Der Traum von einem «Salzburg» Osteuropas

Alexey Botvinov organisiert zum fünften Mal Odessa Classics, das grösste Musikfestival der Ukraine. Es findet vom 1. bis 9. Juni statt.

Zuschauerraum des Opernhauses in Odessa. Foto: Odessa Classics,Foto: Odessa Classics,Foto: Odessa Classics,Foto: Odessa Classics

Was verbindet die Aare-Stadt Bern mit der Schwarzmeer-Metropole Odessa? Nichts, es sei denn, man vergegenwärtige sich das anlässlich der Ukrainischen Kulturtage im Yehudi-Menuhin-Forum stattgefundene Konzert «Odessa Classics in Bern». Neben dem Geiger Michael Guttmann und dem Cellisten Samuel Justitz sitzt der ukrainische Pianist Alexey Botvinov am Flügel und spielt an diesem Abend so, dass augenblicklich klar wird: Hier hat einer eine Mission – Odessa Classics. Der oft in der Schweiz gastierende Pianist, der eine unverzichtbare Stütze vieler Ballette des Choreografen Heinz Spoerli (Goldbergvariationen) war und ist, engagiert sich unermüdlich für das Festival in seiner Heimatstadt.

Image
Festivalintendant Alexey Botvinov

Der heute 54-jährige Musiker hat dieses zu einer Zeit gegründet, als der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine aufflammte, der bis heute anhält. «Plötzlich war der Krieg da. Niemand hätte sich das vorstellen können», erzählt Botvinov und spricht von seinem Zorn und inneren Protest, aber auch von seinem Schmerz und seiner Trauer über die vielen Menschen, die gestorben sind. «Damals habe ich mir überlegt: Was kann ich bloss tun, um dem Krieg und der schlimmen, alle verunsichernden Situation etwas entgegenzuhalten.» Musik! «Freunde sagten mir zwar: Was du dir mit deinem Festival ausmalst, ist völlig unrealistisch.» Doch Botvinov stampfte das primär von Privaten, inzwischen aber auch von der Stadt Odessa und der Region mitfinanzierte Festival Odessa Classics aus dem Boden. 2015 ging es erstmals erfolgreich über die Bühne. Mittlerweile sind aus den anfänglich vier Festivaltagen neun geworden. «Ich will aber noch weiter expandieren – auf zwei oder vielleicht sogar drei Wochen», betont Botvinov und träumt von «einem Salzburg für Osteuropa». Das erscheint keineswegs unrealistisch, wenn man sich die wachsende Zahl der Besucher in Erinnerung ruft, die etwa von Kiew, Charkiw, Lwiw (Lemberg) und immer öfter auch aus dem Ausland anreisen.

Viel Neuland für die Ukraine

Wer aus Westeuropa nach Odessa reist, wird sich vielleicht wundern, weil er in der mediterran-verspielten Hafenstadt dieselben Künstler und Ensembles wie in seiner Heimat antrifft. In der jüngeren Vergangenheit waren dies Vadim Repin, Maxim Vengorov, Dimitri Ashkenazy, Antonio Meneses und Matthias Goerne; in diesem Jahr wird man den Pianisten Cyprien Katsaris und Pietro De Maria, dem Geiger Daniel Hope, dem Zürcher Kammerorchester sowie dem Mischa-Maisky-Trio begegnen. Ein Blick ins Programm zeigt: Es werden zu einem grossen Teil Werke von Mozart, Beethoven, Rachmaninow, Chopin, Tschaikowsky, Grieg, Vivaldi und Gershwin gespielt; unter dem Titel Tango Sensations jedoch auch Kompositionen von Piazzolla, Lipesker und Bernstein. Roby Lakatos und sein Ensemble verstärken den Eindruck eines Festivals, das vieles für viele bietet. Nur gängiges Repertoire also? «Nein», sagt Alexey Botvinov, «wir widmen auch einen ganzen Abend dem zeitgenössischen, georgischen Komponisten Gija Kantscheli. Er lebt heute in Antwerpen; möchte aber unbedingt nach Odessa kommen.»

Image
Daniel Hope (rechts) ist Artist in Residence

Wer den Sinn von Odessa Classics verstehen wolle, betont der Pianist immer wieder, dürfe eines nie vergessen: «Die Ukraine wurde 1991 unabhängig. Doch seither kamen keine grossen Künstler aus dem Ausland in unser Land. Künstler und Komponisten, die Westeuropäern längst bekannt sind, sind den Ukrainern vielfach kein Begriff, was zum Beispiel auch auf einen Komponisten wie Erwin Schulhoff zutrifft. Deshalb muss ich auf jeden Fall versuchen, die Balance zwischen Bekanntem und Unbekannterem zu halten. Stars sind für unser Publikum ganz wichtig. Es hat sie in der jüngeren Vergangenheit verpasst; jetzt soll es sie kennenlernen dürfen.» Zu ihnen zählt auch Daniel Hope, der während drei Jahren Artist in Residence bei Odessa Classics sein wird.

Für Einheimische und Gäste

Im Rahmen einer unter dem Motto «Pilgrims» laufenden Extra-Serie mit hochbegabten, jungen ukrainischen Musikern werden Spezialitäten wie etwa das Konzert «Spiegel im Spiegel» mit Werken von Arvo Pärt und Max Richter gepflegt. Überdies wird ein Jugend-Musikwettbewerb ausgerichtet. Der Gewinner oder die Gewinnerin erhält neben einem Geldbetrag auch die Möglichkeit, bei dem für alle kostenlosen Open Air am Fusse der Potemkinschen Treppe aufzutreten, die der Regisseur Sergej Eisenstein in seinem Film Panzerkreuzer Potemkin weltberühmt gemacht hat. Kurz: Alexey Botvinov wagt mit Odessa Classics einen Spagat. Einerseits will er «das einheimische Publikum, das Musik liebt und versteht», ansprechen, andererseits ein westeuropäisches.

Image
Konzert bei der Potemkinschen Treppe

Dieses erlebt neben den Hauptkonzerten im prächtig renovierten Opernhaus und in der Philharmonie vor allem aber Odessa, die 1794 von Katharina der Grossen gegründete Hafenstadt mit östlichem Charme und südlichem Flair. Die Geschichte der heutigen Millionenmetropole ist traditionell von vielen Völkern, Religionen und Kunst geprägt. Von Alexander Puschkin stammt der Ausspruch: «In Odessa atmet man Europa.» Ob der Dichter ohne die inspirierende Wirkung dieser Stadt je seinen Versroman Eugen Onegin geschrieben hätte? Odessa ist aber auch die Heimat legendärer Geiger wie David Oistrach, Nathan Milstein und Zakhar Bron sowie nicht minder legendärer Pianisten wie Emil Gilels, Swjatoslaw Richter und Shura Cherkassky.

Ja, Odessa sei unwiderstehlich, sagt Alexey Botvinov. Selbst er lasse sich immer wieder von der besonderen Atmosphäre seiner Heimatstadt überraschen. Während der Festivalzeit vor allem beim Open-Air-Konzert: «Blicke ich dann zu den 10 000 Zuschauern auf den Stufen der Potemkinschen Treppe hoch, ist das jedes Mal ein unvergleichliches Erlebnis.»
 

Das könnte Sie auch interessieren