Ruhetage in Davos

Vom 4. bis 18. August findet das diesjährige Davos-Festival statt. Es wandert von Gipfeln, liiert sich mit Geschichten und lässt sich Zeit. Es ist das letzte unter der Leitung von Reto Bieri. Einige Eindrücke aus dem Ruhegeschehen.

Ensemble Ouranos auf der Festival-Wanderung. Foto: © Yannick Andrea,Reto Bieri unterwegs mit Goethes «Über allen Gipfeln ist Ruh». Foto: © Yannick Andrea

Andere Festivals haben einen «Artist in Residence», Davos hat einen «Artist in Ruhe». Das ist genau die Art von Kontrapunkt und Hinterfragung, die der künstlerische Leiter Reto Bieri anstrebt. Er hat auch genau die richtige Besetzung für diese einzigartige Position: Patricia Kopatchinskaja. Das Radio habe angefragt: «Wann spielt sie denn?» – Sie spielt gar nicht, sondern lässt ihre Geige ruhen. Ab und zu spricht sie am festivaleigenen Radio Ruhe, auf dem vor allem «die aktuelle Ruhe vor Ort» zu hören ist: Landwassergeriesel, Grillen auf der Stafelalp, Spülmaschinen im Hotel Schweizerhof.

Patricia Kopatchinskaja sei für ihn ein Phänomen der Ruhe, führt Bieri aus. Sie hätten einmal ein Stück zusammen gespielt, etwas furchtbar Schwieriges. Er habe ein halbes Jahr geübt. Als sie sich drei Tage vor der Aufführung getroffen hätten, habe die Geigerin gestanden, das Werk noch nicht angeschaut zu haben. Sie seien es dann gemeinsam durchgegangen, ganz langsam, hätten es eingerichtet. «Jetzt muss ich schlafen», habe Kopatchinskaja daraufhin gesagt. «Wir hatten kaum etwas gemacht», berichtet Bieri, «aber als wir uns gegen Abend wieder trafen, beherrschte sie das Stück!»

Der Ruhe auf die Spur kommen oder eher sich der Ruhe hingeben, will nun das ganze diesjährige Festival unter dem Titel «Heute Ruhetag». Der Untertitel «Young Artists in Concert» gibt an, was das Festival seit der Gründung 1986 tut: Es gibt jungen Musikerinnen und Musikern an der Schwelle zum Berufsleben die Möglichkeit, zwei Wochen in ausgewählten Ensembles zu arbeiten und aufzutreten.

Mitfiebernde Freunde

Das letzte Konzert, das ich bei meinem Davos-Aufenthalt höre, ist eine Matinee in der Pauluskirche. «Heute wegen Tod geschlossen» heisst sie und verbindet Werke von Komponisten, die mit falschen oder gar willentlich gefälschten Todesnachrichten zu tun hatten. So eine Bearbeitung der Trauermusik, die Cherubini zum Tod von Haydn schrieb. Joseph Haydn war aber gar nicht gestorben, sondern sein Bruder. Der Komponist liess verlauten: «Wenn ich von der Feier vorher gewusst hätte, wahrhaftig, ich wäre nach Paris gereist.» Friedrich Gulda, der exzentrische Komponist und Pianist, hatte sich Nachrufe verbeten und testete dann mit einer falschen Todesmeldung, ob sich die Presse auch daran halte. Diesen aufbegehrend-eigensinnigen Geist gibt die Geza-Anda-Preisträgerin Claire Huangci wieder, die mit grosser Verve einige seiner kurzen Stücke spielt.

Ich sitze auf der Empore, um mich herum viele junge Festivalteilnehmer. Aufmerksam verfolgen sie, wie ihre Kolleginnen und Kollegen spielen. Als Thomas Reif, Ruiko Matsumoto und Michael Schöch den letzten Satz von Haydns C-Dur-Klaviertrio Hob XV:27 sehr rasch in Angriff nehmen, geht ein Raunen durch die Reihen, das am Ende in begeisterten Applaus umschlägt. Denn die drei bringen ihr halsbrecherisches Tempo mit Spielfreude, Schalk und Präzision ins Ziel.

Verbindende Musse

Im Gespräch mit meiner Sitznachbarin will ich wissen, was sie denn nun – neben den musikalischen Fortschritten – nach Hause nehmen werde. Die Nachwuchsgeigerin Maria Elisabeth Köstler muss nicht lange überlegen: «Weniger ist mehr! Sowohl bei einem Programm, als auch in der Arbeit.» Sie habe schon an verschiedenen Sommerakademien teilgenommen. Oft sei nicht nur die Unterbringung prekär gewesen, sie habe zum Teil auch in fünf verschiedenen Ensembles proben und auftreten müssen. Da komme Hektik auf; das Resultat sei unbefriedigend. Hier dagegen habe man auch mal einen freien Tag zum Wandern oder freien Musizieren mit anderen. Man könne sich in der Kammermusikgruppe wirklich kennenlernen. Genau das strebt Reto Bieri an. Er betont, er überlege sich sehr genau, wen er mit wem zusammenbringen wolle. Und diese Feinabstimmung spürt am Ende auch das Publikum.

Ansteckende Programme, Zumutungen inklusive

Als weitere wichtige Erfahrung nennt Köstler: «Wie man stimmige Programme macht, in denen sich alles aufeinander bezieht.» Da gibt es in Davos tatsächlich viel abzuschauen. Die Titel und Querverbindungen sind nämlich nicht nur Lockvögel im Programmheft. Der Sprecher Tom Tafel oder auch Reto Bieri selbst schnüren in den Konzerten Literatur, Lokal- und Weltgeschichte mit der Musik zu einleuchtenden Paketen zusammen. Goethes «Über allen Gipfeln ist Ruh» wird erwandert von der Steinwüste auf dem Jakobshorn bis ins Tal – passende Musik an jeder Station. So eingebunden geht das Publikum auch auf Zumutungen neugierig ein, etwa als die Veranstaltung, die ein kurzer Nachklang zur Wanderung sein soll, gegen zehn Uhr in die Ankündigung mündet, das abschliessende Klavierwerk von Morton Feldman dauere 70 Minuten! Natürlich bleiben nicht alle, aber es ist auch kein Problem, wenn ein Teil des Publikums die Ruhe bei sich zu Hause vorzieht. In den ersten Festivaltagen war bereits Feldmans sechsstündiges Streichquartett Nr. 2 aufgeführt worden mit dem Hinweis: «Ein- und Ausstieg jederzeit möglich.» Finken standen zur Verfügung, damit der Publikumsverkehr leise vonstatten ging.

Eher geräuschvoll und aufgrund der längeren Vorbereitungszeit bereits im Vorfeld geprobt ist die Kammeroper, die am ersten Festivalwochenende zur Aufführung kommt. Über das Thema Ruhe leuchtet die Wahl des Stoffes unmittelbar ein: Tim Krohns Episodenerzählung Aus dem Leben einer Matratze bester Machart. Darin wird in acht Stationen von 1935 bis 1992 auf einer Matratze geliebt und gespielt, gestritten und gelitten. Was sich im Buch durch die Konzentration auf Kleinstepisoden zu einer Art Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts weitet, will in der gleichnamigen Musiktheaterfassung von Leo Dick nicht recht gelingen. Zu vermischt, zu wenig spezifisch eingesetzt sind die angewandten Mittel und Techniken.

Die eigene Begeisterung

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«Ein Festival muss aus dem Ort herauswachsen, muss mit dem Ort und den Leuten zu tun haben, sonst hat es keinen Sinn.» Mit dieser Überzeugung hat Bieri die Leitung in Davos vor fünf Jahren übernommen. Darum sind auch die Festivaltitel jeweils verbale Fundsachen aus der Gegend. Noch wichtiger: Die Leute aus dem Dorf und die Feriengäste sollen beteiligt sein. Aus diesem Bestreben entwickelte sich beispielsweise das Offene Singen. Am Anfang seien da nur wenige Leute gekommen, doch mittlerweile ist es ein beliebter, zum Teil regelrecht herbeigesehnter Teil der Festivalwochen. Das Festival als Ganzes, früher vielleicht eher eine Privatveranstaltung für Leute aus dem Unterland, habe sich geöffnet. Aber so sehr Bieri auch das Publikum im Blick hat, so wenig sieht er sich als selbstlosen Vermittler: «Jetzt sage ich etwas Provokatives: Ich habe alles eigentlich nur für mich gemacht! Und zwar nicht, um Erfolg zu haben, sondern weil ich an jedem kleinsten Detail Freude habe! Ich habe das Gefühl, genau indem ich das für mich mache, kann es dann auch bei anderen ankommen.»

Warum hört Reto Bieri nun also nach fünf Jahren auf? «Wir haben hier wirklich etwas bewirkt, nicht ich allein, das ganze Team. Jetzt müsste man das verwalten. Es kommen neue Dinge. Und wenn ich atmen kann, dann atme ich auch anderswo.» Ab dem nächsten Jahr wird der Pianist Olivier Schnyder das Davos-Festival leiten.

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