In seiner «Kulturgeschichte der europäischen Musik» bringt Gernot Gruber überraschende Bezüge zu Tage, die Ausführungen sind aber oft abstrakt und bringen die Musik nicht wirklich nahe.
Dominik Sackmann
- 23. Nov. 2021
Ausschnitt aus dem Buchcover
Seit dreissig Jahren suche ich ein Buch über «europäische» Musikgeschichte für Studierende. Trotz der Fülle an anregenden Gedanken und Ideen («kritische Phantasie», S. 8) ist Gernot Grubers Kulturgeschichte der europäischen Musik für meinen Zweck ungeeignet. Hier wird – trotz einleuchtender Gedanken dazu – nicht Musikgeschichte erzählt, sondern über sie räsoniert. Dass unterschiedliche Epochen unter verschiedenen Perspektiven abgehandelt werden, ist zwar pragmatisch und wohltuend. Dennoch ist die Bandbreite vom blossen Referieren von Erforschtem (Musik des ersten Jahrtausends), komplizierten musikhistoriografischen Erwägungen (18. Jahrhundert) und blossem Namedropping (immer wieder) etwas gar gross.
Die letzte von sieben Abbildungen steht auf S. 77, Notenbeispiel gibt es kein einziges. Wie will der Autor so die Trias von «Wissen, Sehen und Hören» (S. 1) einlösen? Hier strahlen nicht die Errungenschaften der Komponisten und die Schönheiten von Musik, sondern die Gelehrsamkeit des Historikers. Allzu häufig braucht es beträchtlichen Sachverstand, um zu vermuten, was der Autor mit Nebenbemerkungen andeuten will. Dabei stellt ihm die deutsche Sprache mit abstrahierenden Wortendungen wie -ung und -ation unüberwindliche Fallen, statt dass er musikalische Leistung so konkret wie einfach vor dem geistigen Auge und Ohr der Lesenden sich entfalten lässt. Was ist mit «bewegliche Strukturierung» und «Verdichtung» gemeint bei einem Komponisten (J. S. Bach), von dem keine einzige Komposition als Beispiel zur Erläuterung herangezogen wird? Besonders ärgerlich ist die Nennung von Komponisten (und höchstens Werktiteln) ohne eine einzige Bemerkung zu deren Musik.
Wenn die Schweizer Musik von 1968 bis 1991 mit drei Namen (Klaus Huber, Rudolf Kelterborn und Heinz Holliger) umrissen wird, ist dies einseitig. Bleibt vom Letztgenannten nicht mehr übrig als «Der als Oboist weltberühmte Heinz Holliger (*1939) war ab 1975 Professor an der Freiburger Musikhochschule und ist auch als Dirigent und Komponist bis heute in der und für die Schweiz sehr einflussreich», so ist dies nichtssagend, nur bedingt richtig und deswegen innerhalb einer «[…]geschichte der […] Musik» unzuträglich.
Mein Ausgangspunkt war eine bestimmte Frage; die Antwort darauf ist negativ. Als Rezensent interessieren mich die Ausrichtung, das Konzept und dessen Umsetzung. Das heisst nicht, dass man das Buch als Informationsquelle nicht mit Gewinn lesen könnte. Der Autor versteht es, neue und ungewohnte Bezüge einsichtig zu machen und aus der Fülle seines Wissens ein neuerliches Nachdenken über Musikgeschichte zu provozieren.
Gernot Gruber: Kulturgeschichte der europäischen Musik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 832 S., € 49.99, Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2020, ISBN 978-3-7618-2508-2
Knochenflöten, Darmsaiten und vegane Basler Trommeln
Die Fragen nach der Musikalität der Tiere und unserer Verwendung tierischer Substanzen für den Bau von Musikinstrumenten stehen im Zentrum einer Ausstellung, die noch anderthalb Jahre zu sehen ist.
Walter Labhart
- 23. Nov. 2021
Blick in die Ausstellung. Foto: Historisches Museum Basel, Natascha Jansen
Unter dem Motto «tierisch!» vereinigen sich in Basel vier Museen zu zeitlich weiträumigen Auseinandersetzungen mit der Tierwelt in vielen Kulturen. Nebst dem Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (Tiere und Mischwesen in der Antike), dem Pharmaziemuseum der Universität Basel (Vom Tier zum Wirkstoff) und dem Museum der Kulturen Basel (Keine Kultur ohne Tiere) beteiligt sich an diesem Grossprojekt auch das Musikmuseum des Historischen Museums Basel. Seine Ausstellung in den Räumen des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses Lohnhof trägt den doppelbödigen Titel Der Klang der Tiere. Er gilt für die von Tieren selber erzeugte sowie die vom Menschen mit tierischen Materialien hervorgebrachte Musik.
Versammelt der erste Teil allerlei Singvögel zum Musizieren, so führt der zweite ebenso eindrücklich vor Augen und Ohren, wieviel Substanz von Tieren in Musikinstrumenten steckt.
Über 16Multimediastationen ist nicht nur viel über den Walgesang, Tiere in der klassischen Musik oder den Klang der Naturhörner zu erfahren, sondern auch über Skurrilitäten. So wird etwa die historische Vogelorgel «Serinette» kommentiert, deren Name sich vom Zeisig (französisch: Serin) ableitet (Anm. Red. siehe ArtikelLe serinage des oiseaux von Laurent Mettraux in SMZ 1/2019, S. 16). Sie diente dazu, einem im Käfig gefangenen Singvogel bestimmte Melodien beizubringen. Um Vögel allgemein zum Singen zu animieren, wurde eine Vogel-Flageolett genannte Blockflöte verwendet. Natürlich fehlen im Kinderzimmer musizierende oder tanzende Tiere nicht, wie denn zahlreiche Exponate speziell auf Kinder ausgerichtet sind. In kleinen Höhlen können die in Kinderliedern vorkommenden Lieblingstiere ausfindig gemacht werden.
Herkömmliche und künftige Materialien
Am ausführlichsten vorgestellt werden tierische Werkstoffe im musikalischen Umfeld. Kaum zu glauben, was es für die Herstellung einer Schellackplatte brauchte: 12 600 asiatische Lackschildläuse, kaum einen Millimeter kleine Winzlinge, lieferten ihr Sekret zur Gewinnung von 15 Prozent Schellack-Anteil an diesem historischen Tonträger. Weniger lausig, jedoch immer noch bedenklich gross sind die von Tieren geforderten Opfer bei der Herstellung von Saiten. Für zwölf dünne Violin-E-Saiten werden 29 Meter Tierdarm benötigt, für eine dicke Kontrabasssaite Darm von acht Schafen.
Bisher kaum Bekanntes ist über den Beruf des Pergamenters zu erfahren; Ungewohntes ist zu sehen wie etwa in einem Glas konservierte Tierdärme, ein Spannrahmen zur entsprechenden Saitenproduktion, Perlmutter an einer Handharmonika, Schildpatt an diversen Instrumenten und vielerlei Arten von Tierhäuten. Eine eigens für die Ausstellung aus künstlichen Materialien konstruierte vegane Basler Trommel weckt Hoffnungen auf eine längst fällige Reduzierung der tierischen Rohstoffe. Spätestens mit diesem Objekt regt die Ausstellung zum Nachdenken über Tierrechte und neues Materialbewusstsein an.
Farbige statt klangliche Umsetzung
Als ältestes Exponat springt eine zwischen 70 und 110 n. Chr. in Augusta Raurica aus Hundeknochen gefertigte römische Flöte in die Augen. Ob eine weitere aus Kranichknochen einen sangbareren Klang erzeugte, ist nicht zu erfahren, wohl aber die Menge von Pferdeschwanzhaaren, die es zur Bespannung eines Streicherbogens braucht, rund 170 – eine beachtliche Zahl.
Nach bedrückenden Informationen über Elfenbeinhandel zugunsten von Klaviertasten und anderes Tierleid wirkt die letzte Gefängniszelle wie ein fröhlicher Befreiungsschlag. Speziell für Kinder eingerichtet, stellt der farbenfrohe Raum aus ästhetischer Sicht das abschliessende Highlight der Ausstellung dar. Die Wände sind mit Vergrösserungen von Notenheften tapeziert, deren Titelblätter von renommierten Künstlern und Grafikern wie Pierre Bonnard, Clérisse Frères, Fritz Erler oder Willy Herzig gestaltet wurden. Da kommt der Klang der Tiere in Klavierstücken, Liedern, Modetänzen und Schlagern aus den 1920er-Jahren zu einer zwar stummen, künstlerisch aber vielstimmigen Entfaltung. Unter den Komponisten ragen Reger und Tschaikowsky, Bartók und Benatzky, Jacques Ibert und Richard Strauss hervor. Die aus der Privatsammlung des Basler Grafikers Jacques Hauser stammenden Titelblätter zu Kompositionen über vielerlei Tierarten rufen nach klanglicher Umsetzung. Die Rahmenveranstaltungen drehen sich jeweils um ein «Tier des Monats». Es ist zu hoffen, dass nach den bis im Sommer 2022 geplanten Vorträgen entsprechende Konzerte dazuzählen werden. (www.hmb.ch).
Isabel Münzner und Anne Hasselmann haben mit starker Berücksichtigung von Basler Leihgaben und geschärftem Umweltbewusstsein die ungemein informative Ausstellung kuratiert, in Zusammenarbeit mit der ebenso einfallsreichen Gestalterin Manuela Frey.
Für Schulen werden Führungen und Workshops angeboten. Ein Dossier für Lehrpersonen enthält zudem Einführungen in die Themenbereiche und Fragen, die in der Ausstellung zu lösen sind. Auch die Nutzung von Tieren und deren Rechte wird einbezogen. Die von allen vier Museen gemeinsam herausgegebene Begleitpublikation enthält einen Beitrag von Isabel Münzner, der besonders auf die umstrittene Musikalität der Tiere und den Gesang der Wale eingeht.
Der Nationale Kulturdialog hat sich an seiner Sitzung vom 22. November 2021 zur Umsetzung der Covid-Unterstützungsmassnahmen im Kulturbereich ausgetauscht. Kantone, Städte und Gemeinden unterstützen die vom Bundesrat vorgeschlagene Verlängerung der Kulturbestimmung im Covid-19-Gesetz bis Ende 2022.
Musikzeitung-Redaktion
- 23. Nov. 2021
Foto: Volodymyr Hryshchenko/unsplash.com
Der Nationale Kulturdialog stellt fest, dass sich die seit März 2020 geltenden Covid-Unterstützungsmassnahmen im Kulturbereich bewährt haben. Bisher wurden insgesamt über 23’000 Gesuche gutheissen und 420 Millionen Franken ausgerichtet. Ziel sei, die kulturelle Vielfalt der Schweiz zu erhalten, schreibt der Bund in seiner Medienmitteilung.
Die aktuelle Rechtsgrundlage der Covid-19-Kulturmassnahmen läuft Ende 2021 aus. Das Eidgenössische Parlament wird in der kommenden Wintersession über eine Verlängerung der Kulturmassnahmen im Covid-19-Gesetz entscheiden. Kantone, Städte und Gemeinden unterstützen den Vorschlag des Bundesrates, die Kulturbestimmung im Covid-19-Gesetz bis Ende 2022 zu verlängern. Die Mitglieder des Kulturdialoges rufen die Stimmbevölkerung im Weiteren dazu auf, sich am 28. November 2021 für die Änderung des Covid-19-Gesetzes auszusprechen.
Der Nationale Kulturdialog hat ausserdem Herausforderungen thematisiert, die bereits vor der Pandemie bestanden, in den letzten Monaten aber noch an Bedeutung gewonnen haben, so wie etwa die angemessene Entschädigung von Kulturschaffenden.
Der Nationale Kulturdialog wurde 2011 ins Leben gerufen und vereinigt Vertreter der politischen Instanzen und der Kulturbeauftragten der Kantone, Städte, Gemeinden und des Bundes. Seine Arbeit basiert auf einer Vereinbarung aus dem Jahr 2011 und einem jeweils mehrjährigen Arbeitsprogramm. Die politischen Instanzen bilden das strategische Steuerungsorgan des Nationalen Kulturdialogs mit dem Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI), Vertretern der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), des Schweizerischen Städteverbands (SSV) und des Schweizerischen Gemeindeverbands (SGV).
Regula Rapp, die frühere Rektorin der Schola Cantorum Basiliensis und jetzige Rektorin der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst wird per Ende März 2022 Rektorin der Barenboim-Said-Akademie in Berlin. Sie folgt in dem Amt auf den Gründungsrektor Michael Naumann.
Musikzeitung-Redaktion
- 18. Nov. 2021
Regula Rapp. Foto: Thilo Haeferer (Nachweis s. unten)
Die 1961 in Konstanz geborene Rapp hat in Berlin historische Tasteninstrumente sowie Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstwissenschaft studiert. Von 1990 bis 1998 war sie stellvertretende Leiterin der Schola Cantorum Basiliensis, an die sie von 2005 bis 2012 als Rektorin zurückkehrte. Dazwischen wirkte sie als Chefdramaturgin an der Staatsoper Unter den Linden Berlin. Seit 2012 ist sie Rektorin der Musikhochschule in Stuttgart.
Die staatlich anerkannte Barenboim-Said Akademie bietet in Berlin einen Bachelor-Studiengang in Musik für begabte junge Menschen vor allem aus dem Nahen Osten und Nordafrika an. Das intensive Studium setzt einen zweiten Schwerpunkt in geistes- und musikwissenschaftlichen Themen. Neben dem Bachelor kann ein Artist Diploma in allen Orchester-Instrumentalfächern sowie Klavier, Komposition und Dirigieren erworben werden. Das Artist Diploma bereitet angehende Musiker auf eine professionelle Laufbahn vor.
Markus Hodel wird nach 16 Jahren als Rektor der Hochschule Luzern per Ende des nächsten Jahres zurücktreten. Unter seiner Leitung wuchsen die ursprünglich fünf, später sechs Departemente zusammen.
PM/SMZ_WB
- 17. Nov. 2021
Markus Hodel. Foto: Hochschule Luzern
Hodels erste Amtsperiode bis 2008 war durch die Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge, der sogenannten Bologna-Reform, geprägt. Zusätzlich umfasste sie eine weitreichende Neuorganisation der Hochschule, bei der die damals fünf autonomen Teilschulen Technik & Architektur, Wirtschaft, Soziale Arbeit, Design & Kunst und Musik unter dem Dach der «Hochschule Luzern» vereint und die Services zentralisiert wurden.
Seine Rückkehr an die Hochschule Luzern 2012 fiel in eine anforderungsreiche Zeit, in der die öffentliche Hand sparen und Markus Hodel um die Finanzierungsbeiträge der sechs Zentralschweizer Trägerkantone ringen musste. Er trieb zudem die organisatorische und räumliche Integration der Hochschule unter Einbezug der gesamten Hochschulleitung schrittweise voran.
Für die Nachfolge von Markus Hodel wird eine Findungskommission unter der Leitung des Fachhochschulrates mit Vertreterinnen und Vertretern des Konkordatsrates, der Mitarbeitenden, der Studierenden sowie der Hochschulleitung gebildet. Die Stelle wird öffentlich ausgeschrieben.
Alte Reithalle Aarau: Das Orchester auf der Stuhlkante
Das Argovia Philharmonic ist Residenzorchester in der zum Kulturraum umgebauten Alten Reithalle in Aarau. Am 29. Oktober wurde der Konzertsaal eingeweiht.
Elisabeth Feller
- 17. Nov. 2021
Das Argovia Philharmonic und sein Chefdirigent Rune Bergmann. Foto: Patrick Hürlimann
«Bald», frohlockt die Besucherin, als sie die Alte Reithalle in Aarau erblickt. «Bald» verheisst für sie in dem neuen Mehrspartenhaus für Musik, Theater, Tanz und modernen Zirkus besonders orchestrales Glück. Hierher wird das Argovia Philharmonic, 58 Jahre nach seiner Gründung, als Residenzorchester einziehen – und den 2000 Quadratmeter grossen, flexibel nutzbaren Raum mit der Bühne Aarau teilen. Dieser Ort lebt von seiner Vergangenheit als Reithalle für das Dragonerregiment der Aarauer Armeegarnison, worauf die Architekten Barão-Hutter mit dem Belassen des ungeschönten Gemäuers und Dachgebälks anspielen. Über die von Martin Lachmann verantwortete Akustik hat die Besucherin schon viel Gutes gehört, umso mehr ersehnt sie das Eröffnungskonzert: «Neue Bahnen» verspricht das erste Programm und bietet Ludwig van Beethovens 1. Klavierkonzert mit dem Aargauer Pianisten Oliver Schnyder, Johannes Brahms’ 1. Sinfonie und Daniel Schnyders Argovia. Symphonie Nr. 5 «Pastorale», eine Auftragskomposition des Orchesters, die in der Alten Reithalle uraufgeführt wird.
Dies alles im Kopf steuert die Besucherin die Geschäftsstelle des Argovia Philharmonic an. Hier ist der neue Intendant Simon Müller zu Hause, der nach einer bewegten Saison 2020/21 die künstlerische Zukunft des Orchesters mit dem Chefdirigenten Rune Bergmann gestaltet. Der Norweger hatte seinen Einstand mitten in der Pandemie, im Herbst 2020, gegeben. Danach ging erst einmal nichts mehr.
Von Asien bis Zofingen
Weil es den Kontakt zum Publikum nicht verlieren wollte, streamte das Argovia Philharmonic in dieser Zeit erstmals drei Konzerte – mit Erfolg. «Diese Ergänzung zum normalen Orchesterbetrieb will auch künftig gut geplant sein», sagt Simon Müller und spricht an, was angedacht ist: Streaming von Konzerten in Asien. «Rune Bergmann hat eine Vision: Er will mit dem Argovia Philharmonic in die Welt hinaus, weil er in diesem Orchester sehr viel Potenzial sieht. In diesem Zusammenhang wird das Marketing eine wichtige Rolle spielen. Aber natürlich wollen wir uns in erster Linie noch stärker als bis anhin in der Schweiz positionieren», betont der Intendant: «Wir sind seit Kurzem auch Mitglied im Orchesterverband, obwohl wir ein Projektorchester sind.» Simon Müller bringt es so auf den Punkt: «Das Argovia Philharmonic ist für mich das Orchester auf der Stuhlkante», will heissen: «Anders als die Sinfonieorchester mit Jahresverträgen, ist für das Argovia Philharmonic auch Beethovens fünfte Sinfonie keine Routine.»
Mit dem Einzug in der Alten Reithalle erhält das Orchester nun eine akustisch vorzügliche Heimat, in der pro Jahr 40 Tage für fünf Abonnementszyklen eingeplant sind; dazu kommen Spezialanlässe und Kammerkonzerte. Anders als bei den Sinfoniekonzerten mit rechteckigem Zuschauerraum und ansteigender Tribüne sitzt das Publikum bei diesen intimen Veranstaltungen an den Seiten einer kleinen Arena. «Einmal mehr zählt das Gesamterlebnis – die unmittelbare Nähe zum Publikum», sagt Müller dazu. Diese Nähe sucht das Orchester auch bei seinen Abstechern nach Beinwil am See, Villmergen, Zofingen, Rheinfelden sowie Baden.
Baden ist sozusagen die zweite Heimat des Orchesters. Während 20 Jahren hat das Argovia Philharmonic im Trafo-Saal gespielt – in Nachbarschaft zu grossen Kinos. Nun wird es ins Kurtheater umziehen, das dank einer ebenso fachkundigen wie sensiblen Renovierung und Erweiterung ein Juwel geworden ist. Ein genuiner Konzertsaal ist der Theaterraum zwar nicht, aber dank der neuen Akustikmuschel auf der Bühne dürfte das Konzerterlebnis erfreulich sein. Die bisherigen Veranstaltungen anderer Orchester in diesem schmucken Theater haben jedenfalls gezeigt: Dies- und jenseits der Rampe herrscht jene knisternde Spannung, die zu einem Konzert gehört. Das Argovia Philharmonic hat also viel vor in der Saison 2021/22, an deren Ende es Aufnahmen auf CD herausbringen wird. Welche? «Die vier Brahms-Sinfonien, die wir zuvor in unseren Konzerten mitgeschnitten haben», sagt Simon Müller. Das Eröffnungskonzert wird von Radio SRF2 am 9. Dezember übertragen.
Warmer, klarer Klang ohne Schärfe
Dann ist es soweit: Die Besucherin sitzt erstmals im neuen Konzertsaal in der Alten Reithalle. Er ist durch eine schiefergraue Wand vom Theaterraum getrennt, verfügt über viele Parkettreihen und eine Tribüne, die beste Sicht garantiert. Doch wie klingt der Saal? Wunderbar! Als die ersten Takte mit Alphorn und Orchester von Daniel Schnyders viele Musikstile witzig mischender Argovia-Sinfonie erklingen, traut man seinen Ohren nicht: kein Verschwimmen im Nachhall; das Klangbild ist warm und dazu von einer Transparenz, die nichts mit der analytischen Schärfe anderer moderner Konzertsäle zu tun hat. Natürlich werden Chefdirigent Rune Bergmann und das Aargauer Ensemble noch manches justieren, doch an der Eröffnung zeigt sich, was mit dem «Orchester auf der Stuhlkante» gemeint ist. Für das Argovia Philharmonic ist nichts selbstverständlich. Deshalb packt es alles aus, was es seit jeher kann, was aber jetzt so richtig leuchten kann: Streicherglanz, exzellente Bläsersoli und ein ganz eigenes, aufmerksames Aufeinander-Hören. Dass Oliver Schnyder das Tüpfelchen auf dem i der Eröffnung ist, verwundert nicht. Seine Interpretation von Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 auf einem Bösendorfer federt förmlich in den schnellen, fein austarierten Ecksätzen und ist im Largo von einer Innigkeit, die man liebend gerne konservieren möchte. Kurz: Mit dem Einstand in der Alten Reithalle Aarau meldet sich das Argovia Philharmonic nachdrücklich in der Schweizer Orchesterlandschaft.
Heavy Metal war eine der grössten Jugendsubkulturen der späten DDR. Nikolai Okunew vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) hat diese Szene erstmals historisch erforscht.
Musikzeitung-Redaktion
- 16. Nov. 2021
Nikolai Okunew mit seiner Studie «Red Metal». Foto: ZZF
Okunew hat private wie staatliche Archive durchforstet und Dutzende Interviews geführt. Das Ergebnis ist eine popgeschichtliche Studie über die Entstehung und Entwicklung einer bislang kaum beachteten jugendlichen Subkultur: die Heavy-Metal-Szene der DDR. Sie wurde in den 1980er-Jahren von der staatlichen Kulturpolitik ähnlich kritisch beäugt wie die Punks. Denn die Jugend sollte sich «niveauvoll» kleiden, in der FDJ engagieren und Lieder singen, die sie fröhlich stimme und die Liebe zur sozialistischen Heimat stärke.
Doch viele junge Menschen fühlten sich davon schon lange nicht mehr angesprochen. Immer stärker und offener wandten sie sich westlicher Popkultur zu. AC/DC, Motörhead, Metallica und Slayer begeisterten die Jugendlichen. So wuchs die Metal-Szene in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zur vermutlich grössten jugendlichen Subkultur in der DDR heran.
Der Kinospezialist Daniel Waser wird zum neuen Geschäftsführer des Aargauer Kuratoriums ernannt. Er folgt in dem Amt auf den Musikkenner Peter Erismann, der die Leitung des Ensemble Proton Bern übernommen hat.
Musikzeitung-Redaktion
- 15. Nov. 2021
Daniel Waser. Foto: zVg
Der 1963 geborene Daniel Waser ist in Bern aufgewachsen und schloss seine Ausbildung als Bernischer Fürsprecher ab. Er bringt über 25 Jahre Erfahrung im Kulturbereich mit einem nationalen und europäischen Netzwerk mit. Insbesondere baute er nach erfolgreicher Volksabstimmung ab 2005 die Zürcher Filmstiftung auf. Er leitete die Stiftung während 14 Jahren als Geschäftsführer und positionierte die regionale Filmförderung erfolgreich als international anerkanntes Kompetenzzentrum.
In seiner beruflichen Laufbahn war er unter anderem freiberuflicher Journalist bei der Tageszeitung Der Bund, Gründer und Geschäftsführer der Cinématte AG sowie Geschäftsführer der Quinnie Cinéma Films in Bern und Zentralsekretär bei impressum, dem Schweizer Journalistenverband in Freiburg.
Paul Hindemith ist wieder da
Am 27. Oktober wurde das Paul-Hindemith-Archiv mit einer festlichen Veranstaltung in der Aula der Universität Zürich eröffnet. Tabea Zimmermann spielte dessen Sonate op. 25/1 für Bratsche solo und Christine Lubkoll hielt den Festvortrag.
Musikzeitung-Redaktion
- 12. Nov. 2021
Blick ins Archiv. Foto: Musikwissenschaftliches Institut der Universität Zürich,SMPV
Eigentlich hätte das Archiv schon letztes Jahr im April eröffnet sein sollen. Die Fondation Hindemith hatte dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Zürich das Archiv des Komponisten und von dessen Frau aus ihrer Villa in Blonay geschenkt (siehe SMZ 6/2020, S. 24). Pandemiebedingt musste der Festakt mehrmals verschoben werden. Die Freude darüber, dass es am 27. Oktober endlich dazu kam, war in der Aula der Universität Zürich gross. «Hindemith ist wieder da», brachte es Katharina Michaelowa, Dekanin der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich, auf den Punkt. Die Pflege der Erinnerung an Paul Hindemith mache dessen Kreativität deutlich spürbar und motiviere, Neues zu versuchen. Andreas Eckhardt, Präsident der Fondation Hindemith, Blonay, wies auf das Anliegen dieser Schenkung hin, Hindemiths Bibliothek im Sinne des «angemessenen Erinnerns» als Ganzes zu erhalten und für die Wissenschaft und die Öffentlichkeit nutzbar zu machen.
In die Feier integriert war die sogenannte «Hindemith-Vorlesung 2021». Seit 2006 erinnert das Musikwissenschaftliche Institut jeweils im November mit einem Vortrag an den ersten Lehrstuhlinhaber. Christine Lubkoll, Professorin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, sprach zum Thema «Verpflichtendes Erbe»: Paul Hindemith und die Kulturtradition. Mit Bezug auf die Rede, die Hindemith am 12. September 1950 in Hamburg gehalten hatte (Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes Erbe), beleuchtete sie Hindemiths Leben als Exilant und Heimkehrer, sein Verhältnis zur Tradition und schloss: «Verpflichtendes Erbe ist immer Aufbruch.»
In ihren Begrüssungsworten wies Inga Mai Groote, als Direktorin des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich die Gastgeberin dieses Anlasses, schon darauf hin: Das Zürcher Hindemith-Archiv will die Schätze bewahren, aber auch zum Klingen bringen. Und so rundete Tabea Zimmermann mit ihrer höchst eindrucksvollen Interpretation von Hindemiths Sonate für Bratsche solo op. 25/1 diese Eröffnungsfeier aufs Schönste ab.
Hohe Ehren für Mozart-Forscher Konrad
Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad hat mit dem Maximiliansorden die höchste Auszeichnung bekommen, die der Freistaat Bayern für akademische Leistungen vergibt.
Musikzeitung-Redaktion
- 12. Nov. 2021
Ulrich Konrad (li) mit Ministerpräsident Markus Söder. Foto: Bayerische Staatskanzlei,SMPV
Der 1957 geborene Ulrich Konrad hat seit 1996 einen Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) inne. Er studierte Musikwissenschaft, Germanistik sowie Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Bonn und Wien. Nach der Promotion zum Doktor der Philosophie lehrte und forschte er ab 1983 am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Göttingen. Dort habilitierte er sich 1991.
Nach der Vertretung des Musikwissenschaftlichen Lehrstuhls an der Freien Universität Berlin und einer Lehrtätigkeit in Göttingen leitete er von 1993 bis 1996 die C4-Professur für Musikwissenschaft an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg. Danach wechselte er als Lehrstuhlinhaber und Leiter des Instituts für Musikwissenschaft an die JMU. Unter seiner Führung wurde das Institut neu ausgerichtet und ausgebaut.
Donaueschinger Musiktage: Der Zwang, sich ständig neu zu erfinden
Hundert Jahre Donaueschinger Musiktage: Versuch einer Bilanz.
Ein grosses Jubiläumsfestival sollte es werden, keine Feierlichkeiten, aber eine breit angelegte Leistungsschau des heutigen Musikschaffens mit Ausblicken in die Zukunft. Zwei kleine Blicke zurück gab es trotzdem: Im Festakt zur Eröffnung spielte das Diotima Quartett das dritte Streichquartett von Paul Hindemith, das im Gründungsjahr 1921 am 1. August im Donaueschinger Schloss des Fürsten von Fürstenberg erstmals erklungen war. Und das Lucerne Festival Contemporary Orchestra, das nun zum ersten Mal in Donaueschingen auftrat, brachte unter der Leitung von Baldur Brönnimann neben zwei Uraufführungen von Christian Mason und Milica Djordjević auch die Polyphonie X von Pierre Boulez zu Gehör, die 1951 in Donaueschingen für Aufruhr gesorgt hatte und dann dauerhaft in der Versenkung verschwand. Die Aufführung geriet schlackenlos, und man fragte sich, was an diesem harmlosen Zombie denn einst so skandalös erschienen war. Vielleicht die sterile serielle Mechanik?
Musizieren vor und hinter den Zäunen
Ansonsten herrschte pralle Gegenwart in dem um einen Tag verlängerten Festivalprogramm. 27 Uraufführungen in 24 Konzerten: Das grenzte an akustischen Overkill. Das Geschehen liess sich aber auch schön à la carte zu Hause am Bildschirm verfolgen, denn vom SWR wurde alles live in Radio und Internet übertragen. So entstand eine Öffentlichkeit, die über die notorischen Insiderkreise hinausreichte, und auch vor Ort wurden die «Neue-Musik-Zäune» für kurze Zeit beiseitegeräumt. Mit der massenwirksamen «Landschaftskomposition» Donau/Rauschen schufen Daniel Ott und Enrico Stolzenburg ein Jekami-Ereignis für über hundert Mitwirkende vom Akkordeonisten bis zur Blaskapelle, garniert mit Klängen und Geräuschen aus Lautsprechern. Schauplatz: die Donaueschinger Einkaufsmeile am Samstagnachmittag.
In den Orchester- und Ensemblekonzerten war man dann wieder unter sich und begegnete neben viel neuen Namen auch wieder den üblichen Verdächtigen: der Siemens-Preisträgerin Rebecca Saunders, dem unermüdlichen Enno Poppe, der trendigen Chaya Czernowin oder dem mit einem kompakten Orchesterstück aufwartenden Beat Furrer. Den Abschluss machte das in breiten Klangwogen sich ergiessende Oratorium The Red Death von Francesco Filidei über einen Text von Edgar Allan Poe, dem konkurrenzlosen Master of Disaster. Es war der passende Schlusspunkt für ein Festival, in dem Zukunftsskepsis und Untergangsfantasien schon seit Längerem eine kulturkritische, lustvoll applaudierte Unterströmung bilden und sich inmitten der Saturiertheit zunehmend künstlerisches Unbehagen breitmacht. Insofern Business as usual auch im Jubiläumsjahr.
Der Fürst als Mäzen der neuen Musik
Ein kurzer Blick in die alten Programme zeigt: Von ästhetischer Dauerlähmung konnte nie die Rede sein. Es gehört zu den Eigenschaften des Donaueschinger Festivals, dass es, getrieben von den Widersprüchen der Zeit, sich immer wieder neu erfinden und dadurch den Blick zwangsläufig nach vorne richten musste. Schon die Gründung war eigentlich ein produktives Missverständnis. Fürst Max Egon II. von Fürstenberg, ein kaisertreuer Adliger alten Stils, hatte die verrückte Idee, im kriegsverwüsteten Deutschland, in einer Zeit des revolutionären Umbruchs dem kompositorischen Nachwuchs eine Bühne zu verschaffen. Für ihn war das eher eine mäzenatische Laune, er liebte die Jagd und glamouröse Gesellschaften. Doch für die Komponisten und Interpreten, die er damit anlockte, waren die «Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst», so der damalige Titel, ein Versprechen auf die Zukunft.
Das Frankfurter Amar-Quartett führte im Umfeld der Donaueschinger Musiktage 1923 Paul Hindemiths Militärmusikparodie «Minimax – Repertorium für Militärmusik» auf. Links der Festivalgründer Fürst Max Egon II. zu Fürstenberg. Foto: Fürstlich Fürstenbergisches Archiv
Ein Programmausschuss, bestehend aus dem Reger-Schüler Joseph Haas, dem Pianisten Eduard Erdmann und dem Donaueschinger Chorleiter und Archivar Heinrich Burkhard, hatte für den ersten Jahrgang aus den Einsendungen von hundertsiebenunddreissig Komponisten ein Programm für drei Konzerte zusammengestellt; ein internationaler Ehrenausschuss, dem unter anderem Ferruccio Busoni, Richard Strauss, Franz Schreker und Arthur Nikisch angehörten, gab dem Unternehmen die höheren Weihen. Zu den Komponisten der ersten Stunde gehörten Philipp Jarnach, Alois Hába, Alban Berg, Paul Hindemith und Ernst Krenek, später kamen Schönberg und Webern dazu. Der Honeymoon dauerte sechs Jahre, dann wuchsen dem Fürsten die Kosten über den Kopf.
Ein Festival auf Wanderschaft
1927 wanderte das Festival nach Baden-Baden aus. Nun nahm der Dirigent Hermann Scherchen das Heft in die Hand, und mit Lehrstück von Brecht/Hindemith (mit Publikumsbeteiligung), dem Lindberghflug von Brecht/Hindemith/Weill sowie Filmmusik von Hanns Eisler rückte die «angewandte Musik» ins Zentrum. Doch auch das dauerte nicht lange, die Wirtschaftskrise von 1929 versetzte dem Unternehmen den Todesstoss.
So zog man 1930 erst weiter nach Berlin und 1933, als das Nazidesaster einsetzte, wieder heim nach Donaueschingen. Der irrlichternde Fürst war inzwischen in die SA eingetreten, und bei den neugeborenen Donaueschinger Musiktagen wurden nun völkische Kantaten und Gemeinschaftsmusik mit der Schwäbischen Frauensinggruppe aufgeführt. 1938 stand auch Othmar Schoecks Präludium für Orchester op. 48 auf dem Programm. Beim Kriegsausbruch 1939 nahm der Spuk dann ein vorläufiges Ende.
Auferstanden aus Ruinen
Der zweite grosse Anfang geschah 1946, zuerst mit bewährten Namen wie Prokofjew, Schostakowitsch und Hindemith. 1950 stieg der Südwestfunk Baden-Baden mit dem Musikchef Heinrich Strobel und dem Dirigenten Hans Rosbaud ein, und nun entwickelte sich Donaueschingen innerhalb weniger Jahre zu einem internationalen Hotspot der zeitgenössischen Musik. Alles, was in der Avantgarde Rang und Namen hatte, ging hier jetzt ein und aus: die Platzhirsche des Serialismus wie Stockhausen und Boulez, die Aleatoriker, die polnischen Klangkomponisten, Cage, Berio, Ligeti, Xenakis, Kagel und viele andere. Das Prinzip, stets den neuen Tendenzen ein Forum zu bieten, hatte auch in der Phase der Postmoderne Bestand und hat bis heute gegolten. Doch vermutlich ändert sich nun einiges.
Von Beginn an haben die Musiktage ihren ästhetischen Horizont schrittweise erweitert. In der ersten Phase war er noch weitgehend auf den deutsch-österreichischen Bereich begrenzt. Ab 1946 weitete er sich auf Europa aus, mit wenigen Abstechern in aussereuropäische Gebiete. Und ab jetzt will man sich gezielt den anderen Kulturen zuwenden. Das Signal dazu setzte nun der Jubiläumsjahrgang.
Die Globalisierung Donaueschingens
Der Schritt ist richtig und notwendig. Die «Neue Musik» ist längst kein europäisches Phänomen mehr. Doch je mehr sie sich auf dem Globus ausbreitet, desto stärker werden die europäischen Massstäbe infrage gestellt. Unter dem Motto «Donaueschingen global» standen nun auch Ensembles, Komponisten und Performer unter anderem aus Kolumbien, Bolivien, Ghana, Thailand und Usbekistan auf dem Programm. Während manche Südamerikaner noch am Schnittpunkt von indigenen Kulturen und europäisch-amerikanischen Einflüssen arbeiten, entwickeln die meisten asiatischen und afrikanischen Beiträge ihre eigenen Traditionen weiter; bevorzugte Mittel sind Elektronik und aktuelle mediale Darstellungsformen.
Der traditionelle Festivalgänger in Donaueschingen wurde mit völlig neuen Hör- und Seherfahrungen konfrontiert. Und mit einem Sack voller Fragen: Was ist das «Neue» an diesen Beiträgen? Ist es neu in der Sache oder bloss neu für uns weisse Männer und Frauen? In welchem Verhältnis steht das «Neue» zum «Alten» der Herkunftsregion? Müssen wir das wissen, um es zu verstehen? Geht es um interkulturelle Verständigung oder bloss um die gute alte Exotismus-Show in neuen, bunten, medial aufgehübschten Kleidern? Klar war jedenfalls: Viel frischer Wind im Schwarzwald, und die thematische Auswahl garantierte, dass sich auch die Segel der antikolonialistischen Debatte blähen durften.
Mit «Donaueschingen global» lag man voll im Trend. Wie es weitergeht unter der neuen Leiterin Lydia Rilling, die nun Björn Gottstein ablöst, wird sich zeigen. Zwei neuralgische Punkte sind aber schon erkennbar: Der eine betrifft die begrenzten zeitlichen Kapazitäten des Wochenendfestivals. Bei der neuen Weltoffenheit könnten die etablierte weisse Avantgarde und ihr Publikum noch unvermutet in die Defensive geraten. Der andere betrifft die Kooperation mit regierungsnahen Organisationen bei «Donaueschingen global». Wenn sich die Musiktage weiter auf deren organisatorische und finanzielle Effizienz verlassen, dann kann der hippe multikulturelle Spass zwar ungebremst weitergehen. Aber damit begeben sie sich auch in die Abhängigkeit der Aussenpolitik, die den Kulturaustausch ihren Richtlinien unterordnet und zur Imagepflege nutzt. Und dann ist in der Neuen Musik auch Schluss mit der künstlerischen Freiheit.
Die Stadt Bern fördert mit zwei Stipendien Arbeitsaufenthalte für Kulturschaffende im Ausland. Für vier Monate nach Belgrad reist die Musikerin Milena Krstic. Die zweite Jahreshälfte 2022 wird die Theaterwissenschaftlerin Silja Gruner in Kairo verbringen.
Musikzeitung-Redaktion
- 10. Nov. 2021
Milena Krstic. Foto: Sarah Wimmer
Milena Krstic tritt solo als Milena Patagônia auf, im Duo mit Sarah Elena Müller als Cruise Ship Misery. Seit sie für ein Balkan-Theaterprojekt engagiert war, will sie den Wurzeln ihrer Familie in Serbien auf den Grund gehen. Diese Recherche wird ihr Lebenspartner Markus Mezenen in einem Film dokumentieren. Zum ersten Mal werde, schreibt die Stadt Bern, damit in Zusammenarbeit mit der Städtekonferenz Kultur (SKK) ein Atelierstipendium an ein Kollektiv oder eine Familie vergeben.
Die zweite Jahreshälfte 2022 wird die Theaterwissenschaftlerin Silja Gruner in Kairo verbringen. Sie arbeitet seit fünf Jahren beim auawirleben Theaterfestival Bern und will die Zeit nutzen, um ihre Recherche zu inklusiverer Theaterpraxis und der arabischen Theaterwelt zu vertiefen.
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Schweizer Städtekonferenz Kultur SKK bietet die Stadt Bern alle zwei bis drei Jahre Aufenthalte für Kulturschaffende aller Sparten in Belgrad (4 Monate), Buenos Aires (6 Monate), Genua (3 Monate) und Kairo (6 Monate) an. Das Stipendium umfasst die Kosten für ein Wohnatelier und einen Beitrag an die Lebenskosten. Die Arbeits- und Wohnräume in Belgrad sind im Rahmen des Berner Stipendiums für ein Kollektiv, Duo oder eine Familie reserviert.
HSLU-M offeriert Volksmusik-Bachelor
Die Hochschule Luzern bietet ab Herbst 2022 einen kompletten Bachelor-Studiengang in Volksmusik an. Dozierende sind Volksmusikgrössen wie Markus Flückiger, Andreas Gabriel, Christoph Pfändler oder Nadja Räss.
PM/SMZ_WB
- 09. Nov. 2021
Nadja Räss gehört zu den Dozierenden im Studiengang Volksmusik der HSLU. Foto: Daniel Ammann
Traditionelle und moderne Volksmusik erfreut sich nicht nur beim Publikum grosser Beliebtheit. In den letzten Jahren ist auch die Nachfrage nach entsprechenden Musiklehrpersonen stark gewachsen. Dieser Entwicklung trägt die Hochschule Luzern – Musik nun verstärkt Rechnung: Konnten Studierende bisher lediglich einen Schwerpunkt Volksmusik im Rahmen des Bachelor- oder Masterstudiums wählen, so haben sie ab Herbst 2022 die Möglichkeit, ihr Studium komplett auf die Volksmusik – instrumental wie auch vokal – auszurichten.
Als Hauptinstrument wählen die Studierenden volksmusiktypische Instrumente wie Schwyzerörgeli, Hackbrett, Akkordeon und Jodel oder ein volksmusiknahes Instrument wie Geige, Kontrabass, Klarinette oder Klavier. Im praktischen Bereich wird es zudem Unterricht im Stegreifeln, also dem Spielen nach Gehör geben.
Das Neue-Musik-Netzwerk Pakt Bern bespielte am 23. September 2021 das Münster und die Kirche St. Peter und Paul.
Musikzeitung-Redaktion
- 08. Nov. 2021
«Von Roll Twist» von Cod.Act. auf dem Müsterplatz. Fotos: zVg,SMPV
Nachmittags um drei ging es los und endete spät abends: Musik, Performances und eine Klanginstallation nahmen das Berner Münster in Beschlag, und zwar von oben bis unten. Auf den «Bsetzisteinen» des Münsterplatzes hatten die Brüder Michel und André Décosterd, bekannt als Cod.Act, eine ihrer Installationen aufgebaut: Ein mit Seilen verstricktes Inividuum versuchte sich zu befreien, wobei die Seile je nach Zug und Zugrichtung unterschiedliche Klänge von sich gaben.
Im Gewölbesaal, einem achteckigen Konzertraum hoch oben im Münster, spielten acht Musikerinnen und Musiker des Ensembles Proton Bern Earth Ears: A Sonic Ritual der amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros. Mit Appel interstellaire für Horn solo aus dem Stück Du Canyon aux étoiles von Olivier Messiaen begann das Olivier-Darbellay-Hornquartett seine Darbietung von Werken für ein bis vier Hörner, die meisten komponiert vom Kollektiv L’art pour l’Aar.
Franziska Baumann stellte in Prop-hectics unser Verhältnis zu virtuellen Stimmen auf den Prüfstand; Léa Legros Pontal näherte sich von der Improvisation her Ligetis Bratschen-Sonate und Christoph Mahnig verführte mit Spaces für Trompete solo zum genauen akustischen Erkunden seines Instruments und des Konzertraums.
Franziska Baumann im Gewölbesaal des Münsters
Werner Hasler liess sich vom Münstergeläut inspirieren, «hängte» seine Intervention an die ausströmenden Klänge, veränderte sie unmerklich, um ihnen dann seinen Nachklang hinterher zu schicken.
Für den Nachklang des Festivals zogen die Besucherinnen und Besucher keine hundert Meter weiter in die Krypta der Kirche St. Peter und Paul. In dem niedrigen Untergeschoss spielte das Kukuruz Quartet auf vier Klavieren Kompositionen des afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman, der Rassismus und Homophobie bereits in den 1970er-Jahren zu bedrückenden Themen seiner Stücke machte.
Musik von Julius Eastman in der Krypta der Kirche St. Peter und Paul