«Die Junge Schweiz»
Die Schweizer Chorliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts ist reichhaltig und noch immer wenig beachtet. Die Basler Madrigalisten bringen dieses Erbe wieder aufs Podium.
Tagtäglich betritt Raphael Immoos, Professor für Chorleitung an der Basler Musikakademie und Leiter der Basler Madrigalisten, das Rudolf-Moser-Haus am Steinengraben 21. Dort befindet sich sein Dirigierzimmer. Bis vor Kurzem kannte er das Werk des Basler Komponisten (Jahrgang 1892), der in diesem Haus aufgewachsen war, noch gar nicht. Immoos setzte sich in Verbindung mit der Rudolf-Moser-Stiftung, welche sich um den Nachlass des Komponisten kümmert. Zu seinem Erstaunen fand er nur schon 120 A-cappella-Stücke, viele davon für Frauenchor, Männer- und gemischten Chor. Moser hatte, wie zuvor Othmar Schoeck, bei Max Reger in Leipzig studiert und später bei Hans Huber und Hermann Suter in Basel weitere Anregungen geholt. Felix Weingartner, damaliger Leiter des Konservatoriums Basel, holte Moser 1928 als Kompositions- und Theorielehrer an sein Institut. Zu Mosers Schülern zählten unter anderem Walter Müller von Kulm, Paul Sacher und der Geiger Yehudi Menuhin.
Ausgehend von Moser erschloss sich Immoos eine ganze Reihe weiterer Schweizer Komponisten – die meisten mit einem Bezug zu Basel –, die sich intensiv dem Chorgesang gewidmet hatten. 1930 brachte die «Zürcher Liederbuchanstalt» den Band Neue Gesänge für gemischten Chor a cappella heraus. Die 62 Stücke zeugen von einem ungemein reichhaltigen Chor-Œuvre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welches überwiegend dem lange geschmähten, als kitschig und epigonal gescholtenen spätromantischen Stil verpflichtet ist.
Im zweiten Kapitel dieses Bandes werden Rudolf Moser und seine beiden Zeitgenossen und Freunde Albert Moeschinger und Conrad Beck der Komponistengruppe «Die Junge Schweiz» zugeordnet.
Epoche des Umbruchs
Die Madrigalisten traten am 14. Juni 2017 im Museum Altes Klingental als Kammerchor mit je drei Sopranen, Alti, Tenören und Bässen auf. Das Programm eröffnete mit zwei Liedern von Hermann Suter (Winters Ende, Abendsegen), in denen der Chor gleich die ganze dynamische Spannbreite zwischen vollem Chorklang und feinen Piani abrufen konnte. Von Joseph Lauber – auch er ein Lehrer Mosers – folgte Ein Maientag mit sauber ausgeführten harmonischen Reibungen. Mit Hans Hubers Komm zur Quelle (1886), dem Lied, dem das Programm auch seinen Titel verdankte, gelang ein erster Höhepunkt mit drei im Raum aufgeteilten Quartetten.
Der Moser-Block mit den vier Liedern Die Quelle (Novalis), Verirrt (Theodor Storm), Der Strom und Jägerlied (Eduard Mörike) machte deutlich, weshalb dieser Komponist ins Zentrum des Programms gesetzt wurde. Das Volksliedhafte verbindet sich hier mit einer dichten Harmonik und kunstvoll eingesetzten Modulationen. Conrad Becks Lieder bewegten sich zwischen Romantik (Lösung, 1923) und bereits fortschrittlicheren Klängen im Abendlied (1932). Albert Moeschinger, der sich in seinem langen Komponistenleben mit vielen Einflüssen auseinandersetzte, geht in Vergänglichkeit (1930, Text: Martin Opitz) mit der romantischen Tonsprache ähnlich kreativ um wie Othmar Schoeck. Nach Schoecks traditionellem Ein Vöglein singt im Wald (1906/07) ist bei ’s Liedli aus dem Jahr 1931 eine harmonische Öffnung festzustellen.
Zukunftsweisende Klänge
Mit Abstand der Progressivste aller Komponisten, die an diesem Abend zu hören waren, ist Benno Ammann. Die schwierigen, aber packenden Lieder Firnelicht, Hochzeitslied (beide Conrad Ferdinand Meyer) und Nacht im Dorfe (Gian Bundi) liessen mit überraschenden Ganztonschritten und dem Verzicht auf die versöhnliche Tonika an den Liedschlüssen Ammanns intensive Auseinandersetzung mit der Neuen Musik in den Fünfzigerjahren vorausahnen. Drei Volkslieder (1932) nach schweizerdeutschen Texten von Meinrad Lienert setzten einen humoristischen Schlusspunkt.
Die Basler Gesangsinstitution «Madrigalisten» stand bis vor vier Jahren unter der Leitung ihres Gründers Fritz Näf und feiert im nächsten Jahr ihr vierzigjähriges Bestehen. Geplant ist unter anderem eine Jubiläums-CD mit dem oben besprochenen, zauberhaften Schweizer Liederschatz, dessen Wiederentdeckung dem Kammerensemble und ihrem Dirigenten hoch angerechnet werden darf. Die Gesangskultur der Basler Madrigalisten zeichnet sich aus durch gute Textverständlichkeit, grosse dynamische Bandbreite und überzeugende Intonationssicherheit. Damit wurde das Ensemble an diesem Abend den anspruchsvollen Werken vollends gerecht.