Zärtliches Grundrauschen

Heinz Holliger dirigierte am 4. März im Opernhaus Zürich die Uraufführung seiner Oper «Lunea – Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern».

Szenenbild mit den fünf Gesangssolisten. Foto: Paul Leclaire

Die Musik beginnt ohne bewussten Anfang. Zarte Arpeggios auf der Harfe, dem Zymbal und dem Klavier vermischen sich mit Liegetönen in den Bläsern, gesummten Akkorden und Glockenschlägen zu einem Klangstrom, der immer in Bewegung bleibt. Heinz Holligers neue Oper Lunea, die bei ihrer Uraufführung am Opernhaus Zürich von ihm selbst dirigiert wird, bleibt nie stehen. Die Musik ist ein einziges Fluidum. Selbst die vielen Ruhepunkte sind belebt und erinnern an einen dunklen See, dessen Oberfläche von einem Windhauch gekräuselt wird. Über vierzig verschiedene Instrumente werden von den vier Schlagzeugern gespielt, vom Waschbrett bis zum Sandpapier. Holliger spricht lieber vom «Streichelzeug», so behutsam müssen die Musiker agieren, so zärtlich ist das Grundrauschen, das Lunea umhüllt. Mit seiner hochsensiblen, klangfarblich reichen Musik möchte Holliger den Zuhörer die Innenwelt des Dichters Nikolaus Lenau (1802–1850) entdecken lassen: seine melancholischen Stimmungen, seine Abgründe, aber auch seine lichten und visionären Gedanken.

Geschehen ohne Stachel

Bereits vor fünf Jahren hat der Schweizer Komponist 23 Notizen des rastlosen österreichischen Weltschmerz-Dichters als Liederzyklus vertont und später für ein Kammerorchester instrumentiert. Mit dem Librettisten Händl Klaus entwickelte er nun gemeinsam die rund 100-minütige Oper, die er «Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern» untertitelt. Keine Handlung liegt diesem Musiktheater zugrunde, auf eine Chronologie wurde bewusst verzichtet. Die offene Form der Texte spiegelt sich auch in der Konzeption der Oper. Die fünf Gesangssolisten übernehmen mehrere Rollen, wobei die Grenzen fliessend sind. Lenaus platonische Geliebte Sophie von Löwenthal ist auch seine Mutter, der Freund Anton Schurz auch sein Alter Ego. Die mehr angedeuteten als genau gezeichneten Lebensstationen folgen einer Traumlogik. Der im zweiten Lebensblatt thematisierte Schlaganfall vom 29. September 1844 – Nikolaus Lenau nannte ihn Riss –, der eine Gesichtshälfte lähmte und ihn nach und nach in den Wahnsinn trieb, ist eine Achse, von der aus in beide Richtungen erzählt wird. Erinnerungen und düstere Vorausblicke in die Vereinsamung reichen sich die Hand. Eine weitere Achse bildet genau die Mitte des Werkes: das zwölfte Blatt. Ab hier werden manche Wörter und ganze Sätze rückwärts gesprochen. Schuldig wird zu gidlusch, Feuer zur Reue, wobei das fehlende F im Libretto eingeklammert ist. In der ästhetischen Inszenierung von Andreas Homoki wird ab diesem Angelpunkt die schwarze Wand zwischen den Szenen im Schneckentempo von links nach rechts, also in die entgegengesetzte Richtung bewegt (Bühnenbild: Frank Philipp Schlössmann). Das ist dann doch zu viel Kopfgeburt und zu wenig Theatralik. Eine zwingende, hörbare Verbindung zur Musik entsteht nicht. Wie überhaupt an diesem traumverlorenen Abend auf der schwarzen Bühne keine echte Spannung entsteht zwischen den konturenarmen Figuren. Die von Klaus Bruns in edle, blau schimmernde Biedermeierkleider und Gehröcke gewandeten Personen werden von Andreas Homoki behutsam geführt. Wie Gemälde erscheinen die Szenen, wie Familienaufstellungen die wechselnden Arrangements. Aber die bewusst vage gehaltene Personenkonstellation erzeugt eine Beliebigkeit, die dem Geschehen den Stachel zieht.

Ende ohne Abschluss

Mit dem Bariton Christian Gerhaher, der bereits den Lunea-Liederzyklus uraufführte, hat Holliger den geeignetsten Interpreten für diese wenig greifbare Titelfigur ausgewählt. Gerhaher beseelt jede kleinste Melodiephrase. In seiner sensiblen Textdeutung und den klangfarblichen Schattierungen erkennt man den grossen Liedinterpreten. Holligers Musik ist trotz ihrer avantgardistischen Klangsuche (ohne jede Elektronik!) im Kern hochromantisch, die Gesangslinien strahlen Intensität und Schönheit aus. Juliane Banse (Sophie von Löwenthal), die bereits die Titelpartie in Heinz Holligers erster Oper Schneewittchen in der Zürcher Uraufführung 1998 gestaltete, verkörpert mit dunkler Sopranfärbung und grossem Atem eine tief empfindende Seelenverwandte. Sarah Maria Sun bringt mit ihrem beweglichen, kristallinen Sopran Lenaus verflossene Lieben zu einer Opernsängerin und einer Bürgermeisterstochter ins Bild. Ivan Ludlow mit seinem nicht ganz frei strömenden Bariton und Annette Schönmüller mit ausgeglichenem Mezzo können Lenau als Ehepaar Anton und Therese Schurz nicht den notwendigen Halt geben. Die herausragenden Basler Madrigalisten sind Teil der Biedermeier-Gesellschaft oder lassen Gedanken hinter der Bühne nachklingen. Holliger verwebt das Bühnengeschehen ganz dicht mit der vorzüglichen Philharmonia Zürich, wenn Zischlaute im Orchestergraben fortgeführt werden und das Schnarren der Kontrabassklarinette in den tiefen Bässen weiterlebt. Stimme und Instrument reichen sich die Hand. Wie präzise der Komponist seine eigene Musik zum Leben erweckt, begeistert das Premierenpublikum. Die Balance ist perfekt, der Gesamtklang stets rund und transparent. Am Ende wird es immer einsamer und dunkler um den Dichter. Der Aphorismus «Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit» wird auf die leere Bühne projiziert. Die im dreifachen Piano gespielten Flageolettketten der Streicher und zarten Glissandi der Bläser dehnen ein letztes Mal die Zeit und lösen sich allmählich im Nichts auf. Ein Ende ohne Abschluss.

Das könnte Sie auch interessieren