Herbst in der Helferei

Vom 16. bis 21. September findet zum achten Mal die Konzertwoche Herbst in der Helferei statt. Nach fünf Konzerten in der Zürcher Wasserkirche schliesst das Festival im grossen Saal der ZHdK sinfonisch: Unter der Leitung von Kevin Griffiths spielen Schülerinnen und Schüler der Musikschule Konservatorium Zürich zusammen mit Profis ein romantisches Programm. Mittendrin zieht Jens Lohmann erfolgreich und beharrlich die Fäden. Ein Blick hinter die Kulissen.

Die Wasserkirche auf einer Altartafel von Hans Leu d.Ä., zirka 1460 – 1510. Bild: Roland Fischer, Zürich,zvg,J. Henry Fair

Zum Gespräch vor den Sommerferien bringt Jens Lohmann, Geigenlehrer an der Musikschule Konservatorium Zürich, einen ehemaligen Schüler mit: Kevin Griffiths. Der 35-jährige Zürcher hat schon vor Jahren den Geigenbogen mit dem Taktstock vertauscht und sich mittlerweile als Dirigent international einen Namen gemacht. Er wird am 21. September am Pult stehen, wenn das Drei-Generationen-Orchester Brahms’ 4. Sinfonie und das Mendelssohn-Violinkonzert in e-Moll im Rahmen des Festivals Herbst in der Helferei zur Aufführung bringt. Dritter im Bund, wenn auch – aus verständlichen Gründen – nicht anwesend beim Gespräch ist Dmitry Sitkovetsky: Der russische Star-Geiger interpretiert am Konzertabend den Solopart.

Kevin Griffiths sieht sich einer äusserst anspruchsvollen Aufgabe gegenüber, gilt es doch, zwar hoch motivierte, aber noch unerfahrene Streicherinnen und Streicher mit Mitgliedern aus Zürcher Profi-Orchestern in Einklang zu bringen und dabei weder die einen zu über- noch die anderen zu unterfordern. Ein anderer Schwierigkeitsfaktor ist die knapp bemessene Probenzeit. Da kommt Jens Lohmann ins Spiel: «Die Profimusiker treten alle für eine Minimalgage auf, es steckt enorm viel Goodwill hinter dem Projekt. Da kann man nicht noch fünf Proben vor dem Konzert von ihnen verlangen!» Es sei deshalb unheimlich wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrpersonen bestens vorbereitet würden, nicht nur musikalisch, sondern auch bezüglich der Einstellung einem solchen Projekt gegenüber. Aber Lohmann kann sich auf ein sehr gut funktionierendes Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen abstützen, «sonst wäre so ein Projekt auch gar nicht möglich!» Nur schon die Vorbereitung der Noten würde viel Zeit kosten, darum ist er dankbar, dass er auf einen Notensatz aus dem Fundus des Tonhalle-Orchesters zurückgreifen kann, wo alle sogenannten «Striche» bereits eingezeichnet sind. Das heisst, alle Streicher bewegen ihre Bögen in dieselbe Richtung, was beileibe nicht nur fürs Auge schöner ist, sondern auch einen erheblichen Einfluss auf den Gesamtklang des Orchesters hat.

Image
Kevin Griffiths

Rollentausch nach 20 Jahren

Für Griffiths und Lohmann ist diese Zusammenarbeit auch darum etwas Besonderes, weil sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis umgekehrt hat. Während der ehemalige Lehrer im Orchester sitzt, steht der ehemalige Schüler nun am Dirigierpult und sagt, wo’s «langgeht». Für andere Schülerinnen und Lehrer könnte das zum Problem werden, nicht aber für Griffiths und Lohmann. Die beiden kennen sich schon derart lange und sind sich, wie im Gespräch immer wieder auffällt, aufs herzlichste verbunden. Ihre Bekanntschaft geht zurück auf Lohmanns Engagement beim Zürcher Kammerorchester, wo er unter Howard Griffiths, dem berühmteren Vater von Kevin, als Konzertmeister spielte. «Wie viele hatten Kevins Eltern das Gefühl, in ihrem Sohn schlummere ein grosses Talent. Nun, Kevin hat das Schlummern sehr ernst genommen, sein Talent lag anfangs noch im Dornröschenschlaf », erinnert sich Lohmann lachend. Trotzdem trat Kevin Griffiths nach zwei Jahren Unterricht zur Aufnahmeprüfung an der Musik-Akademie Basel an und bestand. Trotz vielversprechender Aussichten auf eine Karriere als Geiger interessierte er sich bald mehr für das Dirigieren, wobei ihn sein Vater vor allem zu Beginn der Karriere sehr unterstützte. «Ein Konkurrenzgefühl zwischen uns beiden gab es nie und wird es nie geben, dafür sind wir uns persönlich einfach zu nahe», erklärt Griffiths. «Am Anfang musste ich mich schon zusätzlich anstrengen, um gewissermassen aus dem Schatten meines Vaters zu treten. Dabei hat mir sicher geholfen, dass ich stilistisch in eine ganz andere Richtung ging.» Kevin Griffiths gründete zum Beispiel das Steve Reich Ensemble in London, mit dem er zwei CDs einspielte, war auch «Conductor of the Year» beim Orchestra of the Age of Enlightenment, gewann Preise bei zahlreichen wichtigen Wettbewerben und fungiert im Moment als künstlerischer Leiter und Chefdirigent des Collegium Musicum Basel. Die stilistische Breite sei mittlerweile zu einem absoluten Muss geworden, führt er noch an, man könne sich heutzutage weder als Musiker noch als Dirigent nur auf eine Stilrichtung oder Musikepoche festlegen. Es gelte aber, aus allen Einflüssen seinen Stil, eine eigene Philosophie zu entwickeln, sonst wirke das unnatürlich.

Auf die Frage, ob man dirigieren lernen kann oder ob man dafür geboren sein muss, erwidert Griffiths: «Es hilft sicher. Ich habe mich dabei einfach von Anfang an wohlgefühlt, aber natürlich wächst man auch in die Aufgabe hinein. Es ist so oder so ein langer Weg.» Heutzutage stehe vor allem die Zusammenarbeit im Mittelpunkt, während in früheren Tagen der Dirigent die absolute Autorität gewesen sein, fügt er noch an. Und auch wenn er sich von Natur aus wohlfühlt vor einem Orchester, muss er jedes Mal etwas Neues erfinden. Die bevorstehende Zusammenarbeit mit Dmitry Sitkovetsky ist für Kevin Griffiths denn auch etwas ganz Besonderes, und er erinnert sich: «Während meiner Zeit als Violinist war er mit gewissen Aufnahmen sehr prägend für mich, und ich hätte mir damals nie erträumt, dass ich einmal ein Projekt mit ihm als Solisten dirigieren würde. Und jetzt passiert das diese Saison gleich zweimal. Einmal jetzt, einmal im nächsten Sommer. »
 

Nur drei Proben: Qualität vor Quantität

Am 15. September, also gerademal eine Woche vor dem grossen Konzertauftritt, treffen sich die Musiker zum ersten Mal. Wobei dieser erste Probentag ganz im Zeichen der jungen Streicherinnen und Streicher steht. Kevin Griffiths will diese erste Probe dazu nutzen, dass die Musiker, die zum Teil noch keinerlei Orchestererfahrung haben, sich kennenlernen und auch etwas die Nervosität ablegen, die vor so einem grossen Auftritt sicher vorhanden ist. Voraussetzung ist natürlich, dass alle Beteiligten ihren Part beherrschen, die Aufgabe des Dirigenten ist dann, sie im gemeinsamen Spiel zusammenzubringen, dass sie aufeinander hören, dass sie auch flexibel agieren. Die Stimmführerinnen und Stimmführer, alles gestandene Profis und teils Solisten von Weltruf, werden an der Sonntagsprobe nicht anwesend sein. «Wenn sich der eine oder die andere dafür interessiert, wie Kevin mit den jungen Leuten arbeitet, und vorbeischaut, dann freue ich mich natürlich», meint Jens Lohmann, «aber verlangen kann ich es nicht von ihnen, schliesslich treten sie im Hinblick auf eine interessante pädagogische Erfahrung eh schon für eine minimale Gage auf.» Er misst dieser ersten Probe eine immense Bedeutung zu, gilt es doch, von da aus die Brücke zur ersten Tutti- Probe zu schlagen: «Am Donnerstag muss eigentlich alles perfekt sitzen, dann kommen die Profis dazu, und wir haben keine Zeit mehr, über Details zu diskutieren», blickt er voraus. «Mit der Übernahme der Stimmführung durch Kolleginnen und Kollegen von ZHdK, Tonhalle und MKZ wird aber auch einiges einfacher, die jungen Leute können sich dann leiten lassen.» Und damit sie vom Tempo nicht überfordert sind, lässt sie Lohmann in weiser Voraussicht bereits eine Stunde früher antreten: «Bis nur schon alle ihr Instrument ausgepackt haben, bis der Streichersatz in sich stimmt, bis wir die eine oder andere Passage nochmal angespielt haben, ist eine Stunde um.» Er spricht aus Erfahrung, hat schon viele Orchesterprojekte geleitet.

Image
Dmitry Sitkovetsky

Dmitry Sitkovetsky – und der künstlerische Nachwuchs

Bei der Hauptprobe stösst dann ein weiterer wichtiger Akteur zum Projekt: Dmitry Sitkovetsky, der russische Star-Geiger. Ihn konnte Jens Lohmann über einen gemeinsamen Bekannten anlässlich eines Meisterkurses an der Musikhochschule Luzern engagieren. Neben seiner Laufbahn als Solo-Virtuose amtiert Sitkovetsky auch als künstlerischer Direktor des Sinfonieorchesters im Amerikanischen Greensboro, North Carolina. Dieses Orchester unterhält verglichen mit der relativ kurzen Zeit seines Bestehens ein äusserst reichhaltiges Programm für Musikvermittlung an Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sitkovetsky weiss also, was ihn erwartet. Er selbst stammt in vierter Generation aus einer russischen Musikerdynastie, hat also einen ganz anderen Einstieg in die Musik erlebt. Mit sechs Jahren trat er in das berühmte Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium ein, studierte später an der nicht minder renommierten Juilliard School in New York. Zu seiner Zeit gab es noch keine Angebote, wo Kinder oder Jugendliche mit erwachsenen Profis zusammenspielen konnten. Umso wichtiger ist ihm heute die Arbeit mit dem Nachwuchs: «Ich denke, es ist sehr wichtig, mehr Verbindungen zwischen den Generationen zu schaffen. Musik, vor allem das Zusammenspiel in einem Orchester ist das einzige Gemeinschaftserlebnis in unserer Gesellschaft, das sämtliche Schranken zu überwinden vermag: Rasse, Nationalitäten, Geschlecht, Religion, Alter, Politik. Und je öfter die etablierten Musikerinnen und Musiker in Kontakt mit der jungen Generation kommen, desto grösser sind die Chancen, dass sich die Musik überhaupt weiterentwickeln kann.» Er sieht in der Bedeutung der Musik für den einzelnen auch keinen Unterschied zwischen angehenden Berufsmusikern und engagierten Amateuren, entsprechend lautet seine Botschaft an die jungen Musikerinnen und Musiker im Projekt: «Musik ist etwas, das du mit ganzem Herzen leben kannst, egal ob du Hobby- oder Berufsmusiker wirst. Anders als die materiellen Dinge im Leben ist Musik etwas Flüchtiges, was aber gleichzeitig bedeutet, dass es dir niemand wegnehmen kann – das ist wie ein Schatz in deiner Seele. Tauch ein in diese Welt, versuch dein Bestes in diesem Konzertprojekt und – ganz wichtig: Hab Spass dabei!»

Das werden sich die Schülerinnen und Schüler von MKZ im Alter von 12 bis 22 Jahren sicherlich zu Herzen nehmen. Sie freuen sich auf das Konzert, begegnen dem Projekt und seinen Hauptakteuren aber auch mit grossem Respekt und machen sich gleichzeitig Gedanken zu ihrer musikalischen Zukunft. Die sechzehnjährige Katharina Schade spielt selber Geige und ist darum insbesondere auf Sitkovetskys Interpretation des Mendelssohn- Violinkonzertes gespannt: «Ihn aus nächster Nähe zu erleben und dabei noch zu begleiten, wird mit Sicherheit ein tolles Erlebnis!» Die vierte Symphonie von Brahms hört sie sich oft unterwegs an und übt die Werke mit dem Ziel, zur ersten Probe sehr gut vorbereitet zu erscheinen. Zu ihrem musikalischen Werdegang meint sie: «Um Profimusiker zu werden, muss man bereits sehr frühzeitig alles auf eine Karte setzen. Das allerdings bedeutet, dass viele andere, eventuell ebenso spannende Entwicklungswege verschlossen bleiben. Ich möchte jedoch eine musikalische Karriere zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschliessen.» Ihre Kollegin Solvejg Wilding, 15-jährig, sieht ihre berufliche Zukunft dagegen eindeutig in der Musik: Sie möchte auf jeden Fall Musik studieren und sie zu ihrem Beruf machen, wahrscheinlich in pädagogischer Richtung. Ein weiterer Traum wäre, mal in einem Streichquartett mitzuspielen. Auf das Konzert freut sie sich ebenfalls: «Es ist natürlich eine grosse Ehre, mit diesen Musikern spielen und hoffentlich auch ein wenig von ihnen profitieren zu können.» Demian Herzog (19) spielt Viola im Orchester und daneben auch noch Jazz- Piano. Musik bedeutet ihm alles, auch wenn er noch nicht weiss, ob er diese Leidenschaft einmal zu seinem Beruf machen will. Er freut sich, dass er vor einem anspruchsvollen und zahlreichen Publikum spielen kann und wirft auch einen Blick hinter die Kulissen: «Jens Lohmann ist nicht nur ein exzellenter Pädagoge, sondern veranstaltet eine sehr interessante Konzertwoche. Dies kann aber nur dank einer extrem guten Planung funktionieren, dafür respektiere und bewundere ich ihn.» 

Nicht ganz allein und auch nicht unbemerkt

Jens Lohmann kann auch bei der Projektorganisation auf ein gutes Netzwerk zurückgreifen. Ein erwachsener MKZ-Schüler, von Haus aus Ingenieur, kann auf langjährige Erfahrung im Projektmanagement zurückblicken und erledigt einen Grossteil der Administrativaufgaben. Er ist Teil eines Organisationskomitees von sechs Personen, das sich unter dem Jahr alle zwei Monate trifft. Je näher das Festival rückt, desto kürzer werden die Abstände zwischen den einzelnen Sitzungen. Neben der konkreten Projektorganisation geht es dabei vor allem um die Geldbeschaffung via Sponsoren. Bei den Verträgen mit den Künstlern kennt sich dann Lohmann wieder bestens aus, er arbeitet schliesslich auf beiden Seiten, als Künstler und als Veranstalter. Seit 2006 gingen unter dem Titel «Herbst in der Helferei» 55 Konzerte über die Bühne. Allmählich setzt sich das kleine, aber feine Festival im Bewusstsein der Allgemeinheit fest, in Schweizer Musik- und Kulturkreisen ist es bereits zur festen Grösse avanciert. Mario Venzago, Dirigent von Weltruf, findet es beglückend, wenn sich mitten in Zürich eine Tradition etabliert, Begeisterndes zu gestalten und zu vermitteln. Vor allem in einer Zeit, da Festivals wie Pilze aus dem Boden schössen (und meistens ungeniessbar seien) erfreut er sich an den Markenzeichen dieses Festivals: Eine beschränkte Vielfalt, ein definierter Stil, dazu die Lust am schwierig Kombinierbaren in Verbindung mit kostbaren Werken und Interpreten. Besonders berührt ihn, dass die Veranstalter das Wagnis auf sich nehmen, aus einem Kollektiv individueller und begabter Menschen ein Orchester zu formen: «Ich wünsche den Veranstaltern, dass das ‹Mysterium Orchester› gelingt, damit sich das Unerklärbare einstellt, wenn sich fremde Musiker plötzlich verstehen und zum gleichen Atmen, Singen und Spüren zusammenfinden. Das ist jedes Mal ein kleines Wunder und mündet idealerweise darin, dass alle – Zuhörer und Ausübende – als andere gehen, als die sie gekommen sind, zu diesen Musikalischen Begegnungen von Heute und Morgen.»


Herbst in der Helferei – 2013 in der Wasserkirche
Musikalische Begegnungen von Heute und Morgen
16. bis 21. September 2013

Das könnte Sie auch interessieren