Lockere Souveränität
Zum 51. Mal bieten die Wittener Tage für Neue Kammermusik Einblicke in zeitgenössisches Komponieren. Mit dabei ist Barblina Meierhans aus Burgau.
Mit einer «kleinen Prise Humor» blickt Meierhans auf eine spezielle Kultur: Nebst Fussball wird das Kegeln gross geschrieben im Ruhrgebiet. Ist die Arbeit getan, trifft man sich, trinkt Bier und Schnaps, redet – und zwischendrin wirft man Kugeln auf Kegel. Längst verlassen wirkt die Kneipe mit Kegelbahnen an der Wittener Ruhrstrasse. Putz blättert von den Wänden, das Mobiliar ist abgenutzt, gedeckte Farben erinnern an die Fünfzigerjahre. «Ohne Nostalgie» wollte Meierhans sich auf den Ort beziehen, freundlich auf die Absurditäten von «Vereinstätigkeiten» blicken. Dazu postiert die 1981 in Burgau/SG Geborene in der Nähe des einstigen Bierausschanks eine Schlagwerkerin. Direkt an den Bahnen spielen eine Viola, eine Posaune oder ein Saxofon; unterstützt ist das klangliche Ambiente von Sprach-Einspielungen per Lautsprecher.
Mit Fug und Recht komponierte Meierhans keine stringenten Werke. Eher sind es gelockerte Ton- oder Klangfolgen oder so etwas wie kleine Rhythmus-Studien, die da zu Gehör kommen. Das lässt gedankliche, auch sportive Freiräume. Zwischendrin darf der Festivalbesucher selbst eine Kugel werfen, kann sinnieren über vergangene Zeiten, sich Atmosphären überlassen, die letzten Endes hübsch, letztlich aber auch zu zaghaft-reserviert wirken. Nun denn: Es mag verschiedenen Mentalitäten geschuldet sein. Hier das kernige, meist männerdominierte Westfalenkegeln, dort eine reflektierte, aber auch zurückhaltende Künstlerin aus der Schweiz – so etwas ist keine einfache Konstellation.
Spiel mit Innen und Aussen
Barblina Meierhans’ Station Diese Zeiten sind vorbei … ist nicht die einzige. Alternative Orte abseits der Konzertsäle haben in Witten mittlerweile Tradition. Mal ging es – ganz à la Festival Rümlingen – mit einer Klangwanderung in die Natur, mal spielen Stücke auf einer Fähre oder in einer Strassenbahn, mal bestellt der Festivalleiter Harry Vogt Klanginstallationen für Kellergewölbe. Geht es um ortsbezogene Kunst, ist man beim Komponisten und Multimedia-Spezialisten Manos Tsangaris an der richtigen Adresse. Tsangaris’ immer wieder bewährtes Rezept ist das Spiel mit dem Innen und Aussen. In diesem Wittener Jahr sieht es so aus: Innen, in einem fast rundherum verglasten Kiosk aus den Fünfzigerjahren, sitzt das Publikum, das beschallt wird von ein paar Instrumentalisten und Lautsprechern. Draussen bewegen sich in der Nähe einer Strassenkreuzung normale Passanten nebst obskuren Gestalten, die echt sein mögen oder aber – wer weiss es schon? – von Tsangaris bestellt. Als «Kammerspiel» bezeichnet er seine Station, die auch «Hörkino» heissen könnte.
Auf alle Fälle aus der Kunstsphäre kommen eine Sprecherin und ein Interviewer, deren Worte per Funk in den vollbelegten Kiosk gelangen. Feine Antennen hat Tsangaris. Die Musik darf – wie bei Meierhans – nicht zu sehr im Vordergrund stehen. So sind es eher kleine atmosphärische Beigaben, die die Musiker spielen. Jene draussen flanierende Sprecherin sinniert währenddessen über das Thema Fortschritt, während der Interviewer recht aufdringlich Wittener Passanten nach ihrem Musikgeschmack befragt. Rolling Stones sind eine «Macht», sagt ein Passant. Karlheinz Stockhausen kennt er nicht.
Ein Konzert wie ein Rausch
Was drinnen in den Konzertsälen passiert, bleibt den Wittenern wohl auch verborgen. Schade drum! Denn was in diesem Jahr tönt, ist alles hörenswert, teils sensationell gut. Herausragend das Konzert mit Werken von Mikel Urquiza, von Sasha J. Blondeau und von Sara Glojnarić, alle etwa dreissigjährig. Urquiza vertont dänische Texte von Inger Christensen, indem er die Sopranistin in bezaubernd intime Dialoge verwickelt entweder mit gestopfter Trompete, mit Klarinette oder mit Schlagwerk. Sasha J. Blondeau, 1986 im französischen Briançon geboren, entscheidet sich für eine körnig aufgeraute Klangstudie, während der Ansatz der Kroatin Glojnarić eher rhythmischer Natur ist. In witziger Manier bezieht sie sich zwar nicht auf die «Macht» Rolling Stones, dafür aber auf Schlagzeug-Intros der Rock-Gruppen The Police, Nirvana oder U2. Dass dieses etwa 50-minütige Konzert derart gut funktioniert, liegt zum einen an der kurzweiligen Heterogenität und der frappanten Kompositionsqualität der Werke, zum anderen aber auch an den Interpreten. Sarah Maria Sun (Sopran), Marco Blaauw (Trompeten), Carl Rosman (Klarinetten) und Dirk Rothbrust (Schlagzeug) spielen atemberaubend. Begriffe wie «Variabilität», «Perfektion» oder «Klangsensibilität» werden der unglaublichen Musikalität dieses Quartetts kaum gerecht.
Die Wittener Tage für Neue Kammermusik sind offenbar auf einem guten Weg. Nach Jahren verspannt-sophistischer Komplexität und zwanghafter Suche nach neuen Klangwelten kommt offenbar wieder mehr Lockerheit ins Spiel – kein bloss unkonzentriertes Laissez faire, sondern erfreulich gekonnte Souveränität. Drei Tage voll nachhaltiger Erlebnisse. Was will man mehr?