Akikos Klavier
«Music for Peace» ist eine Initiative des Hiroshima Symphony Orchestra, die mit dem Friedensgedanken die Welt bewegen will und von Martha Argerich unterstützt wird.
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Hiroshima, 6. August, 8.15 Uhr: Siebenmal wird die Friedensglocke angeschlagen. Es ist der Moment, in dem 1945 ein amerikanischer Bomber zehn Kilometer über der Stadt die Atombombe ausklinkte. Innert Sekunden starben damals Zehntausende, und bis zum Jahresende wuchs als Folge der Radioaktivität die Zahl der Opfer auf rund hundertvierzigtausend an. Die Glockenschläge eröffnen jedes Jahr die Gedenkzeremonie, zu der sich jeweils die Überlebenden und ihre Familien, ranghohe Offizielle, ein Grossteil des diplomatischen Korps aus Tokio sowie Tausende von einfachen Bürgern am Nullpunkt der Explosion, im heutigen Friedenspark, einfinden. Nach einer Schweigeminute folgen Ansprachen des Bürgermeisters von Hiroshima und des Ministerpräsidenten, ein Taubenschwarm fliegt auf, zwei Kinder verlesen ein Friedensgelöbnis.
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- Foto: Max Nyffeler
- Ein Ausstellungsobjekt im Frieden und Gedächtnismuseum Hiroshima: Die Küchenuhr blieb in dem Moment stehen, als die Bombe explodierte.
Die kurze und würdevolle Zeremonie ist der medial weithin sichtbare Teil einer sorgfältig gepflegten Erinnerungskultur in der Stadt, die heute wieder über eine Million Einwohner zählt. Dazu gehört neben verschiedenen Gedenkstellen im Park die als «Atombombenkuppel» weltweit bekannte Ruine der ehemaligen Industrie- und Handelskammer und vor allem das Friedens- und Gedenkmuseum. Es dokumentiert auf ebenso sachliche wie erschütternde Weise den Tod und das massenhafte Leiden der Opfer und führt in einer vorbildlich gestalteten pädagogischen Abteilung das zerstörerische Potenzial der Bombe vor Augen. Ein Schrecken durchfährt einen bei der Vorstellung, dass sich so etwas irgendwo auf der Welt heute wiederholen könnte.
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- Foto: Max Nyffeler
- Point Zero und das heutige Hiroshima, links das Monument der «Atombombenkuppel»
«Music for Peace» als internationales Austauschprogramm
Diese traditionellen Aktivitäten werden seit 2015 ergänzt durch die Initiative «Music for Peace», in deren Zentrum das Sinfonieorchester von Hiroshima steht. Sie hat sich zur Aufgabe gemacht hat, den in dieser Stadt hoch gehaltenen Friedensgedanken in die Welt hinauszutragen. Unter den Unterstützern steht an vorderster Stelle Martha Argerich mit dem Ehrentitel einer Friedensbotschafterin des Orchesters. Initiator und treibende Kraft ist Shoji Sato, im Hauptberuf Mitarbeiter einer Tokioter Künstleragentur, und als künstlerischer Träger fungiert das Sinfonieorchester. Mit thematisch ausgerichteten Konzertprogrammen und unter Nutzung der globalen Verflechtungen im heutigen Musikbusiness bildet es die Drehscheibe eines langfristig angelegten, internationalen Austauschprogramms, das sich nicht nur auf gegenseitige Orchesterbesuche und Solistentätigkeiten erstreckt, sondern je nach Projekt auch Orchestermusiker einzeln oder in Gruppen einbezieht.
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- Foto: Max Nyffeler
- Der Konzertsaal in Hiroshima
Die «Transplantation» von Orchestermusikern ist ungewöhnlich und verweist auf einen Grundgedanken der Initiative. Über das legitime Bemühen hinaus, das eigene Orchester besser am internationalen Markt zu platzieren, geht es nämlich darum, den Erfahrungshintergrund sowohl der einzelnen Musiker als auch des gesamten Orchesters zu erweitern und durch die menschlichen Begegnungen etwas zur Verständigung über die Kontinente, Sprachgrenzen und kulturellen Eigenheiten hinweg beizutragen. Orchesterpädagogik und Friedenserziehung ergänzen sich. «‹Music for Peace› will den Menschen den Gedanken der Abrüstung nahebringen», sagt Sato. Dass für solche japanischen Friedenssignale ausgerechnet unsere europäische Klassik als Medium dient, ist nicht erstaunlich. Sie hat im Fernen Osten einen hohen Stellenwert, das Publikum ist begeisterungsfähig und, wie man zumindest in Japan beobachten kann, durchwegs gut informiert. Es wächst auch kontinuierlich, nicht zuletzt durch den Einfluss der Medien, ohne die heute nichts mehr geht.
Eine Uraufführung von Toshio Hosokawa
Am Vorabend des diesjährigen Gedenktages gab das Hiroshima-Orchester unter der Leitung seines ständigen Gastdirigenten Christian Arming nun ein Konzert mit einem neuen Werk von Toshio Hosokawa, dem ersten Cellokonzert von Dmitri Schostakowitsch und der ersten Sinfonie von Gustav Mahler. Hosokawa ist in Hiroshima geboren und derzeit Composer-in-Residence des Orchesters. Im Unterricht bei Klaus Huber in Freiburg hat er sich die westlichen Kompositionstechniken angeeignet, doch seine Tonsprache wurzelt hörbar im asiatischen Musikempfinden. Hier tritt die lebendig gestaltete Linie als Formprinzip und Ausdrucksträger an die Stelle einer harmonisch strukturierten Ordnung; der harmonische Raum wird ersetzt durch die Räumlichkeit der Geste, die – analog zu dem aus der Körperbewegung entstehenden Pinselstrich in der Kalligrafie – im Nichts, und das heisst: in der Stille beginnt und endet.
Auf diese Parallele weist Hosokawa im Zusammenhang mit der nun uraufgeführten Komposition Lied V hin. Es ist ein kurzes, sehr konzentriert wirkendes Konzert für Violoncello und Streichorchester mit Schlagzeug und Harfe. Eine charakteristische ostasiatische Symbolik zeigt sich auch in der formalen Anlage: Der Solopart stellt nach Hosokawa die Stimme des Menschen dar, während das Orchester für die innere und äussere Natur steht. Die Melodielinie wird ins Riesenhafte vergrössert, sie durchmisst den ganzen Tonraum, zerfasert und verknäuelt sich und wuchert zu ausdrucksgeladenen Klangprozessen aus – ein permanent unter Hochspannung stehender Energiestrom, der vom englischen Cellisten Steven Isserlis mit packender Intensität zur Entfaltung gebracht wurde. Das farbenreiche Orchester liefert dazu den passenden Resonanzraum.
Das Hiroshima-Sinfonieorchester gehört zu den japanischen Spitzenorchestern, es ist reaktionsschnell und pflegt einen prickelnd transparenten Klang. Auffällig sind die brillante Bläsergruppe und der flexible Streicherklang. Seine Qualitäten konnte es bei der abschliessenden Mahlersinfonie voll ausspielen, wobei es unter Armings inspirierender Leitung mit seinem kollektiven Rubatospiel, den kleinen Schlenkern und Glissandi vor allem im melancholischen langsamen Satz etwas Wiener Atmosphäre am fernen Pazifik heraufbeschwor.
Martha Argerich spielt zeitgenössische Musik
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- Foto: by courtesy of Hope Project, Hiroshima
- Akikos Klavier vor der «Atombombenkuppel»
Das Orchester hat mit seiner Initiative bereits zahlreiche Fäden nach Europa und Kanada geknüpft. Eine besonders enge Beziehung besteht zur Sinfonia Varsovia; beide sind nach dem Krieg in einer dem Erdboden gleichgemachten Stadt gegründet worden, und zum hundertjährigen Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Polen sind die beiden Orchester vor Kurzem in Warschau in einer Mischformation aufgetreten, wobei sie gemeinsam Beethovens Neunte spielten und Martha Argerich mit Chopin auftrat. Im Juni war schon Krzysztof Penderecki in Hiroshima zu Gast. Er dirigierte nebst Beethoven sein 2009 in Krakau unter Valery Gergiev uraufgeführtes Prelude for Peace und sein zweites Violinkonzert; als auswärtige Orchestermusiker waren damals zwei Mitglieder des Dänischen Radio-Sinfonieorchesters mit von der Partie.
Das ganz grosse Feuerwerk wird aber im nächsten August in Hiroshima steigen, wenn das Orchester mit zwanzig Gastmusikern aus Polen, Dänemark, Frankreich, Deutschland und den USA und mit Choristen aus Hannover, der Partnerstadt Hiroshimas, wiederum die Neunte aufführt. Und die Überraschung des Abends: Martha Argerich, sonst nicht gerade als Vorkämpferin für Gegenwartsmusik bekannt, wird ein neues Klavierkonzert uraufführen. Es heisst Akiko’s Piano, der Komponist ist Dai Fujikura. Er ist in der Schweiz kein Unbekannter; 2004 lud ihn Pierre Boulez zur ersten Festival Academy nach Luzern ein und dirigierte ein Jahr später sein Orchesterstück Stream State.
Das Klavierkonzert endet mit einer Kadenz, die sich am Schluss im dreifachen Piano verflüchtigt. Martha Argerich wird dazu vom Flügel auf Akikos Klavier wechseln. Akiko war ein neunzehnjähriges Mädchen aus Hiroshima, das am Tag nach der Explosion an der atomaren Strahlung starb. Ihr Klavier, ein hochwertiges Instrument des amerikanischen Herstellers Baldwin, hat die Apokalypse überlebt, wurde restauriert und wird nun in diesem Konzert erstmals öffentlich erklingen, zunächst in Hiroshima, dann auch in Europa; auch mit Luzern steht man dem Vernehmen nach in Kontakt.
Die Bilder der Toten, die zerfetzten Kleider und die zu Klumpen geschmolzenen Alltagsgegenstände im Friedensmuseum von Hiroshima sind stumme Zeugen des Untergangs der Stadt. Vom Schrecken, aber auch wie man ihn überwindet, erzählt Akikos Klavier in Tönen.
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- Foto: Max Nyffeler
- Der Frieden- und Gedächtnispark von Hiroshima