PGM: Zurück zur Gänsehaut!

Am jüngsten PGM-Treffen wurde festgestellt: Nach 18 Monaten Pandemie fehlt das Publikum vielerorts. Die finanzielle Unterstützung muss fortgeführt werden, und die Taskforce Culture ist nach wie vor als geeinte Stimme des Kultursektors unabdingbar.

Bern am 30.9.21: Baustellen wegen der Pandemie gibt es nicht nur im Kulturbereich. Fotos: SMZ/ks

Der Präsident der Parlamentarischen Gruppe Musik (PGM), Stefan Müller-Altermatt, hat beides erlebt: tiefe emotionale Betroffenheit kürzlich an einem Livekonzert einerseits und Berichte über den Rückzug von aktiv Musizierenden ins Privatleben andererseits. Die Trägheit müsse überwunden werden, die Sehnsucht nach «Gänsehaut» bei Liveveranstaltungen angestachelt. Rosmarie Quadranti, Präsidentin des Schweizer Musikrats, blies ins gleiche Horn bei ihrer Rückschau auf die vergangenen anderthalb Jahre. Es müsse eine Aufbruchstimmung geschaffen werden, bei Publikum, Musikerinnen und Musikern. Sie wies auf den Produktionsstau hin und die «nachhaltigen» Lücken beim musikalischen Nachwuchs. Ebenso erwähnte sie die Gefahr, dass die finanzielle Unterstützung der Kulturschaffenden beendet resp. in die Gewährung von rückzahlbaren Darlehen umgewandelt werden könnte.

Taskforce Culture

Die Arbeit der Taskforce Culture könne gar nicht genügend gewürdigt werden. Diese Feststellung wurde ganz am Schluss von Nationalrätin Sandra Locher Benguerel unterstrichen. Sie betonte, diese geeinte Stimme helfe enorm, die Anliegen der Kulturschaffenden im politischen Prozess zu bearbeiten. Man solle, riet sie, mit den bestehenden Gefässen weiterarbeiten und mit möglichst vielen Argumenten belegen, weshalb die Kulturschaffenden weiterhin unterstützt werden müssen. Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates wird an der Sitzung vom 4. November über die Verlängerung einzelner Bestimmungen im Covid-19-Gesetz beraten, diejenige des Ständerates am 16. November.

Image
Rosmarie Quadranti, Präsidentin des Schweizer Musikrats, ermuntert zur politischen Partizipation. Am 28. November 2021 wird über das Referendum gegen die Änderung vom 19. März 2021 des Covid-19-Gesetzes abgestimmt.

Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier wollten am 30. September bei ihrem Treffen im Hotel Bern mit Delegationen der Musikverbände über die aktuelle Situation informiert werden. Ebenso interessierte sie, wie sie die Perspektiven im Hinblick auf die anstehenden Anpassungen des Covid-19-Gesetzes einschätzen. Die Referierenden kamen dieser Bitte nach.  Neben Rosmarie Quadranti sprachen Luana Menoud Baldi, Präsidentin des Schweizer Blasmusikverbandes, Christoph Bill, Präsident der Swiss Music Promoters Association, Alexander Bücheli, Geschäftsführer der Schweizer Bar- und Club-Kommission, und Marlon McNeil, Geschäftsführer von Indie Suisse sowie als Vertreter von Sonart – Musikschaffende Schweiz, über die spezifischen Probleme ihrer Organisationen. Dabei kam Dankbarkeit für die bisherigen Hilfeleistungen zum Ausdruck. Die Rednerinnen und Redner benannten auch eine gewisse Frustration bezüglich der Dialogbereitschaft der Ämter. Weiter erwähnten sie die durch den ständigen Vorschriftenwechsel entstandene Planungsunsicherheit und die unterschiedlichen Restriktionen in den Kantonen.

Image
Luana Menoud Baldi, Präsidentin des Schweizer Blasmusikverbandes, zeigt auf, welcher Vorschriftendschungel durchdrungen werden muss(te).

Zwischen Marschrhythmus und Swing

An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) geht ein Forschungsprojekt der Rolle der Unterhaltungsmusik während der NS-Zeit ab Ende der Weimarer Republik bis zum Jahr 1945 nach.

Foto: Alessandro Cerino/unsplash.com (s.unten),SMPV

Radio und Tonfilm haben der Musik während der Weimarer Republik zu einer enormen Verbreitung verholfen und die Begeisterung für die neuen Medien und für neue Klänge war auch nach der Machtergreifung ungebrochen. Die Nationalsozialisten verfolgten zwar keine klar konzipierte Musikpolitik, Unterhaltungsmusik spielte während ihrer Herrschaft als Kommunikationsmittel jedoch eine wichtige Rolle.

Im Fokus des Forschungsprojekts steht auf der einen Seite die Frage nach der politischen Einflussnahme und Repression durch die NS-Verantwortlichen. Auf der anderen Seite auch das Handeln des Einzelnen vor diesem politischen Hintergrund. Das Forschungsteam wird dazu die Lebenswege von Musikerinnen und Musikern im NS-Staat nachzeichnen, zum Beispiel auch von Franz Grothe, Komponist und Dirigent des Deutschen Tanz- und Unterhaltungsorchesters.

Mehr Infos:
https://unterhaltungsmusik.uni-mainz.de/das-forschungsprojekt/
 

Neues vom Goldstandard – Streichquartett-Uraufführungen

Cécile Marti und Verena K. Weinmann präsentierten jüngst in ganz unterschiedlichem Rahmen neue Werke für Streichquartett. Dabei erwiesen sie sich auch als ganz unterschiedliche Komponistenpersönlichkeiten.

Uraufführung von Cécile Martis «Ellipse» für Streichquartett durch das Belenus-Quartett. Foto: OSF

Streichquartette sind noch immer der Goldstandard ambitionierten Komponierens. Da ist es erfreulich, dass innerhalb zweier Wochen gleich zwei neue Gattungsbeiträge von Schweizer Komponistinnen uraufgeführt wurden. Es wird also noch immer nach den höchsten Lorbeeren gegriffen. Dabei spielt es auch keine Rolle, dass es sich bei beiden Werken nicht um Quartette im engeren Sinne handelt, sondern einfach um Stücke für Streichquartett. Präsentiert wurden sie an Quartettabenden höchster Ansprüche.

Weinmanns «agobio» und die Wut

Besonders die 1994 geborene Verena K. Weinmann fand sich in Respekt einflössender Umgebung wieder. Klangundszene lud im Zürcher Kunsthaus unter dem Motto «Freiheit über alles» am 25. und 26. September zu vier Konzerten ein, die jeweils ein spätes Beethoven-Streichquartett mit einem aus dem 20. Jahrhundert kombinierten – und am Samstagabend noch mit einer Uraufführung. So kam es, dass Weinmanns agobio als Auftakt zu Schostakowitschs 8. und Beethovens cis-Moll-Quartett op. 131 fungierte. Wohlgemerkt, nachdem am Nachmittag bereits Beethovens op. 95 und Schönbergs fis-Moll-Quartett op. 10 erklungen waren. Allesamt legendäre Werke, die mythenberankt durch die Musikgeschichtsschreibung geistern. Und als wäre das nicht genug, ist agobio für Stimme und Streichquartett gesetzt und stellt sich damit direkt in die Nachfolge von Schönbergs op. 10. Eines Werks, in dem dieser nicht nur erstmals heftig an den Grenzen der Tonalität gerüttelt, sondern mit der Hinzufügung einer Singstimme auch gleich noch die Gattungsnorm gesprengt hatte. Wenige Stunden zuvor war es von der Sopranistin Anna Gschwend gemeinsam mit dem Arditti Quartett atemberaubend aufgeführt worden. Eine, nebenbei bemerkt, umso erstaunlichere Leistung, als die Ardittis kurzfristig eingesprungen waren und lediglich eine Probe mit Anna Gschwend zur Verfügung hatten.

Image
Das Nerida-Quartett mit Anna Gschwend bei der Uraufführung von «agobio». Foto: Klangundszene

Dieser schwierigen Ausgangslage begegnete die in Barcelona wohnende und studierende Komponistin erstaunlich furchtlos und stellte den in extreme Ausdrucksregionen vorstossenden Werken ihrer Vorgänger eine engagierte und kämpferische Musik entgegen. «Agobio» bedeutet Überlastung, Überforderung, und Weinmann, die sich auf ihrer Website auch als Aktivistin bezeichnet, reagiert auf die im Gedicht von Ana Martinez Quijano beschriebenen Gefühle angriffig. Im Programmheft schreibt sie von Wut.

Die Streicher spielen meist «Übergänge»: solche zwischen verschiedenen Spieltechniken auf einer Tonhöhe oder solche zwischen den Tonhöhen, also Glissandi. Das Ergebnis ist eine stete Unruhe und Klänge, deren hervorstechendste Eigenschaft eine Signalwirkung ist. Zu dieser Musik in Alarmbereitschaft wird der Text vorwiegend deklamiert, auch wenn die Übergänge zwischen den vielen verschiedenen Ausdrucksspektren der Stimme wiederum fliessend sind. Zusätzliche gesprochene Einwürfe der Instrumentalisten erwecken den Eindruck, einer Selbstbeschwörung beizuwohnen, die sich in ihrem Verlauf immer mehr steigert, ohne je aufgelöst zu werden. Ein eindringliches Stück, das vom noch jungen Nerida-Quartett und wiederum Anna Gschwend beeindruckend umgesetzt wurde.

Martis «Ellipse» und die Form

Von gänzlich anderem Temperament zeigte sich Cécile Marti in Ellipse für Streichquartett, und das gilt auch für die Veranstaltung, in der ihr neues Stück präsentiert wurde. Ellipse ist als Auftragskomposition des Othmar-Schoeck-Festivals (OSF) in Brunnen entstanden und wurde dort am 11. September im Rahmen eines Konzertes mit Werken von Arthur Honegger, Richard Flury und selbstverständlich Othmar Schoeck uraufgeführt.

Während sich also Verena K. Weinmann inmitten von ehemaligen Neutönern zu behaupten hatte, erklang Martis Stück zwischen drei Schweizer Komponisten, welche nie als Speerspitze der Avantgarde fungierten. Selbstverständlich gilt Honegger heute als Klassiker der Moderne, aber seine Modernität war eher die des frechen Pluralisten. Und während Richard Flury zumindest in manchen Werken an den Grenzen der Tonalität kratzte, blieb Schoeck zeitlebens ein Spätromantiker durch und durch.

Interessanterweise entpuppte sich mit Flurys 1. Streichquartett das Werk des jüngsten dieser drei innerhalb von 15 Jahren geborenen Komponisten als spätromantische Massenware, während die Quartette der andern beiden, jeweils ihr zweites, begeisterten. Das Belenus-Quartett bewies dabei einmal mehr, zu welch tollem Ensemble es sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Besonders bei Schoeck führte es einem mit seiner mitreissenden Darbietung vor Augen, weshalb viele Komponisten aus dieser Generation, die früher als rückständig verschrien wurden, heute ein Revival erleben.

Image
Cécile Marti hat die Ellipse-Skulptur in weissen Marmor gehauen. Foto: OSF

Für die feinen Klänge von Martis Ellipse jedenfalls war die Anordnung ein Glücksfall. Denn wo Weinmann auf die unmittelbare Wirkung von Klang setzt, vertraut die auch als Bildhauerin tätige Marti auf die Wirkung sorgfältig gestalteter Formprozesse und machte dies mit der Wahl des Titels unmissverständlich klar. Eine Bildprojektion, in der aus einem unbehauenen Stein eine Skulptur wurde, unterstrich dieses Interesse an Form im allgemeinsten Sinn. Es ist denn auch kein Werk, das einen unmittelbar packt. Vielmehr lädt es ein, seinem Verlauf zu folgen. Zu entdecken, wie das einfache Motiv durch die Instrumente und die Zeit wandert. Wie es und die ganze Musik immer wiederkehrt, dabei verlangsamt und wieder beschleunigt, gestaucht und gedehnt wird.

Eine Reise, die man danach gerne nochmals unternehmen würde. Besonders, weil die zuvor stete Präsenz des einfachen Motivs erst mit seinem prominenten Auftritt am Schluss von Ellipse so richtig bewusst wird. Beim zweiten Mal wäre man bestimmt achtsamer …

https://www.klangundszene.ch

Ein Projekt für 2022 ist in Vorbereitung
https://schoeckfestival.ch

Das nächste Festival findet vom 9. bis 11. September 2022 in Brunnen statt.
«Drama und Oper»

 

 

Unbekannte Fassungen von Strauss‘ «Salome»

Das Projekt «Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss» der Bayerischen Akademie der Wissenschaften legt zwei unbekannte Fassungen der «Salome» und eine Neuausgabe von «Elektra» vor.

Gertrude Hoffmann als Salome. Foto: F. C. Bangs 1908 (Nachweis s. unten)

«Salomé» in französischer Sprache war Richard Strauss ein besonderes Anliegen: Er wollte mehr als eine blosse (Rück-)Übersetzung vorlegen. Daher griff er auf den französischen Originaltext des Theaterstücks von Oscar Wilde zurück und schrieb die Gesangsstimmen vollständig neu, um sie perfekt an die Prosodie der Sprache anzupassen – ein singulärer Fall in der Operngeschichte. Diese ganz anders klingende Fassung liegt nun erstmals als Partitur gedruckt vor.

Auch die «Dresdner Retouchen-Fassung» von 1929/30 ist Teil des neuen «Salome»-Bandes: eine Einrichtung für lyrischen Sopran in der Titelrolle, die 1930 in Dresden mit Maria Rajdl unter der Leitung des Komponisten Premiere feierte. Strauss lichtete hierfür gezielt die Orchesterbegleitung der Titelrolle, um diese mit einer lyrischen statt (wie üblich) dramatischen Stimme besetzen zu können.

Mehr Infos:
https://badw.de/die-akademie/presse/pressemitteilungen/pm-einzelartikel/detail/neuerscheinung-richard-strausselektra-und-zwei-unbekannte-fassungen-der-salome.html

Neuer Rektor bei der Kalaidos Musikhochschule

Seit 1. Oktober leitet Michael Bühler die Musikhochschule der Kalaidos FH. Er hat das Rektorenamt von Frank-Thomas Mitschke übernommen, der per Ende Oktober in den Ruhestand tritt.

Michael Bühler ist der neue Rektor der Kalaidos Musikhochschule. Foto: Thomas Entzeroth

Gemäss einer Mitteilung der Kalaidos Fachhochschule Schweiz verfügt Michael Bühler über eine breite professionelle musikalische Ausbildung, die er mit einem Executive MBA der Universitäten Zürich und Stanford (U.S.) sowie einem Doktorat an der University Gloucestershire (UK) erweitert hat. Während mehr als zehn Jahren hat er als Intendant und Managing Director das Zürcher Kammerorchester geleitet, davor war er u.a. Executive Director der Stiftung Schweizerischer Jugendmusikwettbewerb und Orchesterdirektor im Opernhaus Zürich. Neben der Vermittlung einer professionellen musikalischen Ausbildung will der neue Rektor die Studierenden der Kalaidos Musikhochschule auch gezielt auf die «unternehmerischen Herausforderungen des modernen Musikmarktes» vorbereiten.

Dem scheidenden Rektor Frank-Thomas Mitschke dankt die Kalaidos Fachhochschule Schweiz für sein grosses Engagement «sowie für den Ausbau und die kontinuierliche Weiterentwicklung der Angebote während der letzten rund sechs Jahre.»
 

Die Vokalszene lebt

Mit zahlreichen Workshops und Konzerten eröffnete die Fachmesse chor.com die Saison 2021/22. Die realen Begegnungen waren eine Freude, auch wenn durch die lange Pause unweigerlich Lücken entstanden sind.

Die Audi-Jugendchorakademie brachte 16 Uraufführungen zu Gehör. Foto: Büro Monaco

Ein ermutigendes Signal in die Chorszene sandte der Deutsche Chorverband mit der erfolgreich durchgeführten chor.com. Die verunsicherte Branche konnte sich an der grossen Fachkonferenz in Hannover – wenn auch unter Schutzvorgaben wie 3G – endlich wieder realiter treffen, austauschen und gegenseitig bestärken. In mehr als 270 Workshops und Reading Sessions ging es um Themen wie intergenerative Chorarbeit, Singen mit Kindern, Probenmethodik oder Chorwerke in Kleinbesetzung. Nichtmusizierende Ensembleverantwortliche besprachen weitere Bereiche aus dem heterogenen Feld des Amateursingens: der Generationenwechsel in Strukturen, chorspezifische Zielgruppenarbeit oder Diversität.

Wohin nach dem Stillstand?

Stephan Doormann, künstlerischer Leiter der chor.com, sprach von einem positiven Signal der Vokalszene, die nach der langen Zeit des Stillhaltens verantwortungsbewusst das gemeinsame Singen wieder übe, zeige und dessen gesellschaftliche Relevanz betone. Kontrovers diskutierten die fast eintausend Teilnehmerinnen und Teilnehmer, wie der Neustart zu gestalten sei: zurück zu einem Vor-Corona-Zustand oder mit Nachdruck hin zu einer Chorarbeit, in der sich der gesellschaftliche Wandel nachhaltig wiederfindet? Noch nicht sicher ist man, ob das geneigte Publikum die zahlreich geplanten Veranstaltungen denn auch aufsuchen wird; auch besteht die Sorge, dass sich insbesondere ältere Chorsänger und Chorsängerinnen nicht wieder einfinden werden, um ihre jeweilige Chorheimat am Leben zu erhalten. Die vergangenen «verlorenen» 18 Monate werden sich, so die geäusserte Befürchtung, vor allem im Kinderchorbereich als gravierendes Problem der Nachwuchsrekrutierung bemerkbar machen.

Vom Norden lernen

Im Fokus standen in diesem Jahr alle Aspekte nordischer Chormusik: In Masterclasses (u. a. mit Grete Pedersen aus Norwegen) und Reading Sessions konnte neue Chorliteratur und -arbeit aus Skandinavien vertieft kennengelernt werden. An einem Panel berichtete u. a. Florian Benfer (Gustav-Sjökvist-Kammerchor Stockholm), welche Vorteile es mit sich bringt, wenn Komponisten Chorerfahrung besitzen. In Dänemark und Schweden wird (noch) selbstverständlich an kleinen und grossen Anlässen gemeinsam gesungen, es existiert ein reichhaltiges Repertoire, welches in der Primarschule angelegt wird und die Generationen verbindet.

Norwegen-Workshop mit Grete Pedersen. Foto: Rüdiger Schestag

Konzertfreuden und Messevielfalt

Ein trotz pandemiebedingter Einlasskonzepte umfangreiches Programm mit 33 Konzerten wurde von professionellen Ensembles wie dem Norwegian Soloists’ Choir, dem Collegium Vocale Gent, aber auch High Talents wie dem Landesjugendchor NRW und dem Rundfunk-Jugendchor Wernigerode bestritten. In den Stadtkirchen Hannovers sowie dem NDR-Rundfunksaal und in der Hochschule konnten glückliche Konzertbesucher auch ganz neue Chormusik geniessen: 16 Uraufführungen junger Komponistinnen und Komponisten hatte die Audi-Jugendchorakademie im Gepäck, facettenreich und auf hohem Niveau musiziert. Der Leipziger Synagogalchor wiederum stellte Meisterwerke der Synagoge und neu arrangierte jiddische Lieder in einem berührenden und zugleich unterhaltsamen Programm zusammen.

52 Aussteller waren an der Messe präsent. Foto: Rüdiger Schestag

Die dem Kongress angeschlossene Messe mit 52 Ausstellenden wurde rege in Anspruch genommen, um sich mit Literatur auszustatten, über Dos and Don’ts von Online-Proben zu diskutieren und die Angebote von Verbänden kennenzulernen. So wird der Bundesmusikverband Chor & Orchester auch 2022 wieder Mittel für Chöre im Programm «Neustart Amateurmusik» bereitstellen.

Die viertägige Veranstaltung gab ein wichtiges Aufbruchssignal in einer durchaus ambivalenten Situation und lässt hoffen, dass die europäische Chorszene zu neuer alter Stärke zurückfindet.

Mit einem digitalen Ticket sind ausgewählte Veranstaltungen online abzurufen:
https://www.chor.com/digitalticket/

DLF-Kultur sendet Programmpunkte seit dem 5. Oktober 2021:
https://www.deutschlandfunkkultur.de

Die nächste Ausgabe der chor.com findet vom 21. bis 24. September 2023 in Hannover statt.

Philippe Bach verlässt Meiningen

Der Schweizer Dirigent Philippe Bach verlängert seinen Vertrag als Generalmusikdirektor des Meininger Staatstheaters nicht über nächstes Jahr hinaus. Er will sich neuen künstlerischen Herausforderungen in der Schweiz stellen.

Philippe Bach (Foto: D. Vass)

Das Orchester des über 300-jährigen Meininger Theaters heisst seit 2006 wieder Meininger Hofkapelle. Der Name soll an die grosse Tradition des Ensembles Ende des 19. Jahrhunderts erinnern. Philippe Bach ist seit Ende 2010 Generalmusikdirektor (GMD) des Klangkörpers.

Philippe Bach wurde 1974 in Saanen, Schweiz, geboren. Er studierte Horn an der Musikhochschule Bern und am Conservatoire de Genève und anschliessend Dirigieren an der Musikhochschule Zürich und am Royal Northern College of Music in Manchester. 2006 bis 2008 war er Assistant Conductor am Teatro Real in Madrid und Assistent von Jesús López Cobos. Von 2008 bis 2010 war er Erster Kapellmeister und Stellvertretender GMD am Theater Lübeck.

Seit 2012 ist Bach Chefdirigent des Berner Kammerorchesters und siet 2016 ist er zudem Chefdirigent der Kammerphilharmonie Graubünden.

Stephan Eicher im Mittelpunkt

Im LAC Lugano wurden Mitte September die diesjährigen Schweizer Musikpreise an Stephan Eicher und 14 weitere Musikerinnen und Musiker übergeben.

Stelen mit Projektionen der Geehrten am 17. September beim LAC Lugano. Fotos: SMZ/ks

Bekannt waren die Namen der Preisträgerinnen und Preisträger schon seit Mai dieses Jahres. Die Zeremonie im Beisein von Bundesrat Alain Berset fand im September erstmals im Tessin, im Luganeser Kulturzentrum LAC (Lugano Arte e Cultura), statt. Jeder der elf Künstler, jede der vier Künstlerinnen wurde mit einem kurzen Ausschnitt aus dem Video vorgestellt, das die Ausgezeichneten je einzeln porträtiert und auf der Website schweizerkulturpreise.ch weiterhin zu sehen ist.

Mit dem Preis ausgezeichnet traten die Geehrten ans Rednerpult und gaben ihrer grossen Freude und Dankbarkeit in kreativen Statements Ausdruck. Es wurden aber auch Fragen gestellt: Ob es die richtige Zeit für solche Preise sei und ob diese die Preiswürdigen rechtzeitig und in angemessener Höhe erreichten. Stephan Eicher, ein «Grandseigneur des europäischen Chansons» (Website BAK) erhielt für sein vielfältiges Schaffen den Schweizer Grand Prix Musik. Zusammen mit Viviane Chassot, Lionel Friedli und Simon Gerber interpretierte er einige seiner Chansons neu, bevor die geehrten und die geladenen Gäste zum Buffet und zur Party entlassen wurden.

Die Preisverleihung ist weiterhin zu sehen auf der Website «Schweizer Kulturpreise».

Laurence Desarzens präsidierte dieses Jahr die Eidgenössische Jury für Musik; dazu gehörten Sarah Chaksad, Anne Gillot, Simon Grab, Johannes Rühl, Nadir Vassena und Sylwia Zytynska.
 

Die Preisträgerinnen und Preisträger 2021

Im Innern des LAC wurden Fotos der Preisträgerinnen und Preisträger gross an die Wand projiziert.

Blau markierte Namen unterhalb der Fotos führen auf grössere Artikel, die in der Schweizer Musikzeitung zu diesen Künstlerinnen und Künstlern erschienen sind, sei es online (direkter Link) oder in der gedruckten Ausgabe (PDF).

Image
Image

Conrad Steinmann, Chiara Banchini, Yilian Cañizares

Image

Nils Wogram, Viviane Chassot

Image

Roli Mosimann, Alexander Babel, Christine Lauterburg, Jürg Frey

Image

Louis Jucker, Tom Gabriel Fischer

Winterthur fördert Matías Lanz

Die Stadt Winterthur verleiht ihren diesjährigen, mit 10’000 Franken dotierten Förderpreis an den Winterthurer Cembalisten und Organisten Matías Lanz.

Matias Lanz (Bild: Susanna Drescher)

Der Musiker Matías Lanz, 1992 in Winterthur geboren, studierte laut der Medienmitteilung der Stadt an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) Cembalo und schloss dort 2016 seinen Master in Musikpädagogik mit Auszeichnung ab. Einen weiteren Master absolvierte er in Generalbass/Ensembleleitung an der Schola Cantorum Basiliensis in Basel, den er ebenfalls mit Auszeichnung abschloss. Zusätzlich studierte er von 2010 bis 2012 an der ZHdK Orgel und besuchte verschiedene Meisterkurse, sowohl für Cembalo als auch für Orgel.

Schwerpunkte seines künstlerischen Schaffens bilden Bearbeitungen barocker Instrumentalwerke für verschiedene Tasteninstrumente, das Kreieren von unkonventionellen Programmen mit Werken auch unbekannter Meister sowie die Kombination von Musik und Text. Lanz war Stipendiat der Hirschmann-Stiftung und Gründungsmitglied zweier Vokal- und Instrumentalensembles: Ensemble Pícaro (2012) und Cardinal Complex (2017). Seit 2011 ist er Organist in der reformierten Kirche Zell/Kollbrunn und seit 2013 in der reformierten Kirche Winterthur Veltheim.

Seit Februar 2020 ist Lanz Lehrer für Cembalo und Dozent für Generalbass an der Schola Cantorum Basiliensis. Sein zweites Standbein, den argentinischen Tango, pflegt er ebenfalls mit grosser Leidenschaft und bildet sich in verschiedenen Meisterkursen weiter. Ausserdem engagiert er sich seit Jahren beim Theaterensemble Obertor in Winterthur. Matías Lanz ist ein vielseitiger und herausragender Musiker mit grossem Potenzial.

Der Förderpreis 2021 der Stadt Winterthur ist mit 10’000 Franken dotiert. Er wird jährlich öffentlich ausgeschrieben. Teilnahmeberechtigt sind Personen bis zum vollendeten 35. Altersjahr, die seit mindestens drei Jahren ununterbrochen in der Stadt Winterthur wohnen oder durch ihre künstlerische Arbeit mit dem Kulturleben in der Stadt Winterthur in besonderer Beziehung stehen. Für den Förderpreis 2021 hatten sich fünfzehn Kulturschaffende aus verschiedenen Kultursparten beworben.

Die Verleihung des Förderpreises findet zusammen mit der Übergabe des Kulturpreises am 30. November 2021 im Fotozentrum Winterthur statt.

Jana Leidenfrost ist Honorarprofessorin

Die Diplom-Psychologin und Unternehmerin Jana Leidenfrost ist von der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar zur Honorarprofessorin im Studienfach Kulturmanagement ernannt worden. Sie wird weiterhin am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena tätig sein.

Julia Leidenfrost (Foto: Thomas Müller),SMPV

Nach Abschlüssen in Psychologie an der Friedrich Schiller Universität-Jena mit dem Schwerpunkt: Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie sowie Klinische Psychologie promivierte Jana Leidenfrost an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt.

Seit 2010 ist sie als Unternehmerin im Bereich Internationale Führungskräfte- und Organisationsentwicklung sowie Psychologisches Mentoring tätig. Lehraufträge fürten sie unter anderem an die Fachhochschule Nordwestschweiz und die ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena wird sie in neuer Funktion Blockseminare und Mentoring zu praxisrelevanten Themen wie Führungskompetenzen, Kooperation, Potenzialentfaltung, Selbstmanagement und Organisationsentwicklung anbieten.

 

RadioFr. Freiburg mit 23,8 % CH-Musik

Zum vierten (und letzten) Mal vergibt Sonart – Musikschaffende Schweiz den #SwissMusicOnAir-Award und ehrt das Freiburger Privatradio für sein grosses Engagement in Sachen Schweizer Musik

Die Preisübergabe (Who’s who: siehe unten). Foto: Fred Jonin / RadioFr.

Mit dem Preis zeichnet Sonart jene Privatradiosender aus, die sich für die Schweizer Musik einsetzen. Gemäss der von der Suisa erhobenen Daten aller Schweizer Privatradios hat RadioFr. Freiburg (die deutschsprachige Ausgabe des zweisprachigen Senders) im Jahr 2019 mit 23,8 % einen rekordverdächtig hohen Anteil an Schweizer Musik ausgestrahlt. Nur Radio BeO war höher, das Berner Oberländer Radio hat den Preis aber bereits für das Jahr 2016 erhalten. Wegen der Pandemie war eine Verleihung im letzten Jahr nicht möglich, deshalb trägt der Preis nun den Titel «#SwissMusicOnAir-Award 2021».

23,8 % ist eine beachtliche Zahl, weil der Durchschnitt von Schweizer Musik in der Schweiz sonst nur bei ca. 10 % liegt. Neben dem hohen Anteil an CH-Musik gab auch eine Umfrage unter den Schweizer Indie-Labels den Ausschlag. Die befragten Label-Promoterinnen und -Promoter bewerteten allesamt die Zusammenarbeit mit RadioFr. Freiburg als sehr gut. Bei keinem anderen Radio in der Schweiz wurde so oft über unbekannte Bands berichtet, wurden so viele Newcomer-Artists zum Interview eingeladen und der Schweizer Musik so viel Platz eingeräumt.

Am Freitag, 24. September 2021 wurde an einer feierlichen Zeremonie der symbolische Preis, ein Holzradio, überreicht. Es ist das letzte Mal, dass Sonart diese Ehrung vornimmt, wie Nick Werren, Leiter Projekte Pop/Rock, bestätigt: «Mit Radio BeO, Kanal K, Radio Canal 3 français und nun Radio Freiburg wurden leider bereits alle privaten Radios (ausgenommen sind Sparten-Radios wie Tell, Eviva, Maria oder JAM), die sich in besonderem Masse für Schweizer Musik einsetzen, ausgezeichnet. Bei allen anderen Stationen wurden erschreckend tiefe Zahlen festgestellt. Unbekannten, regionalen Acts wird so der Weg in die Öffentlichkeit enorm erschwert und der Grossteil der Urheberrechtsabgaben wandert damit ins Ausland, statt in die heimische Szene.» Sonart setzt sich aber weiterhin für höhere Anteile von CH-Musik in Schweizer Privatradios ein.
 

Bildlegende v.l.:
Valentin Brügger – RadioFr., Anne Moser – RadioFr., Cécile Drexel – Geschäftsführerin Sonart, Nick Werren – Leiter Projekte Pop/Rock Sonart, Markus Baumer – Verwaltungs- und Finanzdirektor RadioFr., Patrick Hirschi – RadioFr., Anna Binz – RadioFr., Marc Henninger – Programmleiter RadioFr.

Chorkultur historisch und geografisch

Die Schweizer Chorszene ist nicht über einen Kamm zu scheren – das hat eine Konferenz an der Universität Bern am 17. und 18. September bestätigt.

Der Chœur St-Michel aus Fribourg 2018 in Bellinzona. Foto: Katiuscia Albertoni/Archiv SMZ

Die Tagung «Chorleben in der Schweiz» schaffte, was selten genug ist: Sie brachte Fachleute aus der West- und der Deutschschweiz in ausgeglichenem Mass zusammen. Damit ermöglichte sie einen hochinteressanten Austausch über die Differenzen der Chorkultur der Landesteile, die rätoromanische Schweiz eingeschlossen. Etwas zu kurz kam bloss die italienische Schweiz. Vermutlich war die geglückte Überbrückung des Röschtigrabens dem Umstand zu verdanken, dass die polyglotte Tagungsleiterin, die brasilianische Musikwissenschaftlerin Caiti Hauck, in der Westschweiz zu Hause ist. Sie forscht in Bern und ist dabei der Geschichte je eines Chores aus der Deutschschweiz (Berner Liedertafel) und der Romandie (Société de Chant de la Ville de Fribourg) nachgegangen.

Ergänzt wurde die Schweizer Vogelschau mit Berichten aus der deutschen Chortradition, vertreten durch Friedhelm Brusniak. Der Würzburger Pädagogik-Professor hat für die Aufarbeitung der Geschichte der volkstümlichen Vokalmusik in Deutschland Pionierarbeit geleistet. Die vielfältigen, auch – vor allem mit Blick auf das Schaffen Othmar Schoecks – problematischen Vernetzungen der Schweiz mit dem monarchistischen und nationalsozialistischen nördlichen Nachbarn wurden dabei keineswegs ausgeklammert. Letztere zeichnete der Strassburger Kirchenmusik-Spezialist Beat Föllmi nach.

Mit grossem Interesse folgte man etwa den Ausführungen der Musikwissenschaftlerin und Übersetzerin Irène Minder-Jeanneret zur Frühgeschichte der Société de musique de Genève. Diese war, wie man staunend zur Kenntnis nahm, 1823 nicht zuletzt aus touristischen Gründen ins Leben gerufen worden, erwarteten doch die Reisenden auf dem Weg ins Mont-Blanc-Gebiet in der Stadt Abendunterhaltungen.

Aurore Cala-Fontannaz, zurzeit Doktorandin an der Pariser Sorbonne, zeigte die Bedeutung des in der Deutschschweiz kaum bekannten Vokalkomponisten Louis Niedermeyer auf, der in Paris eine Gesangsschule begründete und die Kirchenmusik reformierte. Wie die Chortradition in der Westschweiz vom Katholizismus mitgeprägt ist, zeigten überdies die Ausführungen der Freiburger Historikerin Anne Philipona: Bei Begegnungen von Deutsch- und Westschweizer Chören Mitte des 19. Jahrhunderts prallten während des Sonderbundskriegs republikanische Gesinnungen und romtreuer Konservatismus aufeinander.

Diesseits und jenseits der Saane

Das Chorwesen in der Romandie wurde nicht zuletzt von ambitionierten Verbindungen aus Gesang und Theater beeinflusst. Dafür steht, wie die Freiburger Musikwissenschaftlerin Delphine Vincent aufzeigte, das Théâtre du Jorat, das etwas ausserhalb von Lausanne steht. Für die dort realisierten Bühnenwerke schrieben Gustave Doret, Arthur Honegger, Frank Martin und der heute kaum noch bekannte André-François Marescotti Musik und Chorpartien. Daneben belebte auch das gigantische Winzerfest von Vevey die Chorszene, zuletzt 2019, wo es traditionsgemäss mit rund 800 Sängern und Sängerinnen dem Ranz des vaches, dem «Blues der Alpen», Reverenz erwies. Eine Volksjury hatte dafür eine Gruppe von Tenören, darunter Bauern, Elektriker, Lehrer, Ingenieure oder Strassenmeister, zusammengestellt, die das «Lyoba» zelebrierten. Diese Hymne der Sennen sowie die Hymne à la Terre, einen von Blaise Hofmann eigens für das jüngste Fête des Vignerons geschriebenen Lobgesang, analysierte die Komponistin Noémie Favennec-Brun.

Konfessionelle Aspekte mögen eine Rolle spielen bei der Ausformung der sprachregionalen Gesangskulturen. In der Schlussdiskussion der West- und Deutschschweizer Chorvertreter zeigten sich deutliche Mentalitätsunterschiede – auch als Spiegel politischer Haltungen. Während in der Deutschschweiz die Repertoires mikrolokal sind und sich von Kanton zu Kanton, ja von Region zu Region unterscheiden, scheinen das gemeinsame Liedgut und die Ästhetik in der Westschweiz einheitlicher. Offenbar ist dort auch die Bereitschaft, das Repertoire mit anspruchsvollen neuen Kompositionen aus der Tradition der zeitgenössischen Kunstmusik zu beleben, deutlich grösser als in der Deutschschweiz. Östlich der Saane prägen mittlerweile Projektchöre mit grosser Stilvielfalt, von Pop über Gospel und Jazz bis zu Barber-Shop- und A-cappella-Formationen im Stil der Prinzen oder Flying Pickets die Szene. Dabei hat die Selbstausbeutung der selbst arrangierenden Chorleiterinnen und Chorleiter ein Ausmass angenommen, dass die Ensembles kaum mehr bereit sind, für einen extern vergebenen Kompositionsauftrag eine angemessene Summe aufzuwerfen.

Ins föderale Bild passt: Vermutlich haben nicht zuletzt Animositäten und Misstrauen dazu geführt, dass es in der Deutschschweiz nach der Abschaffung der Radiochöre nur in Ausnahmefällen gelungen ist, einen professionellen Chor über längere Zeit zu alimentieren. Zum Opfer fiel der mangelnden Bereitschaft mehrerer Städte, eine derartige Institution finanziell mitzutragen, letztlich der Schweizer Kammerchor, wie Lukas Näf, der Sohn des Gründers Fritz Näf, an der Tagung nachzeichnete.

Zum Bild

Das Foto stammt aus dem Artikel Sich singend kennenlernen von Niklaus Rüegg aus der Schweizer Musikzeitung 4/2018, Seite 8 f. Er beschreibt anhand zweier Chorprojekte, wie sich beim Singen Musik, Sprache und Kultur mit Emotionen verbinden.

PDF des Artikels

Die Schweizer Musikzeitung ist Medienpartnerin dieser Tagung.

Wie Melodien im Gedächtnis bleiben

Jodlerinnen und Jodler rund um den Alpstein verfügen über ein beeindruckendes Repertoire an Melodien, die sie jederzeit abrufen können. Wie schaffen sie das? Dieser Frage gingen Forschende der Hochschule Luzern in Zusammenarbeit mit dem Roothuus Gonten nach

(Bild: Roothuus Gonten)

Ob Appenzell Innerrhoder «Rugguusseli», Appenzell Ausserrhoder «Zäuerli» oder Toggenburger «Naturjodel» – in der Region rund um den Alpstein hat Jodeln eine lange Tradition. Typisch für diese Tradition, die mehrheitlich mündlich gelernt und weitervermittelt wird, ist der mehrstimmige Jodelgesang. Das Roothuus Gonten, Zentrum für Appenzeller und Toggenburger Volksmusik, besitzt eine eindrückliche Sammlung davon.

Wie gelingt es Jodlerinnen und Jodlern, sich eine Fülle an Jodelmelodien zu merken? Dieser Frage widmete sich ein Forschungsteam der Hochschule Luzern – Musik in einem vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Projekt. «Für Unkundige mögen Naturjodel zwar recht ähnlich klingen, aber sie unterscheiden sich bei genauerer Betrachtung deutlich, etwa in Bezug auf den Melodienverlauf oder das Tempo», sagt Projektleiter und Musikethnologe Raymond Ammann. Mit seinem Team hat er empirische und musikanalytische Daten in Ton, Bild und Literatur untersucht und mit Aussagen von Jodlerinnen und Jodlern verglichen.

Mehr  Infos:
https://www.hslu.ch/de-ch/hochschule-luzern/ueber-uns/medien/medienmitteilungen/2021/09/24/jodeln-im-kopf/

Lasset die Hörner erklingen!

Neunzig junge Hornistinnen und Hornisten aus der ganzen Schweiz spielten auf dem Vierwaldstättersee.

Auf dem Motorschiff «Diamant». Foto: zVg

Am Sonntag, 19. September 2021, begaben sich neunzig junge Hornistinnen und Hornisten aus der ganzen Schweiz nach Luzern, um auf dem Motorschiff «Diamant» bei einer Rundfahrt auf dem Vierwaldstättersee ein Konzert zu spielen. Mit dabei waren alle ihre Eltern und Verwandten. Vor der Fahrt wurde neben dem Kultur & Kongresszentrum Luzern im mächtigen Gesamtchor das Treffen feierlich eröffnet. Danach gingen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Bord, wo sie ihr Können in sieben Ensembles der fast 400 Personen umfassenden Zuhörerschaft im grossen Innensaal des Schiffes präsentieren durften. Geprobt wurde vorab am Freitag und Samstag im Schloss Dreilinden in Luzern. Den Anlass hatte ein Team aus Hornlehrern aus der Innerschweiz (Stephan Bühlmann, Silja Grimm, Sebastian Kälin, Joseph Koller, Andrea Rüegge, Renato Spengeler, Anita Surek) unter der Federführung von Kilian Jenny organisiert.

«Die Uhr schlägt langsam sieben» – Roland Mosers «Europäerin»

Das Musiktheater «Die Europäerin» von Roland Moser basiert auf einem Mikrogramm Robert Walsers und erklang nun beim Festival Rümlingen im Appenzellischen.

Fotos: kathrin schulthess fotografie

Ein Blatt von der Grösse 17.5 x 8 cm, also nicht mal ein Drittel des Formats dieser Zeitung, eng beschrieben in winziger, scheinbar unlesbarer Schrift. Es enthält jedoch: zwei nicht allzu kurze Gedichte, einen längeren Essay über Kleist als Dramatiker und ein Dramolett mit dem Titel Die Europäerin. Geschrieben wurde dieses Mikrogramm, das vom Nachlassverwalter die Nr. 400 erhielt, wohl im September 1927 von Robert Walser. Auch wenn sich in den Gedichten ein paar Stellen aus den anderen Texten finden, fragt man sich, was die vier Niederschriften in drei verschiedenen Textgattungen denn verbindet und warum sie auf diesem Blatt so gedrängt zusammenfanden. Einem spielerisch-plausiblen Lösungsvorschlag dieses Rätsels konnte man am 18. September im Rösslisaal zu Trogen beiwohnen. Zum zweiten und dritten Mal aufgeführt wurde dort das neue Musiktheater von Roland Moser, das erstmals einen Monat zuvor in Cernier erklungen war und nun erneut im Rahmen des Festivals Neue Musik Rümlingen.

Das basellandschaftliche Festival, das für Experiment und Freiluftanlässe steht, hatte Walsers wegen ins Appenzellische disloziert. Dessen Bürgerort war Teufen; er hatte die letzten 23 Jahre seines Lebens in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau verbracht und war 1956 bei einem Spaziergang im Schnee gestorben. Die zeitgenössische Musik, die sich – nicht nur in der Schweiz – in den letzten fünfzig Jahren mit einem Crescendo den Texten und der Figur dieses grossen Schweizer Dichters gewidmet hat, stellte ihn also neuerlich ins Zentrum.

So war denn während vier Tagen ein reichhaltiges Programm zu erleben, für das die Rümlinger Crew mit dem Musikwissenschaftler Roman Brotbeck zusammenspannte. Er hat gerade ein dickes Buch über Robert Walser und die Musik abgeschlossen, und diesem Thema widmete sich nun in Herisau auch die Robert-Walser-Gesellschaft in ihrem Symposium. Weite Klangspaziergänge boten sich in einer Landschaft an, durch die Walser selber einst mit Carl Seelig gewandert war, wobei man weniger für ein Bier als für Musik einkehrte, in Scheunen oder Waldlichtungen oder Dörfern. Einige gelungene Stücke und Performances waren dabei zu erleben, so von Brigitta Muntendorf, Sylwia Zytynska, Stephan Froleyks, Paul Giger/Andres Bosshard. Aber es zeigte sich selbst bei den gelungenen Beispielen, wie schwierig es ist, den walserschen Charakter, diese schräge, mit Heiterkeit und Verspieltheit gemischte Traurigkeit und Abgründigkeit, zu treffen. Am schönsten gelang dies wohl der Performance Es cho + es go, für die Gisa Frank und Urban Mäder mit Bläsern und Akteurinnen, grossenteils Laien aus dem Dorf Rehetobel, zusammenarbeiteten und eine wundersam skurrile Darbietung kreierten.

Dem unfassbaren Dichter nähergekommen

Ausserdem gab’s vier musiktheatralische Ereignisse: Patient Nr. 3561 des Kollektivs Mycelium, basierend auf Walsers Krankenakte; eine neue Version von Georges Aperghis’ Zeugen (mit den Handpuppen von Paul Klee); den etwas unschlüssigen Tobold von Anda Kryeziu und mittendrin eben Mosers Europäerin. Ihm gelang eine im Geist walsersche Produktion, weil er eben nicht zuviel draufstülpen wollte. Moser nahm gleichsam das Mikrogramm-Blatt als Einheit und entfaltete es.

Image
Aufführung von Roland Mosers «Die Europäerin» im Trogener Rösslisaal v.l. Jürg Kienberger, Leila Pfister, Roland Moser, Helena Winkelman, Niklaus Kost, Conrad Steinmann

Moser (am 17. September zusammen mit Conrad Steinmann und weiteren Musikerinnen und Musikern in Lugano mit einem Schweizer Musikpreis ausgezeichnet) hat in seinem Musiktheaterschaffen schon mehrmals mit merkwürdigen Textgattungen, etwa mit Briefen, gearbeitet. Er versteht sie als Anregungen, unterschiedliche Sprech-, Deklamations- und Singweisen einander entgegenzusetzen. Leila Pfister (Mezzosopran) als Europäerin und Niklaus Kost (Bariton) als ihr Freund lieferten sich ein hintersinniges Vokalduett, das von Jürg Kienberger (sprechend) kommentiert wurde; er trug auch den Kleist-Essay vor. Die Dramatik wurde so eher zurückgenommen, die Emotionalität untergraben, und doch blieb die Emphase, verknüpft seltsamerweise mit Zurückhaltung, gewahrt. Flexible Melodik und stockend gleichmässige Rhythmik scheinen kurzerhand zu wechseln. Identifizieren konnte man sich so kaum mit einer der Figuren, alles war im Widerspruch. Wesentlich aber war, dass mit der Bratsche von Helena Winkelman und den Blockflöten (inklusive Okarina) von Conrad Steinmann zwei weitere wortlos, aber höchst ausdrücklich deklamierende Personen hinzukamen. Ingrid Erb hatte dies alles diskret und ohne viel Aufwand inszeniert. Und so fühlte man sich hier diesem seltsamen Dichter auf ungreifbare Weise näher. Wie es ja auch am Schluss des einen Gedichts heisst. «Die Uhr schlägt langsam sieben, / und ihm ist alles völlig unfassbar geblieben.»

«Die Europäerin» – Uraufführung am 21. August in Cernier. Besuchte Vorstellung am 18. September in Trogen. Weitere Aufführungen am 29./30. Januar 2022 in der Gare du Nord Basel.

Festival Neue Musik Rümlingen, 15. bis 19. Sept. 2021. Eine Auswahl der Rümlinger Stücke ist am 19. November in der Alten Kirche Rümlingen zu hören.

Roman Brotbecks Buch Töne und Schälle. Robert Walser-Vertonungen 1912 bis 2022 erscheint im Herbst im Wilhelm-Fink-Verlag Paderborn.

get_footer();