«unerhörtes!» Potenzial

Zum sechzehnten Mal ist vom 24. November bis am 3. Dezember 2017 in Zürich und Winterthur das unerhört!-Festival über die Bühne gegangen. Mit ungewöhnlichen Ansätzen schafft es aussergewöhnliche Musik und erreicht neue Kreise.

Kukuruz-Quartett. Foto: Michelle Ettlin

Jazz-Klub Moods, Rote Fabrik, Musikklub Mehrspur und Werkstatt für improvisierte Musik (WIM) mögen als Spielorte noch recht konventionell klingen. Aber Museum Rietberg? Kantonsschule Küsnacht? Alterszentrum Bürgerasyl-Pfrundhaus? Die Überraschungen gehören beim unerhört!-Festival zum Konzept. Ein Paradebeispiel für die Bemühungen, Musik aus den Stilschubladen zu zerren und in neue Zusammenhänge zu stellen, war bei der neuesten Auflage das Konzert des Kukuruz-Quartetts in der Schlosserei Nenniger. Nomen ist hier mehr als Omen: Es handelt sich bei der Schlosserei Nenniger tatsächlich um einen aktiven Handwerksbetrieb. Er befindet sich in der Zürcher Binz, einen Steinwurf entfernt vom Büro der Intakt-Records, dem Plattenlabel, das in der freien Musikszene Weltbedeutung erlangt hat. Die Maschinen sind an die Wände gerollt worden und haben Stühlen Platz gemacht. Von der Decke hängen Flaschenzüge. Auf einer Rampe befinden sich weitere Bänke.

Eastman-Renaissance

Alle Plätze sind besetzt, rund einhundert Zuschauer jeglichen Alters haben sich eingefunden, um eine rare Aufführung der Werke von Julius Eastman zu geniessen. Die vier Klaviere, die es dazu braucht, sind wie ein Sichelmond angeordnet. Dahinter befinden sich das gewaltige Tor der Schlosserei, rechts ein Gestell mit farbigen Plastikkisten. Das Kukuruz-Quartett – Philip Bartels, Duri Collenberg, Simone Keller, Lukas Rickli – widmet sich seit Jahren der Neuerschliessung der Werke des 1990 mit 49 Jahren verstorbenen Eastman. Seine Talente als Pianist, Sänger, Komponist und Dozent waren früh gefördert worden. Je mutiger seine Experimente wurden, je klarer er sich zu einer afro-amerikanischen, homosexuellen Perspektive bekannte und seinen Werken Titel gab wie Evil Nigger oder Gay Guerilla, desto weniger Gehör fand er in der New Yorker Szene. So lebte er in den Achtzigerjahren zeitweilig als obdachloser Alkoholiker im Tompkins Square Park. Erst acht Monate nach seinem Tod erschien in der Village Voice ein erster kleiner Nachruf. Seit einigen Jahren erlebt Eastman eine postume Renaissance. In der Schlosserei demonstriert das Kukuruz-Quartett eindrücklich, wie verdient diese ist. Die Kompositionen mögen von ihrer Anlage her in den Bereich des Minimalismus gehören, dadurch aber, dass die diversen, repetitiven «Riffs» von vier Pianos dargeboten werden, erlangen sie eine herrliche klangliche Üppigkeit, ganz zu schweigen von einem Groove, der irgendwo zwischen Thelonious Monk und Funkadelic liegt. Aber es hat auch Platz für ein fesselndes Stück, wo die kaum wahrnehmbaren Klänge durch Fäden generiert werden, die über die Klaviersaiten gezogen werden. Das Publikum reagiert mit heller Begeisterung. Es bleibt die traurige Frage, was auch noch hätte entstehen können, wenn Eastman von den Gepflogenheiten seiner Zeit nicht an den Rand der Existenz und darüber hinaus getrieben worden wäre.

Monk-Gedenken

Das unerhört!-Festival hat seine Ursprünge in den wöchentlichen Improvisationsabenden, welche die Pianistin Irène Schweizer und der Saxofonist Omri Ziegele einst im Casablanca an der Zürcher Langstrasse einrichteten. «Über die Konzerte hinaus wollten wir auch ein Fest für unsere Musik schaffen», schrieb Schweizer in der Broschüre, die zum zehnten Jubiläum herausgegeben wurde. «Dieser Wunsch war der Auslöser fürs unerhört!» Als Unterschied etwa zum Taktlos-Festival nennt Florian Keller von der Programmgruppe unerhört! den Vermittlungsaspekt: «Wir arbeiten mit Schulen zusammen, mit einer Altersresidenz, achten darauf, dass verschiedene Szenen und Altersgruppen zusammenfinden.» Er nennt als Beispiele den jungen Zürcher Saxofonisten Tapiwa Svosve, der an der Seite von Bassist William Parker und Drummer Hamid Drake in der Roten Fabrik und in den Kantonsschulen Küsnacht und Stadelhofen auftreten konnte. «Das sind dann wirklich magische Momente», sagt Keller. «Ich weiss es von Hamid Drake und William Parker, sie haben es richtig genossen. Denn in der Fragerunde nachher kamen auch politische Fragen, und so konnten sie vor 200, 300 jungen Menschen sagen: ‹Das machen wir, das ist unsere Geschichte›.»

Unerhört! 2017 darf wiederum als ein voller Erfolg verbucht werden. Als roter Faden führte die Idee eines Tributes an den vor hundert Jahren geborenen Thelonious Monk durchs Programm. Während bei den Werken von Eastman Monk als Einfluss herauszuspüren war, kredenzten sowohl Irène Schweizer als auch Mike Westbrook je einen Auftritt lang Interpretationen seiner Stücke. Nebst Svosve/Parker/Drake und Byron/Ortiz gab es weitere Glanzmomente mit und ohne Monk-Bezug vom London Jazz Composers Orchestra, von Aki Takase (Piano) und Ingrid Laubrock (Sax), Michael Arbenz & Big Band der Hochschule Luzern, von der Band Human Feel sowie dem Trio Stephan Crump/Ingrid Laubrock/Cory Smythe.
 

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