Aus für Luzerner Blue Balls

«Trotz diverser Gespräche in den letzten Wochen und Monaten» habe keine zukunftsfähige Lösung für das Blue Balls Festival gefunden werden können, schreibt die Stadt Luzern. Die Zusammenarbeit mit dem Verein Luzerner Blues Session endet deshalb Ende 2022.

Foto: Dominik Meier/Blue Balls Festival

2020 und 2021 konnte das Blue Balls Festival wegen der Corona-Pandemie nicht durchgeführt werden. 2022 wurde das Festival aus gesundheitlichen Gründen von Urs Leierer abgesagt. Nach der Absage 2022 haben die Stadt Luzern, der Verein Luzerner Blues Session und Urs Leierer diskutiert, wie die Zukunft des Blue Balls Festival in der Stadt Luzern ab 2023 aussehen könnte.

Die Stadt Luzern bedauert, dass dabei auf den bestehenden Strukturen keine zukunftsfähige Lösung gefunden werden konnte. Die jahrelange Zusammenarbeit mit dem Verein Luzerner Blues Session ist deshalb beendet. Per 2023 bestehen keine Ansprüche vom Verein Luzerner Blues Session gegenüber der Stadt Luzern mehr, weder auf Subventionsgelder, noch auf KKL-Nutzungsrechte oder auf die Nutzung des öffentlichen Raums.

Eingegangene sowie neu eingehende Alternativen und Ersatzkonzepte ab 2023 werden von der Stadt Luzern nun geprüft.

Seinerzeit populärster Schweizer Tenor

Omanut veranstaltet am 22. September in Zürich einen Spaziergang und ein Konzert unter dem Titel «Auf den Spuren von Max Lichtegg – Hommage zum 30. Todestag».

Max Lichtegg als Paris in Offenbachs «Die schöne Helena». Foto: www.maxlichtegg.ch,SMPV

Nach einem Spaziergang rund um das Zürcher Opernhaus bringt der Abend in der Zürcher Lebewohlfabrik Tonaufnahmen, Filmdokumente und ein Gespräch mit Theodor Lichtmann, Pianist und Max Lichteggs Sohn, sowie Alfred Fassbind, ehemaliger Schüler und Biograf Lichteggs.

Weitere Informationen und Link zum Lichtegg-Podcast von Gabriela Kaegi über:

http://omanut.ch/veranstaltungen/spaziergang-und-konzert-mit-alfred-fassbind-und-theodor-lichtmann

Frédéric Bollis Hommage an Prag

Bei der Eröffnung des Konstanzer Musikfestivals am 21. Juli 2022 wurde die zweite Sinfonie von Frédéric Bolli uraufgeführt. Ihr liegen fünf Gedichte des Komponisten zugrunde.

Applaus nach dem Eröffnungskonzert des Konstanzer Musikfestivals 2022. Foto: Suzanne Hofmann

Prag ist seit jeher ein Ort der Künste und vor allem der Musik gewesen. In der Barockzeit fand hier Jan Dismas Zelenka seine Ausbildung, für Prag komponierte Mozart eine seiner späten Sinfonien, sein Don Giovanni wurde dort uraufgeführt, und in der Spätromantik strahlte die Musik von Komponisten wie Antonín Dvořák und Bedřich Smetana aus Prag in die Welt. Damit hat des Schweizer Komponisten Frédéric Bolli zweite Sinfonie, mit dem Beinamen Prager Frühlingssinfonie, streng genommen wenig zu tun. Es gibt darin zwar teils barocke Kompositionstechniken wie den Kanon, der natürlich nicht im Sinne eines ausgeprägten Neo-Barock-Stils angewandt wird. Vielmehr bezieht sich Bollis Komposition auf ganz private Erinnerungen während eines Aufenthalts in Prag mit seiner Schulklasse, als er Lehrer an der Kantonsschule in Frauenfeld war.

Im Rahmen des Eröffnungskonzerts des Konstanzer Musikfestivals, 21. bis 29. Juli 2022, fand die Uraufführung statt. Bollis Frühlingssinfonie folgte auf Sergei Prokofjews gewichtiges Klavierkonzert Nr. 1 Des-Dur op. 10 und Erich Wolfgang Korngolds anspruchsvolles Violinkonzert D-Dur op. 35. Ausübende waren die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz unter dem Dirigat von Benjamin Lack. Ort des Konzerts war die ehemalige Kirche des einstigen Dominikanerklosters auf der Insel im Bodensee, im Festsaal des Inselhotels. Ohne Frage ein schöner Ort für ein Konzert. Und nicht allzu oft dürfte man Gelegenheit haben, mit dem Komponisten nach der Aufführung am See zu sitzen, etwas Kühles zu trinken und über das Werk zu plaudern. «Jeden Tag schrieb ich ein kurzes Gedicht in freiem Versmass, jeweils an einem anderen Ort des alten Prag», erzählte mir Bolli. «Diese Verse sind inzwischen gut zwanzig Jahre alt. Insgesamt sind es fünf Gedichte, die jeweils den fünf Sätzen meiner Sinfonie die Satztitel geben und für Sopran solo auskomponiert sind. Insofern hat meine zweite Sinfonie nicht allein instrumentalen Charakter, sondern eine Struktur wie eine fünfteilige Kantate für Solosopran und Orchester. Eine sehr persönliche Hommage an Prag.»

Instrumental wird das Thema des ersten Gedichts Travestita di legno ausgekostet auf rhythmisch vertrackte Weise mit viel Holz-Schlagwerk:
Travestita di legno

Holzvermummt
steckte sie fest
in Strassenschluchten,
kluftverrannt in
grauen Verrichtungen,
bis die Stimmen
verklagter Schrecken
sie lösten aus
tatenlosen Beschaulichkeiten.
Dann erst wandte sie
für Sekunden
dem Licht Blicke zu.

«Allegretto» ist der Eröffnungssatz der Sinfonie überschrieben. Entsprechend munter und keck entfaltet sich ein instrumentales Vorspiel. Sobald der Sopran einsetzt, in freiem Melos den Wortspielen folgend, wechselt das Sinfonische zur Kantate. Sängerin Ania Vegry trägt ihren Part mit Ausdruck und Humor zugleich vor. Streicherakkorde und farbige Tupfer der Holzbläser in Zwölftonreihen begleiten die gesungene Lyrik. Fagott- und Klarinettensoli beleben das Ganze ebenso wie akzentuierende Pauken. Das zweite Gedicht mit dem Titel Postmoderne steht dem zweiten, langsamen Satz mit der Tempovorschrift «Largo» voran.

Postmoderne

Atavistische Bohnenkrautweisheiten
durchschlummern meine
kühnsten Tagträume.

Landesübliche Schlafmuster
durchkämmen die eisigen
Vorstädte.

Handänderungen
künden von meistgespielten Klassikern,
während sich treuloser Unfug
dickflüssig breitmacht.

Insbesondere in diesem Satz erweist sich Bolli als Meister der Klangfarben, vor allem wenn Bassklarinette und Kontrafagott dialogisieren und später Pauken und Englischhorn hinzutreten. Eine klagende Melodik drückt wohl die im Gedicht angesprochenen «landesüblichen Schlafmuster» und «die eisigen Vorstädte» aus, noch bevor die Sopranistin die Worte ausspricht. Ferner tauchen in einem rascheren Abschnitt barocke Formen auf, die dem Satz eine verspielte Note verleihen und sich auf die später gesungenen Worte «Handänderungen künden von meistgepielten Klassikern» beziehen mögen. Tumultuös und im Fortissimo endet dieser Satz.
Zum eigentlichen langsamen Satz der Sinfonie wird der ruhige dritte. Fahl und dissonant wirkt eine schwebende Streicherlinie, eingewoben wird ein helles Flötensolo. All dem fügt der Sopran lamentierend leuchtend das dritte Gedicht College bei.
College

Eutermuffiges Zusammenspiel
mürbt an langen Fäden.

Krost es im Hinblick,
so bleibt es doch verträglich.
Entrinnen bahnt sich
unverhofft an,
und tränenvergossen atmet
sich doch leichter
die ölgetränkte Luft.

Nach so viel schwebendem Lamento folgt eine Art Scherzo auf La primavera. Bezeichnenderweise lautet die Tempoangabe dieses kunterbunten Stückes «Tempo di valse». Noch bevor die Sängerin die Verse anstimmt, erblüht in diesem Prager Walzer geradezu ein Galopp in den Frühlingstag und wartet mit funkelndem Bläserpomp und zackigen Rhythmen auf. Fast klingt dieses Scherzo wie eine neo-barocke Komposition.

La primavera

Grüssen kunterbunte,
kugelrunde Fliederbüsche
dauerverwehte
himmelblaue
Sonnenalleen,
legen sich zweifelhafte
Kümmernisse
zur plötzlichen Ruhe,

bleiben
Seitenhiebe formbetont
in gelben Schlingen
farbverfangen und
unausgesprochen
in kaum verhehlten,
althergebrachten Rücksichten

stecken.

Endlich, im Finale frei nach dem Gedicht Jazz-Knödel, wird die Hommage an Böhmen und Prag etwas ironisch auf die Spitze getrieben. Denn Knödel sind eine gewichtige Beilage der böhmisch deftigen Küche. Mit swingenden Tonfolgen samt Pizzicato zu rhythmisch polterndem Schlagwerk hebt der Satz an. Dazu treten Solo-Oboe, Solo-Flöte und Solo-Fagott. Harmonisch expressiv werden gewisse Passagen des Gedichts, wie «Slowfox tanzende Lamento-Orgien» von breiten Streicherakkorden untermalt.
Jazz-Knödel

Nicht darüber hinwegtäuschen
können schwindende
swingende Klänge, dass
dem üppig-öden Treiben,
letzten Minuten des
zur Neige gehenden Beladens
von Filzmüllhalden
demnächst Slowfox tanzende

Lamento-Orgien folgen werden,
derweil Schienengeratter
und klaustrophobes Wälzen
unweigerlich den Kunstbombast
zu zerpoltern gedenken.

Schliesslich klingt die Sinfonie abrupt im Fortissimo aus, den «Kunstbombast zu zerpoltern». Einige Zuhörer meinten, die Prager Frühlingssinfonie habe das Zeug zu einem echten Repertoirestück.

Image
Frédéric Bolli. Foto: Fritjof Schultz

691 neue Studierende

An der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste) haben 691 Studierende im Toni-Areal und in der Gessnerallee neu ihr Studium aufgenommen.

(Bild: ZHdK/Johannes Dietschi)

Von den 691 Studienanfängerinnen und -anfängern an der ZHdK haben sich 278 für einen Bachelor- oder Masterstudiengang im Bereich Musik immatrikuliert, 117 in Design, 91 in Fine Arts, 111 in Art Education und Transdisziplinarität sowie 94 in Darstellenden Künsten und Film.

Insgesamt studieren an der ZHdK 2344 Personen. Davon absolvieren 1240 einen der acht Bachelor- und 1104 einen der elf Masterstudiengänge. Die Studierendenzahl ist gegenüber den letzten Jahren konstant geblieben. An der ZHdK gilt ein Numerus clausus; Studieninteressierte durchlaufen vorgängig ein strenges Zulassungsverfahren.

Chabrol gewinnt 10. Dirigentenwettbewerb

Die in der Region Basel tätige Emilie Chabrol ist die beste Nachwuchsdirigentin der Schweiz. Die Klangmalerin hat den 10. Schweizerischen Dirigentenwettbewerb in Suhr als erste Frau gewonnen.

Die aus Chambéry stammende und heute in der Region Basel tätige Dirigentin überzeugte durch ihre präzise und intensive Orchesterarbeit. Ihre Stärke ist die Gestaltung lyrischer Passagen. Der Bündner Gaudens Bieri belegte den zweiten und der Berner Boris Oppliger den dritten Rang.

Die Preise werden nur vergeben, wenn die hohen Anforderungen der Jury (Carlo Balmelli, Annick Villanueva und Chiara Vidoni) erfüllt werden. Bewertet werden unter anderem Probenarbeit, Dirigiertechnik, Interpretation, Orchesterkontakt, Musikalität und der Gesamteindruck.

Für die zehnte Austragung hatten sich 18 Kandidatinnen und Kandidaten angemeldet und in insgesamt vier Runden ein anspruchsvolles Programm zu bewältigen. Die zehn von der Musikkommission zugelassenen Dirigentinnen und Dirigenten probten in der Vorrunde während 20 Minuten ein dem Blasorchester Baden Wettingen unbekanntes Werk.

Davos-Festival unter neuer Leitung

Die Musikwissenschaftlerin Elena D’Orta übernimmt ab November die Geschäftsführung des Davos-Festivals. Sie folgt auf Anne-Kathrin Topp, die neu für die Bach-Stiftung in St. Gallen tätig sein wird.

Elena D’Orta. Bild: Swanhild Kruckelmann

Die 30-jährige Elena D’Orta war von 2017 bis 2019 Assistentin der Künstlerischen Direktion und für Drittmittelakquise beim Sinfonieorchester Basel tätig. Dort übernahm sie neben der künstlerischen Planung 2019 zusätzlich den Bereich Musikvermittlung und Inklusion, dessen Leitung sie bis 2022 innehatte.

Im Frühling dieses Jahres übernahm sie eine Projektleitung bei der Hamburger Kultur- und Bildungsinitiative Tonali. Dort verantwortet sie noch bis Oktober zwei bundesweite Kooperationsprojekte mit dem Reeperbahn-Festival – dem grössten Club-Festival Europas mit fast 1000 Konzerten, Ausstellungen, Sessions und mehr.

Musikfestival Bern: Aus heiterem Himmel

Das diesjährige Musikfestival Bern stand unter dem Schlagwort «unvermittelt» und thematisierte bereits auf dem Flyer den Zwiespalt zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit.

Begegnung mit Ballon im Hof des Berner Progr. Foto: Pia Schwab

Als ich mich am Festival-Freitag zwischen zwei Veranstaltungen im Hof des Progr umschaue, wo das Musikfestival Bern sein Hauptquartier hat, zappeln die Windböen eines nahen Gewitters vorbei. Ein weisser Festival-Ballon wird an seiner Schnur hin und her geschlagen, unberechenbar, unvorhersehbar – unvermittelt. Er stimmt mich perfekt ein auf akustische Ereignisse zwischen abruptem Auftauchen, unvermutetem Hiersein und unkontrollierbarem Verschwinden. Hier ist auch ein Cage-Raum eingerichtet. Der Meister des Zufalls in der Neuen Musik gehört bei diesem Motto unbedingt dazu; in einer langen Cage-Nacht spriessen seine Klänge wie Pilze …

Zuvor habe ich die Vorstellung im Münster besucht. Dort stand ich nach den vorabendlich belebten Gassen unversehens in der Ruhe des Kirchenschiffs, bevor ich mich zu den wartenden Zuhörerinnen und Zuhörern weit vorn in der Krypta gesellte. Messiaens Quatuor pour la fin du temps begann vermittelt. Ein Moderator erzählte, wie das Stück entstanden war: Winter 1941, der Komponist in Kriegsgefangenschaft schreibt für die Besetzung, die sich aus den Mithäftlingen bilden lässt. Und er schreibt «für das Ende der Zeit». Man erwartet Schreckensvisionen. Aber wo das Ende, der Tod folgen könnten, lässt Messiaen Lobgesänge ertönen, ekstatische Farben wirbeln, Instrumentallinien aus der Zeit davonziehen. Wie muss diese Musik die Mitgefangenen getroffen haben in ihrem Hunger, der Kälte, der Verzweiflung? Unvermittelter Trost.

Hier im Münster wurde ich auf die Musik vorbereitet. Ich bin unschlüssig. Ja, das hilft, das Stück zu verstehen oder eher: das Unverständlich-Unglaubliche besser zu ermessen. Und vielleicht hilft es auch, dass überhaupt Neugier entsteht, Zuhörer kommen. Und zugleich hindert es eben die Begegnung aus heiterem Himmel. Vermittlung sei, steht auf dem Festival-Flyer, vor allem in der Neuen Musik sehr gefragt. Das Musikfestival Bern tut in dieser Hinsicht eine Menge mit Einführungen, Hörspaziergängen, Workshops für Schulen und Jugendliche und es ist sich – insbesondere beim Thema «unvermittelt» – auch des Dilemmas bewusst.

Undurchdringliche Nähe

Nach meiner Ballon-Begegnung verschlägt es mich zu einer Wohnzimmeroper. Im dritten Stock eines Hauses an der Herrengasse setze ich mich mit einer Handvoll Neugierigen in die bereitgestellten Sessel und Stühle. Ich bin gespannt, wie die erwarteten Klänge zwischen so vertrauten Dingen wie Bücherwänden, Sofa und Zimmerpflanzen wirken werden. Die Duo-Oper sei krankheitshalber zum Solo-Singspiel geschrumpft, erklärt Lukas Hasler. Dann lässt er einen Diabolokreisel sirren, beginnt zu sprechen, zu singen, vorzulesen, auf einer Dulcimer zu spielen, manchmal gedoppelt von einem Kassettengerät. Er bleibt stets leise, beharrlich, er insistiert. Das Ziel sei, habe ich im Programm gelesen, dass die Dinge, die uns umgeben, endlich zu uns sprächen. Die verrückte Idee gefällt mir, aber ausser der sanften Geduld des Darstellers vermittelt sich mir das Vorhaben nicht. Zu mir sprechen die Dinge nicht. So wird das Unvermittelte umkreist. Manchmal stellt es sich ein.

In den fünf Festivaltagen wurden über 2400 Eintrittskarten für über 40 Veranstaltungen verkauft. Die nächste Ausgabe des Musikfestivals Bern findet vom 6. bis 10. September 2023 zum Thema « √ » (Wurzelzeichen) statt.

Luzern mit weiteren Ausfallentschädigungen

Der Luzerner Regierungsrat beantragt dem Kantonsrat, dem Entwurf eines Dekrets über einen Sonderkredit von gut 4 Millionen Franken zur Ausrichtung von weiteren Ausfallentschädigungen aufgrund der Covid-19-Epidemie im Kulturbereich zuzustimmen.

Der Luzerner Regierungsrat 2022. Foto: Kanton Luzern

Noch immer zeige die Covid-19-Epidemie finanzielle Auswirkungen, schreibt der Kanton Luzern. Im Kulturbereich wird ein Sonderkredit von gut 4 Millionen Franken für Ausfallentschädigungen notwendig. Der Bund beteiligt sich zur Hälfte an diesen Kosten. Weiter beantragt der Regierungsrat dem Kantonsrat zwölf Nachtragskredite zum Voranschlag 2022 im Umfang von rund 23,5 Millionen Franken. Das Geschäft wird in der Oktobersession im Kantonsrat behandelt.

Das Pandemie-Jahr 2021 war laut der Botschaft für Luzerner Kulturunternehmen wie für Kulturschaffende und Kulturvereine im Laienbereich sehr herausfordernd, konnte aber dank den Ausfallentschädigungen so weit überstanden werden, dass Schliessungen und Konkurse grossmehrheitlich vermieden werden konnten, trotz Verlusten in den Jahresrechnungen. Der Kanton Luzern stellte für das Jahr 2021 eine Summe von insgesamt rund 22,1 Millionen Franken für dieses Instrument zur Verfügung, wovon 16 Millionen Franken grösstenteils für Ausfallentschädigungen für Kulturunternehmen verwendet wurden sowie ein deutlich kleinerer Anteil für Ausfallentschädigungen für Kulturschaffende und für Transformationsprojekte.

Musikalische Grundbildung: vernachlässigt und verschleppt

Seit 10 Jahren sind Bund und Kantone verfassungsgemäss verpflichtet, die musikalische Bildung der Jugend zu fördern. BV 67a ist international einzigartig, doch weit davon entfernt, erfüllt zu sein.

v.l. Peter Hänni, Letizia A. Ineichen, Mark Grundler, Ruedi Kämpf, Christian Lüscher. Foto: zVg

Am 23. September 2012 gelang der Initiative «Jugend und Musik» ein fast historisch zu nennender Erfolg: 73 Prozent der Stimmenden legten ein Ja in die Urne und sämtliche Stände sagten ebenfalls Ja. Damit hat sich unser Land dazu verpflichtet, sich um das Bildungsgut Musik in besonderem Masse zu kümmern. Das Hochschulinstitut IVP NMS Bern hat zusammen mit Bildung Bern (Berufsverband der Lehrpersonen) und dem Verband Bernischer Musikschulen VBMS am 3. September den Versuch einer Zwischenbilanz gewagt – ja, eine Zwischenbilanz nach 10 Jahren, denn die Umsetzung des Verfassungsartikels 67a «Musikalische Bildung» ist noch nicht abgeschlossen. Absatz 1 (Förderung der musikalischen Bildung von Kindern und Jugendlichen) wurde mit dem Breitenförderungsangebot «Jugend und Musik» abgedeckt, und zur Umsetzung von Absatz 3 (Zugang zum Musizieren und Begabtenförderung) wird gerade die sogenannte «Talent Card» entwickelt. Von den über dreissig Umsetzungsmassnahmen, die damals von der Arbeitsgruppe vorgeschlagen wurden, sind ganze zwei herausgepickt worden. – Die damaligen Initianten mussten schmerzlich erfahren, dass die Politik kein Wunschkonzert ist.

Die Krux mit der kantonalen Hoheit

Absatz 1 und 3 liegen in der Kompetenz des Bundes und wurden deshalb als erstes angepackt. Was den Absatz 2 (hochwertiger Musikunterricht an Schulen) betrifft, sind wir nach 10 Jahren noch nicht viel weiter. Der Gesetzestext stösst beim Prinzip der kantonalen Bildungshoheit schnell an Grenzen und daher wird das Thema seit 10 Jahren wie eine heisse Kartoffel zwischen den Kantonen und dem Bund hin und her geschoben.

An der Volksschule gibt es selbstverständlich guten Musikunterricht – aber ist er «hochwertig», wie es der Gesetzestext vorschreibt? Tendenziell zeigt die Entwicklung eher in die Gegenrichtung. Die Zahl der effektiv gehaltenen Musikstunden ist schweizweit rückläufig. Zu dieser Entwicklung tragen der Lehrplan 21 mit der stärkeren Gewichtung anderer Fächer, die Abwählbarkeit des Faches Musik an den pädagogischen Hochschulen (PH), der gegenwärtige Lehrpersonenmangel und die damit verbundene mangelhafte musikalische Kompetenz vieler Lehrpersonen bei.

Die Referentin der Fachtagung «Hochwertiger Musikunterricht an Schulen», Letizia Ineichen, ist Fachdidaktikerin und Verfasserin einer Dissertation zur Bedeutung des Verfassungsartikels 67a Abs. 2 für die musikalische Bildung in der Grundförderung. Sie präsentierte eine Analyse der Wochenstundentafel aus dem Schuljahr 2019/2020: Die Anzahl der Musikstunden schwankt je nach Kanton stark. Am meisten Musik wird im Kanton Schaffhausen unterrichtet: drei 45-Minuten-Lektionen in den Klassen 1 und 2, zwei in den Klassen 3 bis 6. Am anderen Ende der Skala liegen Zug und Appenzell Innerrhoden mit durchgehend nur einer Lektion. In einer zweiten Analyse stellte Ineichen die Ausbildungsprogramme der PHs Bern, FHNW, Luzern, St. Gallen und Zürich einander gegenüber. Ausser an der PH St. Gallen (hier werden alle Fächer studiert) gilt das «Mehrfachprofil», das heisst, 2 von 9 Fächern können abgewählt werden. Musik ist eines davon. Studierende, die am Gymnasium einen guten Musikunterricht bekamen, wählen an der PH eher das Fach Musik. «Die musikalische Ausbildung der Primarlehrpersonen fängt am Gymnasium an», betonte Mark Grundler, ehemaliger Dozent an der Pädagogischen Hochschule Bern und Volksschulleiter, stellte jedoch fest: «Wir haben leider immer mehr musikalische Analphabeten unter den Bewerbern.»

Verbesserte Ausbildung und Zusammenarbeit

«Es ist zu viel Zeit vergangen, ohne dass sich etwas Wesentliches verändert hätte», sagt Letizia Ineichen und schlägt eine Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten vor: «Hochwertiger Musikunterricht impliziert Qualität und fachliche Kompetenz der Lehrpersonen. Fachliche, fachdidaktische und musikalisch-instrumentale Kompetenzen bilden eine bedeutende Bedingung für das Gelingen.» Dies sei nur durch eine gute Ausbildung zu erreichen. Betreuung in Form von Coaching und Mentoring sowie Weiterbildungsangebote für Berufseinsteigerinnen und fachfremde Lehrpersonen seien nötig, die «Tankstelle Hochschule» allein genüge nicht mehr. Kooperationen könnten in Form institutionalisierter Zusammenarbeit zwischen der Volksschule, der pädagogischen Hochschule, der Musikschule sowie weiteren Bildungspartnern entstehen.

Die Volksschule müsste sich mehr öffnen für externe Musiklehrpersonen, die zusammen mit den Klassenlehrpersonen oder allein Musik unterrichteten. Diesen Lehrpersonen wiederum sollten entsprechende Ausbildungsprogramme an den Hochschulen, etwa in Form eines «Minorprogramms Musikunterricht Primar», angeboten werden.

An guten Ideen der Zusammenarbeit fehlt es nicht. Das zeigte auch Michael Marending, Lehrer an den Musikschulen Langenthal und Bantiger, mit der Präsentation seines Kooperationsprojekts Musikschule-Volksschule in Form eines Musiktags. Der Schulleiter der MS Zuchwil, Michael Vescovi, stellte das Solothurner Modell vor. In seinem Kanton sind die Musikschulen Teil der Volksschule und befinden sich meist im selben Gebäude. Das macht die Zusammenarbeit in vielerlei Hinsicht leichter. Projekte können von vornherein als gemeinsame Schulvorhaben aufgegleist werden.

Die Tagung warf viele zentrale und lange vernachlässigte Fragen auf und gab nach 10 Jahren hoffentlich den Anstoss für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Thema. Es sieht ganz danach aus, als kämen die Kantone nicht um eine «Harmonisierung der Ziele des Musikunterrichts an Schulen» (BV Art 67a Abs 2) herum, wenn sie den geforderten hochwertigen Musikunterricht erreichen wollen. Vom Bund ist ein erster Schritt kaum zu erwarten.

Details zum Bild
Auf dem Podium zu sehen sind (v. l. n. r.)
Peter Hänni, Schulinspektorat Bern-Mittelland
Letizia A. Ineichen, Dozentin PH Luzern und Leiterin Amt für Kultur und Sport Stadt Luzern
Mark Grundler, Schulleiter Primarschule Pestalozzi in Thun
Ruedi Kämpf, Dozent Fachdidaktik Musik am IVPNMS in Bern
Christian Lüscher, Moderation

Davos-Festival unter neuer Leitung

Die Musikwissenschaftlerin Elena D’Orta übernimmt ab November die Geschäftsführung des Davos-Festivals. Sie folgt auf Anne-Kathrin Topp, die neu für die Bach-Stiftung in St. Gallen tätig sein wird.

Die 30-jährige Elena D’Orta war von 2017 bis 2019 Assistentin der Künstlerischen Direktion und für Drittmittelakquise beim Sinfonieorchester Basel tätig. Dort übernahm sie neben der künstlerischen Planung 2019 zusätzlich den Bereich Musikvermittlung und Inklusion, dessen Leitung sie bis 2022 innehatte.

Im Frühling dieses Jahres übernahm sie eine Projektleitung bei der Hamburger Kultur- und Bildungsinitiative Tonali. Dort verantwortet sie noch bis Oktober zwei bundesweite Kooperationsprojekte mit dem Reeperbahn-Festival – dem grössten Club-Festival Europas mit fast 1000 Konzerten, Ausstellungen, Sessions und mehr.

188 Musik-Diplome vergeben

An der Diplomfeier des Departements Musik der Hochschule Luzern haben 188 Absolventinnen und Absolventen der Bachelor- und Master-Studiengänge ihre Diplome erhalten. Drei von ihnen wurden mit dem Strebi-Gedenkpreis ausgezeichnet. Auf Stufe Weiterbildung gab es 65 erfolgreiche Abschlüsse.

Ursula Jones-Strebi mit Departements-Direktor Valentin Gloor (Foto: Priska Ketterer)

70 Personen beendeten an der HSLU-M (Departement Musik der Hochschule Luzern) das Bachelor-Studium, 118 das Master-Studium. Im Bachelor of Arts in Music erhielten 64 Absolventinnen und Absolventen ihre Diplome, davon 40 im Profil Klassik und 24 im Profil Jazz. Im Bachelor of Arts in Musik und Bewegung gab es sechs Abschlüsse.

Im Master of Arts in Music wurden insgesamt 53 Diplome vergeben, die meisten davon im Profil Performance Klassik (31). Im Master of Arts in Musikpädagogik haben 65 Absolventinnen und Absolventen ihre berufliche Qualifikation für das Unterrichten an Musikschulen oder Maturitätsschulen erworben, davon neun auf Stufe Schulmusik II.

Weiter gab es 65 musikpädagogische wie künstlerische Weiterbildungsabschlüsse im Master of Advanced Studies (MAS), Diploma of Advanced Studies (DAS) oder Certificate of Advanced Studies (CAS). Darunter sind die ersten sieben erfolgreichen Teilnehmer/innen des CAS-Programms «Musik vermitteln», das in Kooperation mit dem Luzerner Sinfonieorchester und in enger Zusammenarbeit mit dem Lucerne Festival sowie regionalen und internationalen Praxispartnerinstitutionen (vom Haus der Volksmusik bis hin zur Hamburger Elbphilharmonie) durchgeführt wurde.

An der Diplomfeier wurden drei, mit je 2000 Franken dotierte Preise der Strebi Stiftung für besonders herausragende Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen verliehen, und zwar an: Vincent Rigling, Bachelor of Arts in Music, Profil Jazz instrumental, Hauptfach Gitarre;
Matthieu Grandola, Bachelor of Arts in Music, Profil Klassik instrumental, Hauptfach Querflöte und Raísa Ierone, Bachelor of Arts in Music, Profil Klassik vokal, Hauptfach Gesang.
 

Die Kultur während der Coronapandemie

Die neueste Ausgabe der «Taschenstatistik Kultur in der Schweiz» des Bundesamts für Kultur (BAK) liefert unter anderem einen Überblick über die Unterstützungsleistungen, die der Bund zwischen März 2020 und Ende 2021 zugunsten des Kultursektors erbracht hat.

Visualisierung der verteilten Beiträge. Hellblau unten rechts: Soforthilfen (4.5 Mio.). Grafik: SMZ

Kulturunternehmen und Kulturschaffende erhielten Ausfallentschädigungen in der Höhe von 447,9 Millionen Franken. Diese wurden je zur Hälfte durch Bund und Kantone finanziert. Professionelle Kulturschaffende konnten zudem Nothilfen zur Deckung der unmittelbaren Lebenshaltungskosten beantragen. Dafür hat der Bund 23,2 Millionen Franken aufgewendet. Auch nichtprofessionelle kulturelle Aktivitäten wurden vom Bund unterstützt: Laienvereine im Kulturbereich erhielten Finanzhilfen in der Höhe von insgesamt 28,9 Millionen Franken.

Schliesslich wurden Transformationsprojekte von Kulturunternehmen mit insgesamt 57,9 Millionen Franken unterstützt, je zur Hälfte durch den Bund und die Kantone. Ziel dieser Projekte ist, neues Publikum zu gewinnen und strukturelle Neuausrichtungen zu unterstützen, etwa zur Bewältigung des digitalen Wandels.

Mehr Infos:
https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/aktuelles/nsb-news.msg-id-90312.html

Geschwister Pfister mit Theaterpreis geehrt

Das Bundesamt für Kultur (BAK) zeichnet im Rahmen der Verleihung des Grand Prix Darstellende Künste das Musikkabarett Geschwister Pfister mit einem Theaterpreis aus.

Geschwister Pfister (Bild: BAK / Charlotte Krieger)

Seit über 30 Jahren sei das Musikkabarett bekannt für ihre perfektionierten Programme, schreibt das BAK. Ihre Gründer hätten sich an der Schauspielschule in Bern kennengelernt und operierten heute von Berlin aus,  Sie adressierten oft ein nicht-theateraffines, auch queeres Publikum.

Gegründet wurde die fiktionale schweizerisch-amerikanische Familie, die sich ganz dem musikalischen Entertainment verschrieben hat, Anfang der 1990er Jahre von Christoph Marti, Tobias Bonn, Max Gertsch (als Willy Pfister) und Lilian Naef (als Lilo Pfister). Seit 1995 sind Christoph Marti alias Ursli Pfister, geboren 1965 in Bern, Tobias Bonn alias Toni Pfister, geboren 1964 in Bonn mit Andreja Schneider alias Fräulein Schneider, geboren 1964 in Zagreb, die Kernformation der Geschwister Pfister.

Das Musikkabarett wird live begleitet vom Jo Roloff Quartett. Meist starten die Geschwister Pfister ihre Stücke in der Berliner «Bar jeder Vernunft», um anschliessend auf ausgedehnte Tourneen durch den ganzen deutschsprachigen Raum zu gehen. Ausgezeichnet wurden die Geschwister Pfister 1993 mit dem Salzburger Stier und 1995 mit einem Prix Walo.

Die Spezialpreise des Grand Prix Darstellende Künste werden an Personen oder Institutionen vergeben, die sich «in einem Bereich des vielfältigen Schaffens der Darstellenden Künste der Schweiz verdient gemacht haben». Die Preissumme beträgt jeweils 40’000 Franken.

Fabian Chiquet ist «Companion ZHdK»

Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) zeichnet zwei Alumni für ihre Verdienste aus. Der Musiker Fabian Chiquet wird als «Companion ZHdK» ausgezeichnet. Die Künstlerin Zilla Leutenegger erhält den Ehrentitel «Honorary Companion ZHdK».

Fabian Chiquet mit The bianca Story 2010 am Zürich Openair. Foto: Belmondo99 (s. unten)

Der 1985 geborene Fabian Chiquet ist ein Multitalent. Der Basler dreht Filme, macht Musik, Theater und Kunstinstallationen. 2010 schloss er mit einem Master in Transdisziplinarität an der ZHdK ab. Chiquet ist Mitbegründer die Popband «The bianca Story», bei der er Songwriter und Keyboarder ist und mit der er durch ganz Europa tourte.

Er inszenierte eigene Theaterstücke, die in der ganzen Schweiz zu sehen waren, und schrieb mit dem «Club Für Melodien» kollaborativ Musik für Theater und Film. Mit «Die Pazifistin» brachte er 2021 seinen ersten Dokumentarfilm ins Kino. In Kooperation mit dem Schweizer Radio und Fernsehen arbeitet er zurzeit am Projekt «I’ll Remember You», einem Dokumentarfilm mit Webserie und Podcast über die Anfänge der Schweizer Popkultur.

Die ZHdK-Ehrentitel werden einmal pro Jahr vergeben und sind mit keiner finanziellen Zuwendung verbunden. Angehörige der ZHdK können Aisgezeichnete vorschlagen. Die Hochschulleitung, beraten von einem Ausschusskomitee, entscheidet über die Vergabe. Die Ehrentitel werden am Hochschultag der ZHdK verliehen. Die Veranstaltung ist nicht öffentlich.

 

Sorgenkind Schulmusik?

Die musikalische Bildung ist seit zehn Jahren in der Verfassung verankert und an den Fachhochschulen hat die pädagogische Forschung Einzug gehalten. Wie sieht es in der Praxis aus?

Jürg Zurmühle (links) und Roman Brotbeck. Foto: Tabea Bregger

Anlässlich seines Rücktritts als Präsident des Verbands Fachdidaktik Musik Schweiz vfdm.ch wurden Jürg Zurmühle und – als Vertreter einer Aussenperspektive – Roman Brotbeck zur musikalischen Bildung in der Schweiz befragt.

Steigen wir ganz konkret ein: Was soll aus eurer Sicht ein zehnjähriges Kind in der Primarschule musikalisch erlebt haben bzw. was soll es in diesem Alter können?

Jürg Zurmühle: Pointiert gesagt, wünsche ich mir keine Standardisierung, sondern dass ein Kind selbst musiziert und unterschiedliche Begegnungen mit musikalischer Kultur, mit musikalischen Handlungen, mit Hören und mit live gespielter, realer Musik gehabt hat. Auch wünsche ich mir, dass in der Schule, im Kindergarten und in der Vorschule den Kindern Möglichkeiten zu Zugängen zu ihrer eigenen Musikalität geschaffen werden. Das heisst nicht, dass wir in erster Linie darauf schauen, was ein Kind mitbringen, können und kennengelernt haben muss, sondern uns fragen, was das Kind schon mitbringt, um damit musikalisch auf unterschiedliche Weisen weiter arbeiten zu können.

Roman Brotbeck: Ich habe wenig Erfahrung mit dieser Zielstufe, aber vielleicht sollte ein Kind das erfahren haben, was für mich für die gesamte musikalische Ausbildung zentral ist: Es sollte hören können, nicht nur Musik, sondern auch die Umwelt. Und es sollte seine «Stimme» – das kann auch ein Instrument sein – als Eigenes und als Gemeinsames erleben. Die Musik ist die einzige Kunst, die das Gemeinsame so künstlerisch und ohne Konkurrenzgefühle umsetzen kann.


Es gibt verschiedene Institutionen, unterschiedliche Berufsstände, die sich für diesen gemeinsamen Nenner der Musik, die musikalische Bildung engagieren.
Was braucht es, um im produktiven Miteinander der musikdidaktischen Felder (Spezialistinnen, Spezialisten, Generalistinnen, Generalisten schulisch/ausserschulisch) die musikalische Bildung zu stärken?

Jürg Zurmühle: Ich fokussiere jetzt mal auf das Kind: Da sehe ich den grössten Gewinn, wenn es uns gelingt, die Musikschaffenden und die Institutionen, von den Kulturinstitutionen (und zwar aus allen Bereichen von experimenteller über Pop- und Rockmusik) über die Theater bis zu den Musikschulen und Schulen, zusammenzubringen.

Ich glaube, wir könnten uns in Zukunft stärker darum bemühen, dass alle Akteure noch viel mehr zusammenarbeiten. Aus der Perspektive der Lehrerbildung könnte ich mir vorstellen, vermehrt mit Personen anderer Institutionen, z. B. den Musikhochschulen, zusammenzuarbeiten und gemeinsame Projekte und Kurse zu realisieren. Wir haben an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW ja schon damit begonnen, und ich finde das absolut notwendig.

Roman Brotbeck: Aus meinen Erfahrungen auch in Leitungsfunktionen im Hochschulbereich und anderswo heraus stelle ich fest: Es ist schade, wie viel positive Kreativität verloren geht, indem Institutionen sich gegenseitig voneinander abgrenzen, und wieviel unnötige Energie investiert wird, um ein eigenes Profil zu haben. Ich glaube, dass viel Kreativität verpufft, weil man nicht zusammenarbeiten will. Aber das ist auch innerhalb der Hochschulen so. Das hatte ich auch in Bern an der Hochschule der Künste HKB erlebt, als ich zum Beispiel die Idee einbrachte, unter Hauptfachlehrern vielleicht mal einen Studenten, eine Studentin für eine gewisse Zeit auszutauschen? Nein, das könnte die ganze Ausbildung kaputt machen, wurde mir entgegnet. Mit einem derartigen Isolieren und letztlich einem Misstrauen gegenüber den Kolleginnen und Kollegen innerhalb der Hochschule lernen die jungen Leute schon dort eigentlich das Falsche.

Jürg Zurmühle: Ich bin da aber auch optimistisch: Auf der Ebene der Institutionen ist es genauso, wie du das erläuterst. Auf der Ebene der Personen finde ich das etwas ganz anderes. Ich habe immer den Eindruck gehabt, wenn wir miteinander als Personen in Kontakt sind, dann ist eine Zusammenarbeit auf jeden Fall einfacher möglich.

Verfassungsartikel 67a


Welche Dringlichkeiten seht ihr im Hinblick auf die Musik in der Volksschule, auch bezogen auf den Bildungsartikel 67a? Warum braucht es den Artikel?

Jürg Zurmühle: Ich habe mich persönlich und auch als Präsident des Verbands dafür eingesetzt, dass der im Bildungsartikel erwähnte, sogenannte «hochwertige Musikunterricht» auf der Primarstufe auch wirklich umgesetzt werden kann. Leider wird auf allen Ebenen, von Schulleitungen über die Kantone bis zum Bund, die Zuständigkeit dafür hin und her geschoben, ohne dass wirklich etwas Konkretes geschieht.

Eine weitere Ebene ist die Lehrerbildung, wo ich aus der Perspektive der Musik wirklich unerfreulich finde, dass die Studierenden für die Primarstufe das Fach Musik abwählen können resp. müssen. Das ist etwas, was ich selber so ganz klar nicht vorschlagen würde. Musik muss von allen zukünftigen Lehrpersonen unterrichtet werden können. Eine andere Sache ist, dass an den Pädagogischen Hochschulen grundsätzlich die Fachlichkeit zu kurz kommt. Ich würde mehr Wert und Zeit auf die fachliche Ausbildung legen. Oder – das hatten wir früher – Studierende müssen eine Aufnahmeprüfung machen, um auch ihre fachlichen Fähigkeiten zu zeigen.

Wir haben aber auch sehr viel Kompetenz in den verschiedenen Institutionen. Wir sollten versuchen, diese Kompetenzen, diese Kreativität von vielen Menschen in der Ausbildung der Lehrpersonen zusammenzubringen. Das muss nicht immer nur alles strukturell fixiert sein, sondern ich kann mir gut vorstellen, zum Beispiel in Studien- und Intensivwochen, die ausserhalb des Curriculums sind, Musik zu machen, zu lehren und zu lernen. Mit dem Bologna-System, mit dem Sammeln von Creditpoints, wird das meiner Meinung nach erschwert. Es geht eigentlich darum, Freiräume zu ermöglichen, institutionelle Freiräume, um denjenigen Studierenden, die sich musikalisch «bilden wollen», offene Angebote zur Verfügung zu stellen. Auch was wir mit «Jugend und Musik» anstreben, finde ich wichtig: Dass Leute, die wirklich viel mitbringen, auch die Möglichkeit haben, sich entsprechend weiter zu qualifizieren, um dann eben auch ihren Weg musikalisch gehen zu können.

Roman Brotbeck: Der Bildungsartikel 67a ist sehr wichtig, weil er den Musikunterricht valorisiert und nicht als «nice to have» versteht. Vor allem folgender Satz ist zentral: «Die Kantone setzen sich für einen hochwertigen Musikunterricht ein.» Es ist ein Armutszeugnis für die Kantone, dass sie sich seit zehn Jahren um die Definition eines hochwertigen Unterrichts herumdrücken und sich mit heterogenen Lösungen zufriedengeben. So bleibt der Zugang zur Musikausbildung nach wie vor stark vom sozialen Hintergrund geprägt.

Der Bund droht im Bildungsartikel damit, dass er «die nötigen Vorschriften» selbst erlassen kann, wenn die Kantone keine Einigung in den Zielen erreichen. Das müsste er meiner Meinung nach nun zwingend tun.

Art. 67a Musikalische Bildung

1 Bund und Kantone fördern die musikalische Bildung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen.

2 Sie setzen sich im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für einen hochwertigen Musik­unterricht an Schulen ein. Erreichen die Kantone auf dem Koordinationsweg keine Harmonisierung der Ziele des Musikunterrichts an Schulen, so erlässt der Bund die notwendigen Vorschriften.

3 Der Bund legt unter Mitwirkung der Kantone Grundsätze fest für den Zugang der Jugend zum Musizieren und die Förderung musikalisch Begabter.

Quelle: fedlex.admin.ch

 

Zum zehnjährigen Bestehen des Bundesverfassungsartikels 67a ist festgestellt worden, dass eben mit «Jugend und Musik» der ausserschulische Bereich und auch die Talentförderung sehr zentral angegangen wurden. Gleichzeitig sei aber bezüglich der schulischen Entwicklung noch wenig vorhanden. Wo seht ihr Ansätze, um hier nach zehn Jahren noch ein Accelerando zu bewirken?

Roman Brotbeck: Es gibt einfach eine grosse Dissonanz, wenn ich höre, dass offenbar in der Volksschule Primarlehrerinnen und Primarlehrer Musik unterrichten, die nicht dafür ausgebildet sind. Das crasht mit dem Artikel: «Die Kantone setzen sich für einen hochwertigen Musikunterricht ein». Das geht gar nicht zusammen. Ich kann nicht von einer mathematisch inkompetenten Person verlangen, dass sie hochwertigen Mathematikunterricht gibt, oder von jemandem, Französischunterricht zu geben, ohne selber französisch zu sprechen. Gerade der Fremdsprachenunterricht ist ein sehr gutes Beispiel, weil er der Musik sehr nahe ist. Wenn ein Kind von Anfang an eine Sprache mit einer guten muttersprachlichen Aussprache hört, kann es diese sehr viel besser und leichter aufnehmen, als wenn es in deutscher Sprache in Französisch oder Englisch unterrichtet wird. In der Musik ist es genau gleich! Wir brauchen dort hochprofessionelle Leute. Zum Glück haben wir das beim Instrumentalunterricht bei den Musikhochschulen trotz massiver Widerstände geschafft. Als das moderne Hochschulsystem Anfang der Nullerjahre eingeführt wurde, wollte man die Pädagogische Ausbildung der Musikhochschulen auf drei Jahre kürzen und auf die Bachelorstufe beschränken, mit der Begründung, dass das Unterrichten von Kindern ja auch mit wenig Fachkompetenz möglich sei. Damals hatte die KMHS (Konferenz der Musikhochschulen Schweiz) argumentiert: «Das ist die schwierigste Stufe. Also müssen wir ausgezeichnete Musikerinnen und Musiker im Instrumentalunterricht einsetzen.» Dies ist nun zum Vorteil der Musikschulen gegenüber den Volksschulen geworden, dass nämlich dort nur musikalisch kompetente Lehrpersonen unterrichten. In einem demokratischen Land wie der Schweiz, das zum Ziel haben sollte, die gesamte Bevölkerung zu bilden, fände ich es aber wichtig, dass auch an der Volksschule fachlich kompetente Lehrpersonen Musik unterrichten. Für mich wäre der Moment gekommen, dass der Bund die nötigen Vorschriften erlässt, um diesen Missstand zu beheben.

Jürg Zurmühle: Ich sehe das ähnlich. Wir haben ja auch schon versucht, in parlamentarischen Kommissionen darauf hinzuweisen. Ich sehe es als eines der grossen Probleme, dass der Bund nicht sagt: «Da steht ein Verfassungsartikel. Wir wollen von den Kantonen wissen, wie ihr den umgesetzt habt.» Aber auch die Verbände müssen sich einschalten. Wir können durch den Verband Fachdidaktik Musik Schweiz und den Schweizer Musikrat Einfluss auf die Diskussion auf der politischen Ebene nehmen. Das ist sehr wichtig, um diesen Artikel jetzt auch in diesem zweiten Punkt umsetzen zu können. Es gibt aber auch mehr pragmatische Möglichkeiten: Im Kanton Basel-Stadt wird ein grosser Teil des Musikunterrichts von Fachpersonen unterrichtet und die machen das sehr gut. Nun besteht aus meiner Perspektive aber die Gefahr, dass – wenn nur noch Fachpersonen Musik unterrichten – Musik, so wie ich das verstehe, als Alltagsgestaltung einfach wegfällt, weil und das haben wir auch schon erfahren, die Primarlehrpersonen sagen: Dieser Bereich wird ja von der Musik- und Bewegungslehrperson abgedeckt. Das heisst, ich möchte eigentlich, dass man im Fach Musik sowohl Fachlehrpersonen als auch gut ausgebildete Lehrpersonen einsetzen kann und dass diese Kooperation, wenn sie gelingt, wunderbare Resultate bringen kann. Damit sind wir wieder beim gleichen Thema: dass es nicht Konkurrenz, sondern Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren gibt.

 

Es wäre natürlich schön, wenn die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK diese Vision teilen würde, damit in allen Kantonen Fachlehrpersonen auf der Volksschulstufe Musik unterrichten dürfen. Die Direktorinnen und Direktoren Pädagogischer Hochschulen PH sehen das wohl ein wenig anders. Hast du als Präsident Fachdidaktik Musik Schweiz auch konträre Positionen zu den Direktionen der PH und wenn ja, wie gehst du damit um?

Jürg Zurmühle: Das ist eine gute Frage. Diese konträren Haltungen gibt es selbstverständlich. Ich habe vorher erwähnt, dass wir in der Musik und grundsätzlich in der Ausbildung viel zu wenig Fachlichkeit haben. Es ist nicht nur die Direktion, die hier dagegenhält, sondern die ganze Community an der PH, weil natürlich alle Bereiche für ihre Anliegen an ein Studium zu wenig Zeit zur Verfügung haben. Darum wäre auf der bildungspolitischen Ebene der Masterstudiengang eine Lösung, welcher Vertiefungen ermöglichen könnte. Oder wir nehmen uns mehr Ausbildungszeit, um die Kompetenzen der Studierenden in den vielen Bereichen vertiefen zu können. Ein anderes Beispiel: Bei uns an der PH FHNW wird der Instrumentalunterricht der Fachwissenschaft zugeordnet. Wir haben uns da schon von Anfang an dagegen gewehrt, weil dieser Begriff nicht dem entspricht, was wir tun. Auch unsere musikalischen Seminare sind zwar wissenschaftlich fundiert, aber nicht Wissenschaft. Das ist etwas ganz anderes. Das Bekämpfen des Begriffes Fachwissenschaft in der Musik habe ich 14 Jahre lang gemacht. Ich bin immer gescheitert, dieser Begriff lässt sich nicht eliminieren.


Wenn du für die musikalische Ausbildung an deiner Institution mehr Zeit erhieltest, wie würdest du diese konkret in der fachpraktischen Ausbildung nutzen?

Jürg Zurmühle: Ich möchte gerne unterscheiden zwischen der fachpraktischen und der fachdidaktischen Ausbildung, die ich für ebenso wichtig halte. In der fachpraktischen Ausbildung haben wir Studierende, die mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen an unsere Hochschule kommen. Von Leuten, die Panik haben, Musik zu machen, bis zu professionellen Musikerinnen und Musikern, die in den Lehrberuf auf der Volksschule einsteigen wollen. Im hoch individualisierten Instrumentalunterricht können wir diesen heterogenen Niveaus gerecht werden. Hier versuchen wir unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten: Einerseits brauche ich das Instrument, um mein eigenes musikalisches Verständnis des Hörens, des Handelns, des Interpretierens und auch des Improvisierens – das ist uns ganz, ganz wichtig – zu vertiefen, aber auch um das individuelle Verständnis und Können weiterzuentwickeln. Zum andern ist das gemeinsame Musikmachen ein grundlegendes zu vermittelndes Erlebnis. Ich nehme da ein Beispiel: Die Studierenden müssen sowohl einen Kanon singen als auch mit Alltagsgegenständen improvisieren können. Das sind unterschiedliche Zugänge zur Musik und beide sind mir persönlich und unterdessen uns allen im Team ein hohes Anliegen. Aber das müssen die Studierenden erfahren können. Von der ersten Stunde an wird Musik gemacht und alles, was man lesen oder sonst noch machen kann, das machen sie ausserhalb. Zusammen Musik zu machen ist grundlegend, wichtig und zentral in der Fachwissenschaft. Und diese Erfahrungen in Musik brauchen Zeit, von der ich gerne mehr hätte.


Das heisst, den Rest, das Diskutieren und Reflektieren, die Fachdidaktik, machen sie ausserhalb des Unterrichts?

Jürg Zurmühle: Nein, das war jetzt die Fachwissenschaft. Die Fachdidaktik wiederum verstehe ich als die bewusste Gestaltung der Ermöglichung von Lernprozessen bei Kindern, und zwar ausgehend von dem, was die Kinder können, aber auch ausgehend von dem, was ich als Lehrperson kann. Der eine Ansatz ist, dass wir mit den Studierenden unterschiedliche Konzepte praktisch kennenlernen, das heisst beispielsweise den aufbauenden Musikunterricht, der mit Patterns arbeitet oder mit dem Prinzip der Solmisation. Oder ein anderes Konzept, wie es beispielsweise Beck-Neckermann für Kindergarten/Unterstufe vorschlägt, das mehr vom Kind her gedacht ist: Was braucht ein Kind, was kann das Kind schon, welche Rolle hat das improvisatorische Element, das Entdecken und Ausprobieren? Und dazu die Reflexion und den Dialog: «Sag mal, was ist jetzt da geschehen, was hast du gehört oder gemacht?» Trotz Offenheit braucht es Ordnungsstrukturen zur Orientierung.

Mir ist ein hohes Anliegen, beide Beispiele als gute Ansätze des Musikunterrichts zu verstehen. Ich will sie nicht gegeneinander ausspielen, sondern eben als Sowohl-als-auch präsentieren. Ich muss jedoch die Vorgehensweisen unterscheiden und auswählen können, ob ich einen Kanon anleite oder ob ich die Kinder mit Alltagsgegenständen improvisieren lasse. In der Fachdidaktik muss es uns gelingen, die Studierenden an den Punkt zu bringen, an dem sie merken, dass es unterschiedliche Arten gibt, Musik zu unterrichten und dass sie zwischen unterschiedlichen Konzepten und Vorgehensweisen differenzieren können. Der Dialog über die Erfahrungen und die Konzepte ist für die Studierenden natürlich enorm wichtig und den machen wir, wann immer möglich, live.

Musikpädagogische Forschung

 

Welche Bedeutung und Dringlichkeit messt ihr, auch in diesem Kontext, der musikpädagogischen Forschung im Wirkungsfeld der Pädagogischen Hochschulen und der Musikhochschulen zu?

Jürg Zurmühle: Für mich hat die Forschung im musikpädagogischen Bereich enorme Bedeutung, um Glaubenssätze der Musiklehrpersonen auch mal überprüfen zu können. Zum andern weiss man immer noch relativ wenig, wie die vielschichtigen und vielfältigen musikalischen Lernprozesse bei den Kindern förderlich gestaltet werden können und wie Kinder Musik in allen ihren Ausprägungen lernen. Der forschende Blick sensibilisiert, fokussiert und verallgemeinert: Es geht nicht nur um individuelle Erfahrungen, sondern um das Finden von Prinzipien. In meiner eigenen bescheidenen Forschungstätigkeit ging ich solchen Fragen nach: Was passiert wirklich und genau in dem Moment, wo Kinder miteinander Musik machen? Wie beschreiben Kinder ihre Erfahrungen bei einem Konzert, bei dem sie mitwirken? Der Trubel des Unterrichts erlaubt es oft nicht, hier genau hinzuschauen. Deshalb bringen solche Forschungen, die genau und wiederholt hinschauen und zu verstehen versuchen, Erstaunliches zum Vorschein, was vorher nicht bekannt und bewusst ist.

Für die Hochschule ist das Rezipieren von Forschungsergebnissen wichtig, beispielsweise durch das Lesen und gemeinsame Besprechen von Primärtexten im Team und mit den Studierenden. Zum anderen ist es auch die Aufgabe der Hochschule, eigenen Forschungsfragen nachzugehen, um Erkenntnisse zum Musikunterricht in der Schule zu erhalten und zu publizieren.


Roman, was ist deines Erachtens die Aufgabe der Forschung in der Musik?

Roman Brotbeck: In keinem Bereich haben sich die Musik- und Kunsthochschulen so verändert wie in der Forschung. Trotz anfänglicher Widerstände vieler Lehrkräfte hat da eine enorme Entwicklung stattgefunden. Auch in der musikpädagogischen Forschung hat sich vieles getan, aber ihre Themen sind mir manchmal in zu marginalen Feldern angesiedelt. Aus der Distanz scheint mir, dass die Verbindung von Lehre und Forschung verstärkt werden müsste. Zuweilen besteht die Gefahr, dass die Forschung ein Satellit ist, welcher nicht mehr in die Lehre der Hochschulen hineinwirkt. In der Musikpädagogik wäre Forschung wünschenswert, welche aus der Praxis heraus entwickelt wird. Eine spezifisch fachdidaktische Forschung wäre dafür ein ideales Feld. Ich hätte dafür auch eine Idee: ein interinstitutionelles Forschungsprojekt zur Entwicklung eines interaktiven schweizerischen Musik-Lehrmittels für die Volksschule unter Einbezug aller Sprachen und Kulturen. Das Lehrmittel könnte Best Practice-Elemente enthalten, die sich dann auch auf andere Bereiche auswirken könnten.


Gerne nehmen wir den Aspekt Lehrmittel später nochmals auf. Die Forderung nach forschenden Dozierenden kommt stark aus den Institutionen. Was sind in diesem Zusammenhang sinnvolle Qualifizierungen?

Jürg Zurmühle: Ich wünsche mir Personen mit viel Praxis, die also viel praktische Erfahrungen in Musik gemacht und Musik unterrichtet haben. Das sind beispielsweise Personen, die eben von Kind an schon Musikerinnen und Musiker sind und dann eine Ausbildung als Lehrperson gemacht haben, unterrichtet haben, und viele Kontakte in verschiedenen Settings mitbringen, die aber auch eine fachliche und fachdidaktische Ausbildung haben. In der Forschung müsste neben musikpädagogischer auch Forschungsqualifikation vorhanden sein. Die bisherigen, geschätzten Kolleginnen und Kollegen mit Promotion in der Musikpädagogik sind keine Musiklehrpersonen, sondern entweder Psychologinnen oder Soziologen. Sie haben sehr wichtige und grundlegende Arbeit geleistet, das steht ausser Frage, aber es sind eben keine Musiklehrpersonen. Dies beginnt sich nun langsam in dem Sinne zu verändern, dass Forscherinnen und Forscher neben der Perspektive der Forschungsmethodik, der Forschungsdistanz gleichzeitig auch die Perspektive der Praktikerinnen und Praktiker aus dem Feld einbringen können.

Eigene Erfahrungen und persönliche Wirkung


Kommen wir von der Forschung nochmals zu euch persönlich zurück: Wenn ihr zurückschaut, was konntet ihr in euren Rollen und Funktionen bewirken?

Roman Brotbeck: Ich hatte das Glück, dass ich seit Beginn der Ausbildung gewusst habe – ich habe Musikwissenschaft studiert –, dass ich nicht einfach im stillen Kämmerchen irgendwelche Lexikonartikel und Bücher schreiben möchte, die dann im kleinen Kreis der Musikwissenschaft rezipiert werden und vielleicht vier gute oder auch schlechte Kritiken bekommen, sondern ich wollte immer einen breiteren Einfluss haben. Deshalb bin ich über die Medien, das Radio und das Präsidium des Tonkünstlervereins schliesslich in die ganzen Planungen zur Neugründung der Musik- und Kunsthochschulen eingestiegen. Das war eine enorme Chance für mich. In Bern konnte man in ein paar Jahren Dinge verändern, wofür man in normalen Zeiten wahrscheinlich zwei Jahrzehnte bräuchte. Als diese Entwicklungen konsolidiert waren, habe ich mich dann zurückgezogen. Meine Fähigkeit liegt mehr darin, Dinge in Bewegung zu setzen, als sie zu verwalten. Und ja, es war möglich, die Forschung zu initiieren, es war möglich, die musikpädagogische Ausbildung auf Hochschulstufe völlig zu erneuern. Dies war eine ideale Zeit in der Schweizer Musikhochschullandschaft, weil die Direktoren – ob in der Westschweiz, im Tessin oder in der Deutschschweiz – an einem Strick zogen. Wir standen nicht in Konkurrenz zueinander, im Gegenteil: Man telefonierte sich ständig und sprach sich ab, weil das Damoklesschwert über uns schwebte, den Musikhochschulen analog zu den technischen Fachhochschulen nur wenige Masterausbildungen zuzugestehen. Da hätten die Schweizer Musikhochschulen international nicht mehr mithalten können. Dieses gemeinsame Ringen hat sehr viele Veränderungen hervorgerufen. Ich wünsche mir für die Fachdidaktik Musik der Schweiz, sie würde eine ähnliche Solidarität entwickeln. Was mit den Musikhochschulen damals gelang, ist für mich bezüglich Bündelung von Kräften exemplarisch. Ein Resultat davon sind ausgezeichnete Lehrkräfte, welche heute in den Musikschulen wirken – auch dank der Musikhochschulen.


Jürg, wie sieht das bei dir aus? Was konntest du persönlich in deinen Rollen und Funktionen bewirken?

Jürg Zurmühle: Meine Biografie ist ja eine ganz andere. Ich bin ursprünglich Flötist. Ich bin am damaligen Konservatorium in Basel als Orchesterflötist ausgebildet worden und wurde schliesslich auf der Strasse angesprochen, ob ich am Lehrerseminar in Liestal unterrichten könnte. Ich hatte damals noch keine Ahnung von Lehrerbildung. Schliesslich habe ich eine fast 40-jährige Karriere in der Lehrerbildung gemacht, mit Hochs und Tiefs. Wenn ich jetzt auf meine Wirkungszeit der letzten 14 Jahre als Leiter der Professur zurückschaue, ist es erfreulich, was uns gelungen ist. Ich sage ganz bewusst «uns», weil es eine Teamarbeit war, alleine hätte ich das nicht erreichen können. Was wir erreicht haben, ist einerseits, mit den vorgegebenen Rahmenbedingungen – die nicht optimal sind – eine möglichst gute Ausbildung auf die Beine zu stellen. Das andere ist, dass wir die extrem unterschiedlichen Ansichten, was Musikunterricht sein soll und sein kann, die wir am Anfang in der Professur angetroffen haben – wir waren ja aus vielen Institutionen fusioniert, mit vielen Menschen, die ganz unterschiedliche Ansichten von Musikunterricht hatten –, in unserer Professur integrieren und abbilden konnten. Wir haben und leben ein Sowohl-als-auch: Wir versuchen sowohl eine klare normative Setzung zu haben: Was man am Schluss können muss, also quasi eine Kompetenzorientierung. Auf der anderen Seite stellen wir uns die Fragen: Was sind Punkte, wo sehr viel Kreativität und Spiel miteinander möglich sind? Was sind Dinge, welche man können und als individuelle, fachliche Qualität entwickeln «darf»? Eine Lehrperson kann einen Kanon anleiten, eine andere hat entdeckt, dass sie mit den Kindern zusammen im Wald Hörspaziergänge machen kann. Und eine Dritte ist vielleicht Popsängerin und nutzt ihr eigenes Können, um mit den Kindern Lieder zu gestalten, unter Einbezug eines Instrumentariums von Klangspielen über Boomwhackers bis hin zur Elektronik. Dass wir eine Breite von Musikunterricht anbieten können, der aber nicht beliebig ist, darauf bin ich stolz.


Verfolgt ihr die Entwicklung eurer Alumni, werden die beispielsweise zu Praxislehrpersonen?

Jürg Zurmühle: Verfolgen ist etwas zu viel gesagt, aber wir sind mit einzelnen Personen in Kontakt. Beispielsweise haben wir für unsere Homepage www.musikinderschule.ch Lehrpersonen gefragt, ob sie Elemente davon ausprobieren und uns dazu Rückmeldung geben könnten. Auch durch unsere Forschungsprojekte pflegen wir Beziehungen mit ehemaligen Studierenden im Feld. Andere haben einen CAS an der PH FHNW absolviert. Diese können wir als Expertinnen und Experten einbeziehen. Die Kontaktpflege ist weniger institutionalisiert, sondern ist eher persönlich. Diese Kontakte sind für uns enorm wertvoll.


Um nochmals auf eure persönliche musikalische Biografie zurückzukommen: Wo hat diese euer Handeln beeinflusst? Also inwiefern haben eure Erfahrungen euer Wirken beeinflusst?

Jürg Zurmühle: Ich habe ja auch Shakuhachi, eine japanische Bambus-Flöte, gelernt und mich in afrikanischem Trommeln weitergebildet, ganz unterschiedliche Situationen. Als ich meine Stelle in der Professur übernommen hatte, machte ich mir Gedanken darüber, wie Musikunterricht überhaupt funktioniert. Meine persönlichen Erfahrungen waren sehr unterschiedlich: Ich hatte einerseits sehr streng in vorgegebenen Settings, aber auch in offenen Strukturen improvisieren gelernt. So hatte ich mich auf die Suche nach musikpädagogischen Konzepten gemacht und gefragt: «Kann mir jemand sagen, wie es geht? Was ist jetzt das Richtige?» Gottseidank sagt einem dies niemand. Es gibt viele unterschiedliche Wege des Musiklehrens, und für mich folgte eine wertvolle intensive Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Konzepten von Musikunterricht. Schon während dem Flötenunterricht hatte mich das fasziniert. So bin ich zum Schluss gekommen: Es gibt nicht ein Konzept, wie Musikunterricht gehen soll und muss, sondern es gibt viele. Das war biografisch für mich ein erster entscheidender Moment. Heute bin ich an einem Punkt, wo ich diese Konzepte in einem grösseren Rahmen darstellen und verstehen kann.

Hochwertiger Musikunterricht

 

Roman Brotbeck hat uns aufgefordert, vom Verband aus zusammen mit pädagogischen Hochschulen und Musikhochschulen ein schweizerisches Lehrmittel zu gestalten. Ist das aus deiner Sicht sinnvoll, Jürg?

Jürg Zurmühle: Ich verstehe das Anliegen, aber ich bin gegenüber Lehrmitteln skeptisch. Lehrmittel beruhen in den meisten Fällen auf irgendeiner, zum Teil nicht einmal explizit formulierten Voraussetzung, was unter Musikunterricht zu verstehen ist. Das heisst, es gibt eigentlich im Lehrmittel eine festgelegte Ausrichtung nach einem Konzept, einer Vorstellung von Musik oder einer Methode. Deshalb würde ich mich bei einem offiziellen schweizerischen Lehrmittel eingeengt fühlen. Etwas anderes ist, sich zu fragen, was heisst Lehrmittel heute? Diese könnten offener angelegt und immer in Entwicklung gedacht werden. Zum Beispiel als eine Plattform, bei der ganz unterschiedliche Formen des Unterrichtens angeboten, aber auch diskutiert würden, ein dynamisches Lehrmittel sozusagen. Aber ein Lehrmittel im Sinne einer normativen Setzung, da habe ich meine Bedenken. Das ist manchmal ein Wunsch von Studierenden, aber ich persönlich finde das nicht dem Stand der Erkenntnisse und der Heterogenität von Kindern, Musiken, Methoden, Zielen und Wegen adäquat.


So kommen wir wieder in den bildungspolitischen Bereich: Eine Definition des hochwertigen Unterrichts steht nach wie vor aus, um dem Bund auch die Mittel geben zu können, überhaupt zu überprüfen, was dieser denn sein soll. Fändest du analog zum Lehrmittel auch hier eine Setzung unpassend? Braucht es nicht auch hier eine Orientierung?

Jürg Zurmühle: Doch, aber das ist etwas anderes als Definitionen. Es geht um einen gemeinsamen Kurs. Der Verband beziehungsweise der Vorstand hat sich beispielsweise mit dem Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» intensiv auseinandergesetzt und auch kritisch dazu Stellung genommen. Das ist enorm wichtig. Es ist aber schwierig, die Vorstellungen «eines hochwertigen Musikunterrichts» auf den Punkt zu bringen. Im Moment mute ich mir eine solche Definition nicht zu. Ich glaube, die Diskussionen und Suchbewegungen müssten auf einer anderen Ebene stattfinden: Hochwertiger Musikunterricht ist ein dynamischer Prozess. Diese «Definition» ist nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern ist etwas, das immer wieder neu diskutiert und reflektiert werden kann.


Wäre diese Dynamik also Teil der Definition?

Jürg Zurmühle: Ja, genau.

Roman Brotbeck: Was Du vorschlägst, entspräche eher einem Best-Practice-Beispiel. Ich könnte mir auch etwas in Analogie zum Französisch-Lehrmittel Mille Feuilles vorstellen. Dieses basiert auf intensiven Forschungen und hat bekanntlich viele Diskussionen ausgelöst. So etwas wünschte ich mir für die musikalische Fachdidaktik: dass musikalische Bildung in der Volksschule ein gesellschaftliches Diskussionsthema wird, um das gestritten wird. Denn mindestens dieser kontroverse Diskurs ist dem Mille Feuilles sehr gut gelungen. Es war ein kreativer Prozess auch für künftige Sprachlehrmittel.

Jürg Zurmühle: Ich persönlich bin skeptisch gegenüber einem dominierenden Lehrmittel, aber dies ist meine persönliche Meinung. Dass die Diskussion angeregt wird durch solche Dinge, fände ich aber natürlich sehr begrüssenswert.


Das heisst also auch, Jürg, dass keines der bisher erschienenen Lehrmittel für dich befriedigend ist?

Jürg Zurmühle: Richtig, keines allein ist für mich umfassend befriedigend, aber man muss sie selbstverständlich kennen, vergleichen und diskutieren. Genau dies tun wir auch mit unseren Studierenden: Sie lernen unterschiedliche Lehrmittel kennen, arbeiten damit, vergleichen sie systematisch und stellen sie in Bezug zu übergeordneten wissenschaftsbasierten Prinzipien und Konzepten. Kennenlernen, damit praktisch arbeiten, darüber kritisch diskutieren sind für mich gute Wege des Umgangs mit Lehrmitteln.

Zukunft der musikalischen Bildung


Wagen wir noch den Blick in die Zukunft: Was wünscht ihr euch für das Musikleben und die musikalische Bildung?

Roman Brotbeck: In der Musik dominiert nach meiner Meinung nach wie vor das Scheitern. Es gibt im Musikleben viel zu viele Abbrüche: Da hat sich jemand zehn Jahre lang mit einem Instrument auseinandergesetzt, und später wird es nicht mehr angerührt. Eine Fremdsprache benützen wir zum Beispiel auch dann, wenn wir keinen Sprachunterricht mehr haben. Das müsste ebenfalls bei Musik viel stärker der Fall sein; deshalb wünsche ich mir offene Türen auf allen Ebenen und ein lebenslanges Musizieren. Man müsste neue Konzepte für eine lebenslange musikalische Praxis entwickeln. Das wäre der grösste Wunsch.

Jürg Zurmühle: Ich kann mich diesem Wunsch zu hundert Prozent anschliessen, insbesondere der Formulierung, dass es nicht nur ums Lernen von Musik, sondern um das Ausüben oder einfach das Musikmachen gehen soll.

Auf der Ebene der Lehrerbildung wünsche ich mir einerseits mehr konkrete Unterstützung durch die Politik, so dass man bei der musikalischen Bildung wirklich hinschaut und konsequent ist bei der Umsetzung von Verfassungsartikeln. Aber noch viel wichtiger ist, dass sich in jeder einzelnen Schule Leitungs- und Praxislehrpersonen dafür interessieren, was im Fach Musik in ihren Klassen geschieht. In meinen vielen Praktikumsbesuchen habe ich noch kein einziges Mal eine Schulleiterin oder eine Praxislehrperson (Generalistin, Generalist) gehört, die gefragt hat: «Sag mal, wie ist es eigentlich mit der Musik in diesem Praktikum gewesen?» Es braucht auf allen Ebenen Verständnis, dass auch im Fach Musik nachgefragt werden muss, in den Schulen und in den Kantonen. Wir haben einen Verfassungsartikel, aber noch werden keine Konsequenzen für die grundlegende Schulbildung daraus gezogen. Für mich ist es etwas vom Schönsten, wenn ich irgendwo in eine Schule komme und es tönt – ganz einfach –, es tönt und ich merke, dass die Musik auf ganz viele Weisen lebendig ist in dieser Schule. Und schliesslich: Für die Schulkinder wünsche ich mir, dass sie Lehrpersonen vor sich haben, die Musik mit Begeisterung und Können unterrichten.

_____________________________________

Tabea Bregger und Beat Hofstetter
… sind Vorstandsmitglieder des Verbands Fachdidaktik Musik Schweiz vfdm.ch (Association Suisse de Didactique de la musique). Der im Jahr 2015 gegründete Verband bezweckt die Profilierung und Stärkung der Fachdidaktik Musik in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen aller Bildungsstufen. An regelmässig durchgeführten Tagungen und Kolloquien sowie durch Publikationen wird die Vernetzung zwischen den Mitgliedern zu aktuellen Themen der Forschung, der Bildungspolitik und der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen gefördert. Der Verband nimmt Stellung bei Vernehmlassungen zu musikdidaktischen Fragen und engagiert sich bildungspolitisch.

Jürg Zurmühle
… ist Flötist und Spezialist für die japanische Bambusflöte Shakuhachi. Er ist seit 40 Jahren in der Lehrerbildung tätig und leitete von September 2008 bis Ende August 2022 die Professur Musikpädagogik im Kindesalter an der PH FHNW.

Roman Brotbeck
… ist heute freiberuflicher Berater, Musikwissenschaftler und Kulturvermittler. Bis 2014 hatte er diverse Leitungsfunktionen an der Hochschule der Künste Bern inne, unter anderem bis 2010 als Leiter des Fachbereichs Musik.

 

get_footer();