Das Modell Meisterkurs auf den Kopf gestellt
Mehr Raum für Austausch auf Augenhöhe und ein steigender Frauenanteil: Die Darmstädter Ferienkurse befinden sich im Wandel. Davon zeugen auch die Eindrücke von drei Teilnehmenden aus der Schweiz.
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Eine Lehrperson spricht, ein Lernender spielt vor, die Klasse sieht aufmerksam zu: Im herkömmlichen Modell für Meisterkurse sind die Hierarchien klar definiert. Auch im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse kommt es nach wie vor zu dieser Lernsituation, doch entspringen die nachhaltigen Impulse heute vermehrt anderen Formaten. Seit Thomas Schäfer 2009 die künstlerische Leitung der Kurse übernommen hat, ist der Austausch grösser und vielfältiger geworden. Im Bereich der Akademie konnten sich die Teilnehmer dieses Jahr in diversen Workshops zu ganz unterschiedlichen Themen wie kollektives Komponieren, Arbeiten im öffentlichen Raum oder künstlerische Forschung einbringen. Im Bereich des Diskurses wurde auch das Format der Vorträge («Lectures») durch verschiedene Beteiligungsformen gelockert. Schliesslich ist der «Open Space», der Ort für Darbietungen in Eigeninitiative, heute so weit etabliert, dass die verschiedenen Räume bereits in der ersten der beiden Wochen belegt waren. Schäfer greift auf das Bild von Platons «Philosophischem Garten» zurück, um zu beschreiben, dass in Darmstadt ganz unterschiedliche Akteure verschiedenster Herkunft mit diversen Kenntnissen, Fähigkeiten und Zielen zusammenkommen, die für einen bestimmten Zeitraum miteinander und voneinander lernen, zusammen leben und arbeiten – also gemeinsam Freiräume zur Entwicklung neuer Ideen schaffen.
Auf Augenhöhe lehren und lernen
Persönliche Einblicke in die verschiedenen Formen des ausgreifenden Darmstädter Thinktanks geben drei Teilnehmende, die aus der Schweiz angereist sind. Die 24-jährige Harfenistin Rahel Schweizer hat gerade ihren Master Pädagogik bei Sarah O’Brien in Zürich abgeschlossen und wirkt in verschiedenen Ensembles, Theatergruppen und einer Band mit. Verantwortlich für neue Initiativen in der Harfenklasse in Darmstadt ist die Dozentin Gunnhildur Einarsdóttir, die neben den Meisterkursen («Studios») zum Workshop «Composing for Harp» und zu Chamber Sessions eingeladen hat. Schweizer schätzt die Vielfalt der ausgewählten Kompositionen und die Offenheit in Proben: «Mir gefällt insbesondere der experimentelle Gedanke, dass alles ausprobiert werden kann – und das zunächst wertungsfrei.» In einer Probe mit dem britischen Komponisten Oliver Thurley feilt Schweizer mit Fingerhüten an den Saiten an der Umsetzung der Klänge, die bewusst an die Grenze des Möglichen führt. Unter anderem für dieses Stück mit dem Titel a horizon, gloa on the forest floor wird Thurley mit dem Kranichsteiner Musikpreis für Komposition ausgezeichnet.
Auf das Zusammenwirken in der Gruppe kommt es auch im Schlagzeug-Studio von Christian Dierstein und Håkon Stene an. Für das Konzert Hearing Metal and Nylon, das sich als Parcours durch die Räume der Edith-Stein-Schule gestaltet, und für die Freiluft-Darbietung des Workshops «Nature Theater of Darmstadt» gilt es, die Abläufe sorgfältig abzustimmen. Der 27-jährige Franzose Corentin Marillier, der zurzeit an der Hochschule Luzern bei Pascal Pons im Masterstudium Interpretation of Contemporary Music steht, ist denn auch nicht vornehmlich für die Arbeit an der eigenen Technik oder Spielweise angereist, sondern um Leute zu treffen und das eigene Tun zu reflektieren – was hier, wie er sagt, auch auf sehr hohem Niveau geschieht.
Gender-Gewichtungen verschieben
Gemäss der in Luzern lebenden Komponistin und Pianistin Asia Ahmetjanova hat sich das Klima bei den Darmstädter Ferienkursen merklich verändert. Die 26-jährige Lettin hatte bereits im Sommer 2014 als Komponistin teilgenommen und empfand die Stimmung damals als im negativen Sinne kompetitiv und für ihr Schaffen hemmend. Dieses Jahr wurde sie eingeladen, für den Workshop «Encounterpoints» mit Yaron Deutsch (Gitarre), Uli Fussenegger (Kontrabass) und Carlo Laurenzi (Klangregie) eine neue Komposition zu schreiben. Das Stück Motivation wird in kollegialer und gleichzeitig fordernder Probenarbeit einstudiert. Die offenere, ungezwungenere Atmosphäre führt Ahmetjanova auf den höheren Anteil an Dozentinnen und Teilnehmerinnen an den diesjährigen Kursen zurück. In der Tat setzt sich das Team der Darmstädter Ferienkurse seit Längerem dafür ein, Chancengleichheit und Diversität zu fördern. So werden durch stärkeren Einbezug von Dozentinnen Vorbilder geschaffen. Zum unmittelbaren und sichtbaren Umschwung führt zudem dieses Jahr eine vorübergehende Kontingentierung in den Kompositionskurse. Mit diesen Initiativen haben sich die Gewichtungen bei den Teilnehmenden (42% Komponistinnen) und bei den Dozierenden in Komposition (12 Komponistinnen und 14 Komponisten) deutlich verschoben, während die Themen Gender und Diversität im Rahmen der Tagung «Defragmentation» eingehend reflektiert werden.