Wo ist der Westen?
Amerika hat Generationen von Europäern zum Träumen gebracht. Schweizer ganz besonders. Auch wenn wir uns das heute kaum vorstellen können: Bis ins 19. Jahrhundert starben in unserem Land Menschen vor Hunger. Auswandern war überlebensnotwendig. So entstand 1819 in Brasilien die Stadt Nova Friburgo, gegründet von 265 Familien aus der Schweiz, in einer Region, deren Klima demjenigen ähnelte, das sie verlassen hatten. In den Vereinigten Staaten gibt es nicht weniger als 16 Städte oder Dörfer namens «Luzern» und selbstverständlich finden sich auch einige «Geneva».
Mit der Wende zum 20. Jahrhundert verlor das «Eldorado» an Glanz; die USA, der «American Dream», wurden zum Inbegriff des faszinierenden Westens. Das galt auch für Musiker, Dvořák etwa, der von 1892 bis 1896 Direktor des Konservatoriums in New York war und dort seine Sinfonie aus der Neuen Welt schrieb, ein so emblematisches Stück, dass es Neil Armstrong später auf dem Mond hinterlegte. Im Musical West Side Story träumten puertoricanische Einwanderer den amerikanischen Traum, und in der Popmusik besangen etwa Joe Dassin L’Amérique, die Mamas & Papas versanken in California Dreamin’ und Patrick Juvet schwärmte: I love America.
Das alles scheint heute weit weg; Amerika bringt uns nicht mehr zum Träumen. Die Globalisierung und das Internet haben den technologischen und sozialen Vorsprung jenseits des Atlantiks dahinschmelzen lassen. Angesichts der heutigen wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten blickt kaum jemand mehr neidisch nach Westen.
Das Thema dieser Nummer wird dadurch noch vielschichtiger. Es sind die unzähligen Wechselwirkungen mit dem Westen, die uns beschäftigen: sei es im Jazz, sei es in den Eindrücken eines jungen Deutschschweizer Komponisten, der das Pariser Musikleben bestaunt, sei es im Hin und Her der brasilianischen Musik im Laufe der Jahrhunderte. Vier amerikanische Komponisten, die hierzulande noch zu entdecken sind, runden den Focus ab.
Brechen wir also auf zur (Wieder-)Entdeckung des Westens!