In den Big Apple beissen
Sie sind talentiert, solide ausgebildet, in der hiesigen Szene aktiv – und dann verabschieden sie sich für eine Weile oder definitiv. Was bringt Jazzmusikerinnen und -musiker dazu, sich in Amerika niederzulassen, insbesondere in New York?
Sie sind talentiert, solide ausgebildet, in der hiesigen Szene aktiv – und dann verabschieden sie sich für eine Weile oder definitiv. Was bringt Jazzmusikerinnen und -musiker dazu, sich in Amerika niederzulassen, insbesondere in New York?
Kaum hatte die Pianistin Sylvie Courvoisier das Konservatorium in Vevey abgeschlossen, als sie sich in den Hexenkessel zeitgenössischer Musik in Brooklyn rund um John Zorn stürzte. Teil dieser Welt geworden, hat sie bis heute etwa dreissig CDs mit den grossen Namen der Szene aufgenommen: Ellery Eskelin, Fred Frith, Joey Baron … Zusammen mit ihrem Mann, dem Geiger Mark Feldman, tritt sie überall auf der Welt auf.
Einige wagen den Sprung über den grossen Teich, um ihre Ausbildung weiterzuführen. Der Mundharmonikaspieler Gregoire Maret, der das Conservatoire Supérieur de Musique de Genève abgeschlossen hat, spielt heute mit Cassandra Wilson, George Benson, Marcus Miller, Elton John und Sting. Er ist eine Grösse auf seinem Instrument wie Toots Thielmans.
Vor ihnen hatte sich beispielsweise Daniel Schnyder in New York niedergelassen. Er komponiert Kammermusik, arrangiert und produziert Jazz. Kürzlich war er vom Orchestre de Chambre de Lausanne für eine Carte-blanche-Abend eingeladen. Das lässt sich oft feststellen: Wenn sich die Ausgewanderten etabliert haben, kommen sie zurück, sei es als begehrte Gäste, sei es, um sich wieder hier niederzulassen wie der Saxofonist George Robert. Nachdem er zusammen mit dem legendären Phil Woods und später mit dem fabelhaften Trompeter Tom Harrell auf der ganzen Welt gastiert hatte, liess sich der Genfer in Bern nieder, wo er während zehn Jahren die Swiss Jazz School leitete. Heute ist er verantwortlich für die Abteilung Jazz der Musikhochschule Lausanne.
Bei einer Musik, die aus Nordamerika stammt, ist dieser Austausch keineswegs erstaunlich. Nach Konzerten von Duke Ellington und Sydney Bechet auf dem alten Kontinent und der nachfolgenden Bebop-Welle wurden in den Sechzigerjahren hierzulande Jazzschulen gegründet. Die Swiss Jazz School in Bern war europaweit die erste. Heute ist angesichts der immer dichteren Durchdringung von amerikanischen und europäischen Praktiken kaum mehr zu sagen, wer wen auf welche Weise beeinflusst.
«Musikalisch bringen die USA nichts»
Ohad Talmor ist einer dieser Grenzgänger. Er lebt in Brooklyn und unterrichtet einmal pro Monat per Skype am Genfer Konservatorium. Sowohl seine Schulzeit wie seine musikalische Ausbildung hat er teilweise in der Schweiz, teilweise in den Vereinigten Staaten absolviert – in der Klassik und im Jazz. Martha Argerich und Steve Swallow waren seine Lehrer, aber auch Lee Konitz, mit dem er sechs CDs aufgenommen hat und um die Welt getourt ist. Angesprochen auf den Einfluss amerikanischer Spielweisen sagt er kategorisch: «Musikalisch bringen die USA nichts. (…) Es ist die einmalige Konzentration ausserordentlich guter Musiker, die den Aufenthalt wertvoll macht.»
Einen Unterschied sieht Talmor bei der wirtschaftlichen Seite: «Das Geschäft hat in den USA immer die Oberhand. Die Musik wird vor allem als ‹Entertainement› betrachtet, als Kunst hat sie einen schweren Stand. Die Gagen sind deutlich tiefer als in Europa und Konzerte werden von einigen Begeisterten aus eigener Initiative durchgeführt.» Einen Veranstaltungsort, der auf Kreation setzt, hat Talmor gleich selbst mitgegründet: das Seeds in Brooklyn. Vor allem improvisierte Musik steht auf dem Programm, und regelmässig sind auch einige Schweizer zu Besuch, beispielsweise Jacques Demierre, Nicolas Masson oder Jean-Lou Treboux.