Musikalische Parallelwelten an der Gare du Nord
Wie kann die fünfte Dimension musikalisch erfahrbar gemacht werden, wenn es sie denn gibt? Hèctor Parra, katalanischer Komponist und Siemenspreisträger 2011, hat dies mit «Hypermusic Prologue» versucht.
Der Frage nach einer fünften Dimension ausserhalb von Raum und Zeit ist die amerikanische Harvard-Physikerin Lisa Randall in ihrem Buch Warped Passages (Verborgene Universen, S. Fischer , Frankfurt 2006) nachgegangen. Hèctor Parra, selber Sohn eines Physikers, liess sich von diesem Bestseller zu einem Bühnenwerk inspirieren und bat die Autorin auch gleich noch, das Libretto dazu zu schreiben. Daraus entstanden ist die einstündige Kammeroper Hypermusic Prologue (2009) für zwei Sänger, acht Instrumentalisten und Elektronik über verborgene Universen, existenziellen Forschungsdrang und die Grenzen des Verstehens.
Hypermusic Prologue wurde vom Ensemble Intercontemporain und dem IRCAM-Centre Pompidou in Auftrag gegeben und im Juni 2009 mit einer Videoprojektion und räumlich gestaltet im Centre Georges Pompidou in Paris uraufgeführt. Die szenische Welturaufführung im englischen Original sicherte sich die Gare du Nord in einer Koproduktion mit den «Sophiensälen» Berlin. Ab 4. Oktober gab es drei Vorstellungen in Berlin. Basel folgte am 16., 17. und 18. Oktober. Unter der Leitung von Manuel Nawri spielte das Zafraan Ensemble, Berlin. Benjamin Schad führte Regie; der Schreibende besuchte die Vorstellung vom 17. Oktober.
Abheben und Stehenbleiben
Die Sopranistin Johanna Greulich gibt ein eindrückliches Porträt einer Wissenschaftlerin, die sich im Spannungsfeld zwischen der Liebe zu ihrem Partner und ihrer Leidenschaft für Theoretische Physik bewegt. Im Verlauf der Oper begibt sich die Protagonistin in die fünfte Dimension, während ihr Partner (Robert Koller, Bariton) an die normale Raumzeit gebunden bleibt. Die Bühne wird durch ein weitmaschiges Netz sinnbildlich in Mikrokosmos und Hyperspace unterteilt. Unten zieht die Schwerkraft den Mann zusehends stärker zu Boden – Koller tut dies stimmlich und darstellerisch überzeugend –, während darüber der Sopran abhebt und neue, bewusstseinserweiternde, sinnliche Erfahrungen macht. Das Netz erlaubt gewisse Signale zwischen den beiden Welten, die allerdings vom Erdenmenschen nicht immer schlüssig gedeutet werden können. Die Frau kommt mit einem neuen Bewusstsein in die alte Welt zurück: «The sources lie deeper». Doch auch der Mann beginnt zu verstehen: «We have only begun to comprehend».
Der Dialog besteht aus hingeworfenen Fetzen, unvollständigen Sätzen, Formeln und wissenschaftlichen Begriffen. Gefällige Gesangslinien sind eingebettet in eine hochkomplexe Instrumentalkomposition, dicht, flirrend, sich intensiv steigernd, kaum eine Entspannungsphase zulassend – ausser bei der Rezitation physikalischer Formeln und Gleichungen, von Johanna Greulich lautmalerisch, glucksend und japsend sehr reizvoll wiedergegeben.
Die Wissenschaftsmetapher steht einer an sich alltäglichen Beziehungsgeschichte Pate. Die spekulative physikalische Theorie gibt ein erhellendes Erklärungsmuster für die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungs- und Entwicklungswege ab. Während die Partnerin aus der Beziehung aus- und zu neuen Horizonten aufbricht, bleibt der Mann in seinen angestammten Mustern verhaftet. «Physik ist Romantik», sagt Parra. Dieses Verständnis wollte er transportieren. Seine Musik ist im herkömmlichen Sinne wohl nicht romantisch zu nennen, doch vermittelt sie in ihrem rastlosen Duktus die zeit- und raumgebundene Erfahrungswelt des Menschen.