Musik für Mario Bottas «Steinerne Blume»
Auf dem Monte Generoso wurde eine Raumklangkomposition von Francesco Hoch uraufgeführt.
Seit Iannis Xenakis 1958 für den Philips-Pavillon bei der Brüsseler Weltausstellung die Raumklangkomposition Concret PH für 425 Lautsprecher entwarf und John Cage in den Sechzigerjahren mit seinen Zufallsklängen amerikanische Kunstgalerien beschallte, sind unzählige Experimente gemacht worden mit dem Ziel, Musik und Architektur in eine sinnvolle Beziehung zueinander zu bringen. Manche mit strategischer Planung wie die Musik für ein Haus, die Stockhausen mit vierzehn Assistenzkomponisten 1968 in Darmstadt in Szene setzte, manche eher beiläufig und auf improvisatorischer Basis. «Den Raum akustisch erfahrbar machen», heisst die allumfassende Formel. Sie impliziert, dass die Komposition auf autonome Gesetzmässigkeiten verzichtet und zur «Musique d’ameublement» tendiert, wie das Erik Satie einst vieldeutig formulierte. Die Musikdarbietung nähert sich der Klanginstallation, und für das Publikum hat die situative Wahrnehmung Vorrang vor dem strukturellen oder semantisch bezogenen Musikhören. Das kann im Fall von unausgegorenen Konzepten in Banalitäten enden, aber auch zu erhellenden Resultaten führen.
Musikalische Einfärbung
Bei der Klangaktion, die Francesco Hoch nun am letzten Augustsamstag in luftiger Höhe, auf 1700 Metern über Meer auf dem Monte Generoso, durchführte, war letzteres der Fall. Das lag nicht nur an der sorgfältig konzipierten Musik, sondern auch am architektonischen Objekt, auf das die Komposition funktional zugeschnitten war: das Bauwerk «Fiore di pietra» (Steinerne Blume) des Architekten Mario Botta. Die ambitioniert gestaltete neue Bergstation des Zahnradbähnchens mit Panorama-Restaurant, Ausstellungs- und Konferenzräumen wurde im vergangenen Jahr eingeweiht und zieht seither Ausflügler, Wanderer und an Architektur Interessierte aus allen Himmelsrichtungen an.
Blick von oben in die Tiefe des Klangraums. Foto: Max Nyffeler
Die vier Stockwerke des kugelförmigen Baus sind nebst einem Lift durch ein kunstvoll verwinkeltes, tageslichthelles Treppenhaus verbunden, das sich variantenreich zu den Nutzräumen hin öffnet und dessen Begehung immer wieder neue Perspektiven nach innen und aussen eröffnet. Dieses visuell und akustisch gleichermassen inspirierende Ambiente war nun der Schauplatz der Colorazione musicale per il Fiore di pietra, der «musikalischen Einfärbung der Steinernen Blume», wie Francesco Hoch seine Musik nannte. Die Klangaktion dauerte eine halbe Stunde und wurde am gleichen Nachmittag dreimal wiederholt.
Begehbare Klangschichten
Die acht Musikerinnen und Musiker, die das Stück erfordert, waren zu zweit auf die vier Stockwerke verteilt: zuunterst beim Eingang die tiefen Instrumente Cello und Fagott, zuoberst Oboe und Piccolo und dazwischen die «mittleren» Instrumente Violine, Flöte, Klarinette und Englischhorn. Das Treppenhaus ist auf einer Seite durch einen rund anderthalb Meter breiten Raum von der Aussenwand getrennt, was nicht nur einen Durchblick von oben bis unten ermöglicht, sondern auch die Voraussetzung schafft, dass der Schall sich in der Senkrechten problemlos mischen kann. Dank dieser räumlichen Durchlässigkeit verschmolzen die acht Stimmen zu einer gemeinsamen, je nach Standort variablen Klangskulptur. Beim Hinauf- und Hinunterwandern über die vier Stockwerke konnte man erleben, wie die waagrechten Klangschichten abwechselnd in den Vordergrund traten und dann wieder im Gesamtklang verschwanden, und wer sich in einem der angrenzenden Räume niederliess, nahm eine Art statischen Fernklang wahr, der sich nur in seiner inneren Struktur permanent veränderte.
Francesco Hoch mit seiner Partitur. Foto: Max Nyffeler
Für die acht Interpreten hatte der Komponist eine genaue Partitur ausgearbeitet. Das Material ist, wie bei solchen Raumklangexperimenten üblich, einfach strukturiert: kurze Melodiefloskeln, meist Skalenbestandteile oder repetitive Muster, die sich permanent verändern und ein kaleidoskopähnliches Ganzes bilden. Zeitdauern und Einsätze sind in der Partitur jedoch genau festgelegt, so dass der Gesamtverlauf formal gegliedert ist; bei der Aufführung wurde die Koordination über die vier Stockwerke hinweg durch einen Clicktrack gesichert. Die halbstündige Komposition ist nach dem Muster A–B-A’ in drei je zehnminütige Teile gegliedert. Die mit Petalo (Blütenblatt) überschriebenen A-Teile, die den kompakten Rahmen bilden, unterscheiden sich durch gegenläufige Dynamik und Dichteverhältnisse, und in den internen Strukturverläufen bilden sie die blütenähnlichen Formen von Bottas Steinblume nach. In der dreiteiligen Grossform wäre die Komposition vielleicht mit einer Blüte zu vergleichen, die sich langsam schliesst und wieder öffnet.
Ausschnitt aus der Partitur von Francesco Hoch. Foto: Max Nyffeler
Gestaltete Vergangenheit
Die drei Aufführungen waren gefolgt von einer Podiumsdiskussion, bei der es weder um musikalische noch um architektonische Fragen ging, sondern um gemeinsame biografische Erfahrungen. Die Teilnehmer waren nämlich vom selben Jahrgang 1943 wie Francesco Hoch, und damit 75 Jahre alt: ein Rechtsanwalt, ein Musiker, ein Schriftsteller, ein Chirurg, ein Maler und der Komponist – alles Tessiner. Wer fehlte, war Mario Botta, der sich gerade in Sankt Petersburg aufhielt. Eine Generation, die aktiv, aus unterschiedlicher Perspektive und auf ganz verschiedenen Gebieten an der Gestaltung der Nachkriegsjahrzehnte beteiligt war, hielt auf intelligente und anregende Weise Rückschau.