Turmglockenspiele in der Schweiz

Oft wird die Orgel als grösstes und schwerstes Instrument betrachtet, dabei geht aber das Turmglockenspiel oder Carillon vergessen, das mehr als 40 Glocken umfassen kann. In der Schweiz gibt es sechs solche Instrumente.

On considère souvent l’orgue comme étant le plus grand et le plus lourd des instruments. C’est oublier le carillon, qui peut regrouper plus de quarante cloches. Il existe six de ces instruments en Suisse.

Daniel Thomas spielt auf dem Carillon der Kirche Saint Jean-Baptiste in Taninges/Haute-Savoie Daniel Thomas au Carillon de l’église Saint Jean-Baptiste à Taninges en Haute-Savoie

Das französische, zum Teil auch im Deutschen verwendete Wort carillon für Glockenspiel geht auf das Vulgärlateinische quadrinio oder das Lateinische quaternio zurück, der Bezeichnung für eine Vierergruppe. Die ersten mechanischen Glockenspiele im Mittelalter bestanden aus vier Glocken. Bis heute gibt es in der Schweiz eine ganze Reihe von kleinen Spielwerken mit vier, fünf, sechs Glocken. Sie werden mit Hilfe am Klöppel befestigter Ketten oder Seile gespielt. Einige weisen auch einfache Klaviaturen mit grossen hölzernen Tasten oder Stöcken auf. Sie werden vom Glockenspieler stehend betätigt und erlauben kaum ein differenziertes Spiel. Solche Spielwerke findet man beispielsweise in Bourg-Saint-Pierre (VS), Salvan (VS), Gruyères (FR) und Bulle ((FR). Im Tessin, etwa in Muralto und Bellinzona, gibt es auch Modelle mit Metallklaviaturen. Erst auf grösseren Instrumenten kann sich aber ein nuancenreiches und komplexes Spiel fast wie auf dem Klavier oder der Orgel entfalten.

Die World Carillon Federation (WCF) definiert das Glockenspiel als ein Instrument aus gestimmten Bronzeglocken, die über eine Tastatur aus Stöcken angespielt werden. Nur Carillons mit mindestens 23 Glocken kommen in Betracht. In der Schweiz gibt es sechs derartige Instrumente, fünf davon in der Westschweiz (s. Kasten). Sie gehen über drei bis vier Oktaven (35 bis 49 Glocken, deren schwerste mehrere Tonnen wiegen können). Die Kunst des Carillonspiels entwickelte sich vor mehreren hundert Jahren in Flandern (Holland, Belgien, Nordfrankreich). Auch heute gibt es dort die meisten Anlagen und die bekanntesten Spieler.

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Glocken und Klöppel des Carillon de Chantemerle

Die Glocken sind aus Bronze gegossen und harmonisch aufeinander abgestimmt, so dass akkordisches Spiel möglich wird. Sie werden über Tastatur und Pedal angespielt. Die grossen Holztasten oder Stöcke sind über eine Mechanik mit den Klöppeln verbunden, die einen leicht ansprechenden, musikalischen Anschlag ermöglicht. Es gibt kein Dämpfungssystem; einmal angeschlagen schwingt die Glocke frei.

Entwicklung in der Schweiz
In der Schweiz wurde das erste Carillon 1926 in der Kirche von Carouge installiert. Es hat 28 Glocken und eine Klaviatur aus grossen Holztasten, entspricht also nicht dem üblichen Carillon, das Stöcke aufweist. Diese Bauweise war aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich, wurde dann fast überall aufgegeben, ausser in Genf. Die Kathedrale der Stadt wurde 1931 mit einem 16-teiligen Spielwerk ausgestattet, das 1986 auf 20 und 2011 auf 37 Glocken aufgestockt wurde.

1953 brachte der Pfarrer von Pully, Marc Vernet, der zuvor Glockenspieler in Belgien gewesen war, die flämische Art des Carillons mit Stöcken in die Schweiz: Auf seine Initiative hin wurde das Carillon de Chantemerle gebaut. 1985 schenkte die Gesellschaft Zofingia der Kirche in Zofingen ein Glockenspiel mit 16 Glocken, das 1995 auf 24 erweitert wurde.

Mit 36 neuen Glocken (die alten wurden als minderwertig eingestuft und verkauft) von Rüetschi wurde Carouge 2001 das erste Carillon, das über drei Oktaven ging. Seither finden immer samstags auf (oder besser: über) dem Marktplatz Konzerte statt. 2004 folgte das erste Glockenspiel über vier Oktaven in der Abteikirche von Saint-Maurice im Wallis. Und zurzeit werden 24 zusätzliche Glocken für das Chantemerle-Glockenspiel in Pully gegossen. Es wird also bald ein zweites vieroktaviges Instrument in der Schweiz geben, das die Aufführung grosser Repertoirestücke aber auch von Werken für zwei Carillonneure (vier Hände und vier Füsse) erlaubt.

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Neuer Spieltisch des Carillon de Chantemerle.
Foto: G. Bodden

Glockenspieler: Ausbildung und Repertoire
Zum Üben braucht der Carillonneur ein spezielles Instrument, mag er doch der Umgebung nur ausgereifte Stücke zumuten. Bei diesen Übungscarillons wird mit Metalllamellen, Röhrenglocken oder aufgenommenen Glockentönen ein leiser Klang erzeugt. Eine Glockenspielerschule gibt es in der Schweiz nicht. Eine professionelle Ausbildung, die mit einem Diplom abgeschlossen wird, muss in Holland (Nederlandse Beiaardschool in Amersfoort und Carillon Instituut Nederland in Dordrecht) oder Belgien (Ecole Royale de Carillon in Mechelen) absolviert werden.

Das Repertoire besteht hauptsächlich aus Original- kompositionen und Transkriptionen klassischer Werke. Die meisten Stücke sind für Standardinstrumente von vier Oktaven geschrieben. In Flandern sind schon seit dem 18. Jahrhundert solche Stücke entstanden, das Repertoire ist also breit. Oft improvisieren die Carillonneure auch über bekannte Melodien, wie dies im Herkunftsgebiet des Carillons üblich ist, vor allem zu Marktzeiten, wenn sich viele Menschen in den Strassen bewegen.

In der Schweiz gibt es noch zu wenig grosse Instrumente, um eine Vollzeitstelle als Carillonneur zu ermöglichen. Dazu müsste ein Spieler für drei bis vier Instrumente und ihre jeweiligen Einsätze verantwortlich sein. Üblicherweise wird die Tätigkeit daher mit einer Organisten- oder Pianistenstelle verbunden.

Die grossen Glockenspiele der Schweiz

Genf

  • Carouge, Kirche Sainte-Croix, 36 Glocken (fis1, gis1–fis4; 1 Aubry XVII, 1 Piton 1789, 1 Kervand 1839, 33 Rüetschi 2001), Spieler: Constant Deschenaux, Andreas Friedrich und Yves Roure
  • Genf, Kathedrale Saint-Pierre, 37 Glocken (e1, a1, h1–a4; 1 Fribor vers 1460, 16 Paccard/Rüetschi 1931, 1 Rüetschi 1991, 19 Paccard 2011), Spieler: Vincent Thévenaz

Waadt

  • Pully, Kirche De la Rosiaz, carillon de Chantemerle, 24 Glocken (48 ab 2014; a1, h1–a3; 19 Eijsbouts 1953, 5 Perner 2011, 24 Simon Laudy 2013); Spieler: Daniel Thomas und Jean-Francois Cavin.

Wallis

  • Lens, Kirche Saint-Pierre-aux-Liens, 24 Glocken (c1, f1, g1, a1–f3; 2 Rüetschi 1958, 21 Rüetschi 1967, 1 Rüetschi 1995). Spieler: Jean-Daniel Emery
  • Saint-Maurice, Abtei, 49 Glocken (gis, cis1, dis1–cis5; 2 Dreffet 1818, 1 Rüetschi 1947, 1 Paccard 1998, 45 Eijsbouts 2003); Spieler: Francois Roten

Aargau

  • Zofingen, Stiftsturm, 25 Glocken (c2–c4; Rüetschi 1983/1985/1989/1996/1997/2005); Spieler: Andreas Friedrich und Karl Kipfer 

Daniel Thomas
… ist Glockenspieler am Carilon de Chantemerle in Pully und Vorstandsmitglied der Gilde der Carillonneure und Campanologen der Schweiz GCCS, die auch das Verbandsorgan Campanæ helveticæ herausgibt. www.campanae.ch
 
Literatur:
Glocken – Lebendige Klangzeugen / Des témoins vivants et sonnants. Confédération Suisse, Office fédéral de la Culture, 2008. Rezension in der SMZ 12/2010