Spätestens seit der musikalischen Avantgarde gilt die Notengrafik als eigenes Genre zwischen Bildender Kunst und Musik. Wie sieht diese Art von stiller Musik im digitalen Zeitalter aus? Und was kann sie leisten? Eine Untersuchung am Beispiel der «sheet music» von Johannes Kreidler.

Beim Stöbern im Souvenirshop fällt mein Blick auf eine Postkarte: eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite der Karte zieht. Am Anfang steht ein Violinschlüssel, sonst ist sie leer. «Geniesse die Ruhe», lautet die Unterschrift. Sie erinnert mich an eine Serie von Schwarz-Weiss-Drucken, der sheet music von Johannes Kreidler, die genau demselben Muster folgen: eine Grafik aus Notensymbolen mit Titel, Prinzip Minimalismus, wie im sheet Sunset, das nur aus einer Notenzeile und einer einzelnen Note besteht.

Das Postkartenmotiv ist zwar nett, irgendwie auch raffiniert und trotzdem wirkt es vor dem Hintergrund von Kreidlers Arbeiten blass. Offenbar haben die sheets etwas, was die Postkarte nicht hat, das aber auf den ersten Blick verborgen bleibt. Aber was?

Der Schlüssel dazu liegt in ihrem Ursprung: Ihr Schöpfer ist kein Grafikdesigner mit besonderem Gespür für Originalität, sondern Künstler, Performer und vor allem: Komponist. In den letzten Jahren fiel Kreidler mehrfach durch seine innovativen wie provokativen Arbeiten und Aktionen auf, die er immer auch in einen theoretischen Kontext stellt. Neuer Konzeptualismus lautet das Schlagwort, unter dem der 34-Jährige sein aktuelles Schaffen begreift und auf dessen Erde auch die sheets gepflanzt sind. Was zählt, ist die Idee, zu deren Umsetzung alle Mittel und Medien der Kunst erlaubt sind. Wie und ob das dann klingt, ist sekundär. Mit der sheet music, die Kreidler seit 2013 kreiert, wendet er sich komplett vom Hörbaren ab: Er komponiert Grafiken aus Noten, «Augenmusik» – und auch das mit Konzept.

Was das Material betrifft, ist dieses Konzept denkbar einfach: weisser Hintergrund, schwarze Schrift, Typ: Times New Roman, ein Dreiklang mit Titel 1+2=3, ohne Schnörkel. Schon dem widerspricht die Postkarte mit ihrem roten, kursiv gesetzten Spruch, der verrät, dass sie hübsch sein will. Die sheet music will das nicht, zumindest nicht nur. Sie will vor allem etwas mitteilen, und diese Mitteilung generiert der Betrachter selbst, indem er die zwei Zeichenebenen miteinander in Beziehung setzt. 1+2=3 zeigt eigentlich keinen Dreiklang, sondern Notationssymbole, die wir aufgrund ihrer Anordnung und des Titels als Dreiklang bezeichnen. Der Titel setzt dem Assoziationsspielraum Grenzen, ein Prinzip, das Kreidler in ähnlicher Weise bereits in seiner Aktion Fremdarbeit austestete. Dort beeinflusste er durch unterschiedliche Anmoderationen zu immer derselben Musik die auditive Wahrnehmung. «Präpariertes Hören» nannte er das, und hier liefert er das Pendant: «präpariertes Sehen».
 

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«Sunrise for Bejiing» (2014)

So funktioniert auch die Postkarte: Bild und Titel ergeben eine Aussage, die relativ leicht zu fassen und eindeutig ist. Haben wir sie kapiert, schauen wir weg. Die sheets hingegen halten unsere Aufmerksamkeit durch ihre Individualität, Offenheit und Rätselhaftigkeit wach. Ihre Interpretation ist nicht nur eine kognitive, sondern auch eine kreative Leistung. Jedes sheet liefert einen Denkanstoss, der in ganz unterschiedliche Richtungen führen kann. Ein Kontinuum bildet nur die Ironie, wie im sheet Sunrise for Bejing. Wenige grafische Elemente entpuppen sich in Kombination mit dem Kommentar, der das sheet auf Kreidlers Blog Kulturtechno ergänzt, als ein Cocktail aus Galgenhumor und Gesellschaftskritik: «Wegen des extremen Smogs wird in Peking auf einem grossen LED-Bildschirm die Abbildung eines Sonnenaufgangs gezeigt.»

Die meisten sheets führen thematisch aber zum Ursprung der kleinen Formen zurück. «Ich will, dass jetzt alle mal über Musik nachdenken!» Was Kreidler in einer seiner Performances forderte, gilt auch für die sheets. Sie greifen Topoi aus der Musikgeschichte auf, verarbeiten sie auf spielerische Art und erweitern sie um subtile Pointen, wie Tristan Motive, altogether, ein Cluster, der sämtliche Töne des Tristan-Motivs vereint ‒ Kreidlers Beitrag zu einer nicht enden wollenden Debatte der Musiktheorie.

Letztlich lassen sich die Drucke insgesamt auch als Reflexionen über das digitale Handwerkszeug des Komponisten von heute verstehen. Die Massenansammlungen von Notationssymbolen der sheet-Serie Depots stehen für die grenzlose Verfügbarkeit des Materials, das heutzutage besser in Grafiken als in Partituren aufgehoben zu sein scheint. Die sheets bringen uns die Software sowohl als Hilfsmittel nahe, das die Notation erleichtert und besser kommunizierbar macht, als auch als Medium, das zwischen Autor und Notat eine Distanz erzeugt. Die scheinbar willkürliche Zusammensetzung von Notenzeichen, z. B. in Beach Game, besitzt Symbolstatus: Der Komponist ist nicht mehr Herr dessen, was er in den Computer eingibt.

Kreidler aber hat seine Noten im Griff: Er verrückt Zeichen absichtlich, um Bewusstsein zu schaffen. Er komponiert, nur keine Klänge. Ist sheet music denn überhaupt Musik? Eine fast philosophische Frage, zu der Kreidler klar Stellung bezieht: «Musik muss auch mal raus aus der time-base. Musik ist nicht nur akustisch, sondern hat auch seine [sic!] visuellen Kontexte. Es ist dann immer noch Musik.» Tatsächlich suggerieren nur wenige der Bilder ein akustisches Moment. Kreidlers Antwort täuscht über die Komplexität der Sache hinweg, ebenso wie manches sheet über die seriösen Gedanken ihrer Verwandten: Eine Notenzeile, die sich über die gesamte Breite einer Leinwand zieht. Im vierten Zwischenraum liegt eine kreisrunde Note, sonst ist sie leer. «Asshole», lautet die Überschrift. Provozieren – auch das kann die Postkarte nicht.

sheet music unter

www.sheetmusic-kreidler.com