder op. 10 vor. Es sind gerade solche «Kleinst-Korrespondenzen», die ein umfassendes Bild ergeben. Und zwar nicht allein durch die Briefe selbst, sondern durch die überaus hilf- und lehrreiche Editionsarbeit von Annegret Rosenmüller. Nicht nur der Anmerkungsapparat ist akribisch gestaltet, zu jeder Person gibt es eine Kurzbiografie, in der die Beziehung zu den Schumanns und zur Schweiz beleuchtet ist.

Damit schafft Rosenmüller eine wahre Fundgrube, man kann sich verweilen und lernt dank ihrer umfassenden Recherchen viel über den seit 1850 einsetzenden gewaltigen Aufschwung der Musik in der Schweiz. So etwa im kurzen Briefwechsel mit dem Basler Komponisten August Walter oder mit dem Musiker Heinrich Szadrowsky, der in St. Gallen für Clara Schumann ein Gastspiel ausrichtete, das offenbar durch Rieter-Biedermann vermittelt worden war. Oder vom Briefpartner Joseph Viktor Widmann, einem Weggefährten Brahms’. Letzterer hatte seine Freundin Clara 1889 in Baden-Baden mit dem Ehepaar Widmann bekannt gemacht.

Die «Schweizer Briefe» sind insgesamt so zahlreich, dass es zweier Teilbände mit insgesamt über 1000 Seiten bedarf, um alles darin unterzubringen.

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Schumann-Briefedition, Serie II Briefwechsel mit Freunden und Künstlerkollegen, Band 10, Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit Theodor Kirchner, Alfred Volkland und anderen Korrespondenten in der Schweiz, hg. von Annegret Rosenmüller, 2 Teilbände, 1121 S., € 158.00, Dohr, Köln 2022, ISBN 978-3-86846-021-6

Zu allen Belangen des Orchesters

Orchester und Ensembles weltweit, Geschichte und Aufführungspraxis, Komponisten und Dirigenten sowie Orchesterpraxis – zu all dem gibt das «Lexikon des Orchesters» Auskunft.

Foto: Samuel Slanipar/unsplash.com

Eigentlich ist es eine wunderbare Idee, dem Orchester eine umfangreiche Enzyklopädie zu widmen. Der Laaber-Verlag, der sich dieser Herausforderung gestellt hat, entschied sich, sowohl Artikel über einzelne Orchester, Länder, Dirigenten und Dirigentinnen, Instrumente und Sachthemen (z. B. Arbeitsvertrag, Generalmusikdirektor, Leihmaterial, Probespiel oder Taktstock) aufzunehmen, aber auch solche über Komponistinnen und Komponisten, die für Orchester geschrieben haben. Verfasst wurden die Artikel von weit über 200 Beteiligten. Aufgrund der Themenvielfalt ergeben sich rund 1500 Seiten, die auf zwei schwergewichtige Bände verteilt sind. Leider sind die Beiträge aber qualitativ sehr unterschiedlich.

Wenn man die Komponistenbiografien etwas genauer studiert, finden sich Passagen, die nicht überzeugen. Der Autor des Artikels über Charles Koechlin schreibt etwa, dass die Liebe zur elsässischen Volksmusik dessen Musik präge, was aber nicht zutrifft. Mehrere Werktitel von Koechlin sind falsch geschrieben, dafür wird auch noch ein Werk genannt (Les temples), das es gar nicht gibt. Eher unverständlich ist die Beobachtung: «In seinen Orchesterwerken verwendet Koechlin häufig kontrapunktische Verfahren bis hin zum Kontrapunkt mit komplexen akkordischen Gebilden.»

In anderen Artikeln stehen Binsenwahrheiten wie «Bewusst verleiht er überdies jedem seiner Stücke ein ganz eigenes Gesicht» (Peter Eötvös) oder diskutable Schlussfolgerungen wie «Suks kompositorisches Vermächtnis Epilog beeindruckt hingegen besonders hinsichtlich der konsequent der Moderne zugewandten Tonsprache, womit er zugleich normativen Vorstellungen von Spätwerken widerspricht» (Josef Suk). Ob einem im Artikel über Franz Schreker die Feststellung «Profane Topoi verschleiern bei Schreker oft die Trennung von artifizieller und funktionaler Musik und suggerieren neue szenische Kontexte» wirklich weiterhilft, bleibe dahingestellt.

Dass in den Werkverzeichnissen die Stücke oft sehr subjektiv ausgewählt sind, kann man noch nachvollziehen, dass aber zum Beispiel bei Peter Eötvös, Kaija Saariaho, Georg Friedrich Haas oder Erkki-Sven Tüür keine Werke nach 2014 erwähnt sind, macht das Lexikon nicht gerade aktuell.

Selbstverständlich enthält das Lexikon viele Dirigentenlebensläufe. Wie ist es aber zu erklären, dass von drei der bedeutendsten tschechischen Dirigenten, nämlich Václav Talich, Karel Ančerl und Václav Smetáček, keine detaillierten Biografien abgedruckt sind? Ein Teil des Textes zu Teodor Currentzis könnte mit seinem überschwänglichen Lob einem Werbeprospekt entnommen sein: «Ohne Taktstock, mit ursprünglicher, eruptiver Gestik fordert Currentzis bedingungslose Hingabe an Ernst und Wahrheit der Musik ohne Rücksicht auf Traditionen und Hörgewohnheiten.»

Besonders gespannt ist man in einem Lexikon des Orchesters auf die Artikel über die einzelnen Orchester und die Orchesterkultur in verschiedenen Ländern. Hier gibt es natürlich eine Fülle an Informationen, besonders, was die deutschen Orchester betrifft. Unnötig viele Namen sind aber falsch geschrieben (Beispiele: Frank von Hoesslin statt Franz von Hoesslin, Toshiyuki Kamioki statt Kamioka, beide frühere GMD in Wuppertal). Dass der tschechische Dirigent Jiří Bělohlávek 2017 verstorben ist, müsste in einem 2021 erschienenen Lexikon erwähnt werden, wie auch die Tatsache, dass die Dresdner Philharmonie bereits seit 2017 in einem neuen Konzertsaal innerhalb des Dresdner Kulturpalastes auftritt. Den Details in den Orchesterartikeln ist ebenso wenig zu trauen. So wird etwa behauptet, dass Henzes Symphonie Nr. 7, ein Auftragswerk der Berliner Philharmoniker, vom RSO Stuttgart uraufgeführt worden sei. Viele Chefdirigentenwechsel am Ende der 2010er-Jahre sind in den entsprechenden Orchesterartikeln ebenfalls nicht erwähnt, was die Relevanz des Lexikons doch ziemlich schmälert.

Wenn man sich für die norwegische Musik- und Orchesterkultur interessiert, wird man mit sehr unbefriedigenden Informationen abgespeist. Die wichtigen Orchester seien Oslo Filharmonien mit 69 Mitgliedern (in Wirklichkeit sind es aber 108), das Norwegische Rundfunkorchester, das Sinfonieorchester von Kristiansund (ein 1919 gegründetes Amateurorchester) und das Orchester der Norwegischen Nationaloper. Nicht erwähnt werden die mindestens ebenso bedeutenden Orchester von Bergen, Stavanger, Trondheim, Tromsø/Bodø und Kristiansand (nicht zu verwechseln mit Kristiansund).

Nicht besser ergeht es aber der Schweiz: Ausführlich beschrieben werden nur das (bis 1987 existierende) Basler Kammerorchester (nicht zu verwechseln mit dem Kammerorchester Basel), das Orchestre de la Suisse Romande und das Tonhalle-Orchester Zürich. Besonders kärglich – und ausserdem veraltet oder einfach falsch – sind die Angaben über die Orchester im Kanton Bern: «Seit 1877 gibt es Das Berner Symphonieorchester; 2011 wurden das Orchester sowie das Stadttheater Bern in der Stiftung Konzert Theater Bern zusammengeführt. Seit 2010 hat Mario Venzago die Position des Chefdirigenten inne. Im Jahr 2012 fusionierten die 1969 gegründete Sinfonie Biel Solothurn mit dem Orchester Theater Biel Solothurn zum Sinfonie Orchester Biel Solothurn. Seit dem Jahr der Fusion wird das Orchester von Kaspar Zehnder geleitet.»

Da auch einige Artikel über Sachthemen und Instrumente von Autoren und Autorinnen verfasst wurden, die sich mit ihrem Thema nur oberflächlich beschäftigt haben, kann das Lexikon des Orchesters in mancher Hinsicht nicht überzeugen.

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Lexikon des Orchesters. Orchester und Ensembles weltweit, Geschichte und Aufführungspraxis, Komponisten und Dirigenten, Orchesterpraxis, hg. von Frank Heidlberger, Gesine Schröder und Christoph Wünsch, 2 Bd. mit zus. 1488 S., € 198,00 (bis 31.12.2022), Laaber, Lilienthal 2021, ISBN 978-3-89007-551-8

Robert Walser vertont

Roman Brotbeck erzählt und analysiert auf immer wieder neue Weise, wie Walsers Dichtung von 1912 bis 2021 in Musik gebracht wurde.

Robert Walser, in Zürich um 1900. Wikimedia commons

Gern wüsste man, wie wohl der Wanderer Schoeck die Texte des Spaziergängers Walser, seines Zeitgenossen, vertont hätte. Aber offenbar haben sie einander nicht wahrgenommen, so wie überhaupt die Nicht-Rezeption mancher Schweizer Kunst inhärent scheint. Die intensive Rezeption Walsers durch die Musiker beginnt ohnehin erst lange nach seinem Tod – wenngleich es Ausnahmen gibt. Und von ihnen erzählt Roman Brotbeck in den ersten Kapiteln seines dicken Buchs: Wie 1912 ein vergessener Berliner Komponist und Kritiker (James Simon) bereits zwei Gedichte vertonte. Wie ein in Biel wirkender Chorleiter (Wilhelm Arbenz) mit drei Liedern zu einem anderen Tonfall fand. Wie ein in die Schweiz immigrierter Komponist (Wladimir Vogel) Walser-Texte missverständlich zum Künstlerdrama umformte. Erst mit Urs Peter Schneider beginnt eine kontinuierliche und höchst fruchtbare Walser-Beschäftigung, die sich in diesem Fall über ein halbes Jahrhundert hinzieht und einen eigentlichen, äusserst facettenreichen Kosmos entstehen lässt.

Es sind Rezeptionsgeschichten, die Brotbeck hier auf fundierte Weise erzählt. Er analysiert, aber nicht erbsenzählend. Vielmehr lässt er die Details sprechen und arbeitet die Kontexte heraus. Freilich reicht das kaum aus, um die schier exponentiell wachsende Zahl der Walser-Vertonungen zu fassen. Deshalb variiert Brotbeck die Darstellung auf erfinderische Weise, so dass man sich ob der Aufzählung nicht müde liest, sondern neugierig weiterfährt. Einzelne Kapitel sind zum Beispiel Heinz Holliger, dem prominentesten Vertoner, gewidmet sowie dem Greco-Franzosen Georges Aperghis, der sich in seiner Berner Zeit mit Walser, Paul Klee und Adolf Wölfli auseinandersetzte. Je ein Kapitel beschäftigt sich mit Opern nach Walser-Romanen sowie weiteren Dramatisierungen. Dann wiederum greift Brotbeck ein einzelnes Gedicht heraus, das kurze «Beiseit», und stellt es in 21 Vertonungen vor. Und so weiter. Den Schlusspunkt setzen unaufgeführte/unausgeführte Projekte von Johannes Fritsch und Hans Zender.

Dahinter steht – sonst würde es langweilig und man würde dieses Buch nur noch als Nachschlagewerk benutzen – ein ungemeiner Reichtum an Analysemethoden, die auf rein musikalischer Ebene zugreifen, aber auch die Beziehungen zum Wort erhellen, die Dramatisierungen mit ihren Hintergründen beleuchten und schliesslich auch Walser selber einschliessen. Der Dichter als «sein eigener Komponist»: Diesem Thema ist das Eingangskapitel gewidmet. Lautfolgen, polyfone Konstellationen, vertrackte Rhythmen finden sich in den Texten, sie zeigen Walser als äusserst bewussten, hinhörenden Gestalter – trotz der scheinbar beiläufigen Leichtigkeit, die seine Texte immer wieder haben.

Die Publikation, die vom Nationalfonds unterstützt wurde, ist also ein Kompendium, um das niemand herumkommt, der in Zukunft über Walser-Vertonungen forscht. Abgeschlossen kann sie naturgemäss nicht sein, denn weiterhin wird Walser vertont, und vielleicht gibt es auch noch Entdeckungen in der Vergangenheit zu machen. Kurz vor der Drucklegung erhielt Brotbeck den Hinweis auf ein Lied, das der Illustrator und Amateurkomponist Marcus Brehmer einst sogar in Berlin den Brüdern Karl und Robert Walser vorspielte und vorsang, was, wie er schreibt, «eine wunderbar sublime, ganz unirdische Gemeinsamkeits-Stimmung bewirkte». Das Lied scheint verschollen, aber wir können uns seine Wirkung aufs Schönste ausmalen.

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Roman Brotbeck: Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2021, 660 S., € 79.00, Brill Fink, Paderborn 2022, ISBN 978-3-7705-6686-0, Open Access

 

Perlen aus Tschechien

Der Pianist Ivo Kahánek hat Klaviermusik aus seiner Heimat zusammengestellt. Es lockt viel Unbekanntes.

Ausschnitt aus dem Titelblatt

«Musik aus Tschechien geniesst auf der ganzen Welt hohes Ansehen (…). Die Klaviermusik tschechischer Komponisten hingegen ist jenseits der Grenzen der Tschechischen Republik nicht allzu bekannt (…).» Mit dieser Feststellung hat der tschechische Pianist Ivo Kahánek wohl nicht ganz unrecht. Ab und zu hört man ein Werk von Janáček. Darüber hinaus trifft man auf unseren Podien recht selten auf Klavierstücke von Smetana, Dvořák, Suk oder Martinů, von weniger bekannten Komponisten ganz zu schweigen.

Mit seinem Sammelheft Entdeckungsreise durch die tschechische Klaviermusik, das bei Bärenreiter Praha erschienen ist, möchte Kahánek diesem Manko entgegenwirken. Es enthält Kompositionen von fünfzehn Komponisten aus der Vorklassik bis in die Gegenwart. Darunter natürlich Altbekanntes wie die unverwüstliche Humoreske in Ges-Dur von Dvořák oder auch drei Stücke aus Janáčeks Zyklus Auf verwachsenem Pfade. Smetana ist mit zwei Albumblättern und einer Polka, Josef Suk mit zwei bezaubernden Idyllen vertreten. Daneben aber finden sich zahlreiche Miniaturen von Milan Dlouhý, Jiří Vřešťál, Luboš Sluka und vielen anderen Komponisten, deren Namen ausserhalb Tschechiens nicht sehr geläufig sind.

Hervorgehoben seien besonders Glocken zur Nacht von Petr Eben, ein ganz schlichtes, aber klangschönes Tonpoem. Auch das Preludio ostinato von Miloslav Kabeláč ist mit seinen ständigen Wiederholungen eines kurzen Motivs von suggestiver Wirkung (und erinnert darin an Janáček). Aber nicht immer geht es um meditative Musik. Die witzige Sextenstudie von Jiří Vřešťál ist sehr unterhaltsam und dürfte vielen Spass machen. Voraussetzung dafür sind allerdings lockere Handgelenke …

Um möglichst viele Pianistinnen und Pianisten anzusprechen, hat sich Ivo Kahánek bemüht, Kompositionen in die Sammlung aufzunehmen, «die auch Anfänger oder leicht Fortgeschrittene spielen können. Selbst die anspruchvollsten Stücke übersteigen in ihrem technischen Schwierigkeitsgrad nicht das Niveau der unteren Jahrgänge …», schreibt er dazu im Vorwort. Das ist wohl eine etwas zu optimistische Einschätzung. Denn auch die leichte Sonatina III von Jiří Antonín Benda oder das Rondo in G-Dur von Jan Václav Voříšek sind natürlich keine Anfängerliteratur. Und einige wenige Stücke verlangen durchaus schon ein virtuoses Niveau, so zum Beispiel die groteske Teufelspolka von Vítězslav Novák. Insgesamt aber liegt der Fokus auf künstlerisch ambitionierten Werken, die bei mässigem technischem Aufwand viel Klangsinn und gestalterische Fantasie erfordern. Darin liegt der besondere pädagogische Wert dieser Entdeckungsreise.

Im Übrigen schliesst man sich gerne der Hoffnung des Herausgebers an, man möge sich «inspirieren lassen, noch weitere Schätze der tschechischen Klaviermusik aufzuspüren».

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Entdeckungsreise durch die tschechische Klaviermusik, Stücke für etwas fortgeschrittene Spieler, ausgewählt und revidiert von Ivo Kahánek, BA 11560, € 17.95, Bärenreiter, Prag

Porträt der Örgeliszene

In «Langnauerli. Stöpselbass. Schwyzerörgeli» vertiefen sich Beat Hugi und Thomas Aeschbacher in Herstellung und Spiel der diatonischen Handharmonikas der Deutschschweiz. – Ein Kompendium mit Suchtpotenzial.

Ausschnitt aus dem Buchcover

Wer sich ausschliesslich für Bauart oder Geschichte von Langnauerli und Schwyzerörgeli interessiert, liegt hier falsch: Das Buch ist kein Geschichts- oder Technikbuch – ein solches gibt es schon von Ernst Roth –, sondern eine lebendige Kulturgeschichte zu den erstaunlich vielfältigen und weit verbreiteten Instrumenten. Zwar werden im Glossar die wichtigsten Grundbegriffe und Unterschiede zwischen den Modellen erklärt, das Schwergewicht liegt aber auf der Dokumentation der Szene mit Porträts von Spielerinnen und Spielern, Handorgelbauern und -restauratorinnen, -stimmern und -händlern.

Journalist und Publizist Beat Hugi und Örgelivirtuose Thomas Aeschbacher besuchten gegen 40 Vertreterinnen und Vertreter der Langnauerli-, Stöpselbass- und Schwyzerörgeli-Szene und geben die Gespräche anschaulich wieder. Da Thomas Aeschbacher ein ausgewiesener Örgelikenner ist, kommen die Interviews jeweils sehr schnell auf den Punkt, und die Lesenden bekommen einen Einblick in die Reichhaltigkeit der Klangmöglichkeiten und -unterschiede der verschiedenen Orgeln. Auch die verschiedenen Zugänge zur und Ansprüche an die Musik der Spielerinnen und Spieler werden deutlich.

Es fällt auf, dass zwar genügend Nachwuchs vorhanden ist, der Örgeli spielt, bei den Örgelibauern und -restauratorinnen aber eine deutliche Überalterung festzustellen ist. Was dies für die Zukunft des Instruments bedeutet, wird sich zeigen. Das reich bebilderte und schön gestaltete Buch vermittelt einen lebendigen Eindruck von der Vielfalt der Konzepte und Spielweisen und dank den beiliegenden CDs auch von der Verschiedenheit der unterschiedlichen Stimmungen und Sounds.

Der Rezensent war so fasziniert von der Lektüre, dass er sich ein Langnauerli gekauft hat und sich seither regelmässig an der Klangschönheit des Instruments erfreut.

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Beat Hugi und Thomas Aeschbacher: Langnauerli. Stöpselbass. Schwyzerörgeli. – Das Spiel. Das Handwerk. Die Virtuosen, 440 S., 202 Abb., 2 CDs, Texte u. a. von Franz Hohler, Corin Curschellas, Pedro Lenz, Fr. 49.00, Weber-Verlag, Thun, 2021, ISBN 978-3-03818-296-2

Holzblock Holzblock Beckenglocke Holzblock …

Die Drumset-Schule von Michael H. Lang setzt auf den Rhythmus von Wörtern, um rhythmische Figuren zu lernen.

Foto: Hal Gatewood/unsplash.com

«Endlich eine Drumset-Schule für Anfänger, die sich von den zahlreichen anderen Schulen unterscheidet!» – Statt dem langweiligen Üben zweitaktiger Patterns und endlosen Erklärungen mit langen Textpassagen wird im Lehrgang von Michael H. Lang viel Spielmaterial mit einem klaren Aufbau geliefert. Mit 107 Übungen und Spielstücken sowie 14 Soli in verschiedenen Schwierigkeitsstufen verbindet der Autor auf über 140 Seiten das Lernen, Üben und Musizieren in methodisch sinnvoller Weise.

Rhythmische Bausteine erlernen funktioniert mit Wörtern, die die Schüler schon kennen, einfacher und schneller. Dafür hat der Autor zum Einstieg 6 Grundfiguren und passende Namen ausgewählt, die nach und nach eingeführt werden, ohne dass es lange Erklärungen braucht. Im Schlagzeugbereich sind Kuhglocke, Glockenspiel, Beckenglocke und Holzblock ohnehin gebräuchliche, verständliche Wörter; als Gegenstände sind sie greifbar und im Unterrichtsraum aufzufinden. Diese Wörter tragen eine eigene Rhythmik in sich, und wenn sie dann während dem Spiel mitgesprochen werden, stimmen die gespielten Figuren automatisch.

«Unsere Schüler sind neugierig, sie wollen lernen, sie wollen spielen, sie wollen Spass. Und der Spass kommt nur durchs Spielen. Sie haben Spass, weil sie was können. Deshalb sollten wir uns nicht scheuen, den Kindern viel beizubringen», schreibt Michael H. Lang.

Warum sollen also die Kinder z. B. mit 1e+e 2e+e 3e+e 4e+e geplagt werden, was sehr abstrakt ist und am Anfang überhaupt keine Rolle spielt? Die Schüler brauchen nur wenige, dafür aber einfach verständliche Grundlagen, um spielen zu können, und keine abstrakten und komplizierten Redewendungen. Die Kinder erlernen die von Michael H. Lang vorgegebenen Grundrhythmen schnell, und das gleich ab der ersten Lektion und auf allen Instrumenten, die das Schlagzeug hergibt. Denn sie wollen am liebsten von Anfang an auf dem gesamten Drumset spielen. Beherrschen sie diese Grundrhythmen, läuft alles andere viel leichter.

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Michael H. Lang: Drumset-Schule, veränderte Neuauflage, GN 114590, € 26.80, Musikeigenverlag Michael H. Lang 2022, www.michaelhlang.de

Das Bekannte neu entdecken

Acht Aufsätze stellen den Komponisten Heinz Holliger vor – in aller Breite.

Heinz Holliger. Foto (Ausschnitt): Priska Ketterer/Schott Music

«Ich entdecke täglich unendlich viele neue Klänge, ganz ohne Strom. Es ist auch unökologisch, so viel Strom zu verbrauchen.» Vieles kann man ablesen in nur wenigen Worten. Heinz Holliger hat Witz, der ihm – die Sätze stammen aus dem Jahr 2022 – auch in höherem Alter und in unseren dystopischen Zeiten nicht abhandenkommt. Das tägliche Entdecken neuer Klänge verweist wiederum auf Holligers ungebremste Inspiration, die auf einem breiten Bildungshorizont beruht, auch möglich wurde durch ein etwas «sonderliches» Denken, das Künstlern in der Regel gut steht.

Der Sammelband Heinz Holliger bringt nicht viel Neues zur Sprache. Aber dafür überrascht er mit einer breiten Betrachtung des Komponisten: Chorwerke analysiert Heidy Zimmermann, Betreuerin des Holliger-Archivs in der Paul-Sacher-Stiftung. Tobias Eduard Schick nähert sich den Streichquartetten, Jörn Peter Hiekel ebenso einfühlsam der Oper Lunea, Thomas Meyer dem unbefangenen und erfrischenden Umgang mit Schweizer Volksmusik und Mundart. Gattungsübergreifend zeigt sich: Holliger ist zwar ein Kind seiner Zeit, indem er sich intensiv mit musikalischer Dauer und Dichte beschäftigt, auch mit Spuren des Serialismus oder mit Fragen unbestimmter Notation. Letztlich entscheidet bei ihm aber nicht das «Was», sondern das «Wie» – oder mit den Worten Helmut Lachenmanns, die Hiekel zitiert: Stets geht es Holliger um die Möglichkeiten, «auch das Bekannte neu zu entdecken».

Vielleicht vermisst manch ein Leser Informationen über den Oboisten, den auch versierten Pianisten und Dirigenten. Dennoch sind die 182 Seiten über den «musikalischen Universalisten» (so der Herausgeber Ulrich Tadday) unbedingt lesenswert – zumal sie en passant viele erhellende Blicke öffnen auf die Schweizer Musikgeschichte. Für sein Heimatland hatte Holliger übrigens auch überraschende Worte parat: «Gleichzeitig hat die Schweiz etwas Verrücktes an sich – ich sage oft, die grössten Schweizer haben im Irrenhaus gelebt.» Nun denn, auch er ist ein grosser Schweizer. Zum Glück geht es ihm gut. Physisch und offenbar auch psychisch.

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Heinz Holliger, hg. von Ulrich Tadday, Musik-Konzepte Heft 196/197, 197 S., € 38.00, Edition Text+Kritik, München 2022, ISBN 978-3-96707-600-4

Die Seligpreisungen als monumentales Werk

César Francks «Les Béatitudes» liegen erstmals in einer wissenschaftlichen Urtext-Ausgabe vor.

Denkmal für César Franck von Alfred-Charles Lenoir, Paris 1891. Foto (Ausschnitt): Siren-Com / Wikimedia commons

César Franck gilt heute hauptsächlich als Vater der französisch-romantischen Orgel-Sinfonik und Inspirator seiner Schüler Widor, Vierne, Tournemire und auch Debussy. Besonders seine Orgelwerke und die Sinfonie d-Moll erfreuen sich heute noch grosser Beliebtheit. Seine Opern, Lieder, Messen und Oratorien führen aber eher ein Schattendasein. Umso verdienstvoller ist es, dass der Carus-Verlag Stuttgart pünktlich zum 200. Geburtstag des Komponisten sein 1879 entstandenes chorsinfonisches Hauptwerk Les Béatitudes erstmals in einer wissenschaftlichen Urtext-Edition veröffentlicht.

Das monumentale, gut zweistündige Werk in französischer Sprache vertont die Seligpreisungen aus der Bergpredigt Jesu, ist zwischen geistlicher Oper und Oratorium einzuordnen und besticht durch den kontrastreichen Wechsel von volksliedhaften, lyrischen, dramatischen und hymnischen Episoden. Einige Sätze entstanden bereits 1870 während der Belagerung von Paris im Deutsch-Französischen Krieg. Nach einem Prolog werden den Christusworten «Selig sind …» in den acht Sätzen jeweils antithetisch-kommentierend irdische oder himmlische Chöre vorangestellt.

Die Orchesterbesetzung ist zeitgemäss französisch opulent und erfordert einen zahlen- und stimmenmässig gut besetzten Chor. Trotz der acht Solopartien, die sich teilweise durch eine geschickte Rollenteilung reduzieren lassen wie im Vorwort vorgeschlagen, ist der Choranteil recht gross und nicht allzu schwer. Ein dankbares und lohnendes Werk für Oratorienchöre.

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César Franck: Les Béatitudes op. 25, Oratorium für Soli, Chor und Orchester, hg. von Hans Christoph Becker-Foss und Thomas Ohlendorf; Partitur CV 10.393/00, € 119.00; Klavierauszug CV 10.393/30, € 29.95; Carus, Stuttgart

Briefe erzählen Stefi Geyers Leben

Helga Váradi und Dominik Sackmann haben hier nicht nur erstmals den gesamten Briefwechsel mit Béla Bartók veröffentlicht, sondern zeichnen das ganze Leben der berühmten Geigerin nach.

Die 17-jährige Stefi Geyer auf dem Titel einer spanischen Theaterzeitschrift. Foto: Kaulak / Wikimedia commons

Dieses gewichtige Buch gibt intime Aufschlüsse zur Biografie der 1956 verstorbenen Violinvirtuosin Stefi Geyer, Schülerin von Jenő Hubay. Als Wunderkind spielte sie schon im Alter von 10 Jahren in Budapest ein Bériot-Konzert, 12-jährig Spohrs Konzert In Form einer Gesangsszene und schon bald ein grosses Repertoire in ganz Europa, z. B. mit 20 das Brahms-Konzert in Berlin. Als 19-Jährige führte sie 1907/08 mit dem 26-jährigen Béla Bartók einen intensiven Briefwechsel. Bartók war damals mit der Sammlung von Volksliedern beschäftigt. Er bewunderte Stefis Können. und ihr Interesse an seiner Arbeit schmeichelte ihm. Sie diskutierten sich widersprechend über den Glauben an Gott, verschiedene Formen von Freundschaft und immer wieder über ihre Arbeiten. Bartók schrieb für Stefi ein stilistisch neuartiges Violinkonzert, von dessen Leitmotiv d-fis-a-cis immer die Rede ist als unausgesprochener Liebeserklärung. Das Manuskript des Konzertes erhielt sie von Bartók geschenkt, behielt es ungespielt und übergab es auf dem Sterbebett Paul Sacher. Es wurde 1958 durch Hansheinz Schneeberger in Basel uraufgeführt.

Kurz nach dem Ende der unglücklichen Liebe heiratete Bartók Marta Ziegler und Stefi den Wiener E. O. S. Jung, der aber 1918 der Spanischen Grippe erlag. Ihre Bekanntschaft mit dem Zürcher Pianisten, Komponisten und Konzertorganisator Walter Schulthess führte 1920 zur Heirat. Zürich wurde zu einem Zentrum des internationalen Konzertlebens. So ergab sich eine erneute Annäherung an Bartók, die ab 1928 bis zu Bartóks Tod 1945 in einem neuerlichen Briefwechsel greifbar wurde. Darin wirkt der Umgang der zwei Ehepaare (Bartók war seit 1923 mit seiner Schülerin Ditta Pásztory verheiratet) bald sehr familiär dank gemeinsamer Ferien und später immer stärker umsorgend. Neben ihrer intensiven Lehrtätigkeit in Zürich, der Betreuung ihrer 1921 geborenen Tochter Rosmarin, ihrem Wirken als Konzertmeisterin des Zürcher Collegium Musicum, Mitwirkung an den Luzerner Festwochen und weltweiten Konzerten kümmerte sich Stefi Geyer fürsorglich um ihre unter sowjetischer Verwaltung leidenden Verwandten in Ungarn; davon zeugen die Briefe aus den Jahren 1925 bis 1956. Aus 21 Briefen von Jenő Hubay erahnt man seine fortdauernde Unterstützung für Stefi.

Das Buch liest sich spannend wie ein Briefroman. Wertvoll ergänzt sind die Briefe durch einen fotografischen Lebenslauf, mehrere einführende Texte der Herausgebenden Dominik Sackmann und Helga Váradi und den Mitarbeitenden László Vikárius und Kornel Zipernowsky. Verdienstvoll ist das aufwendig zusammengestellte chronologische Verzeichnis aller Konzerte und gespielten Werke Stefi Geyers.

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Stefi Geyer. Materialien zu ihrer Biografie, hg. von Helga Váradi und Dominik Sackmann, Zürcher Musikstudien Band 11, 522 S., Fr. 103.00, Peter Lang, Bern u. a. 2021, ISBN 978-3-0343-3769-4 (Print)

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