Scharniere zur Natur

Das Festival Neue Musik Rümlingen bleibt diesmal nicht zu Hause. Eine Klangwanderung findet im Engadin statt. Die Gedanken schweifen um die Berührung mit der Erde.

Akiko Sabine Ahrendt in Carola Bauckholts «Doppelbelichtung». Fotos: Kathrin Schulthess

Happening, Environment oder einfach nur Outdoormusik? Mit den Begriffen ist es nicht mehr so einfach, seit die Grenzüberschreitung gesucht und damit experimentiert wird. Andererseits war Musik ja noch nie reibungslos auf einen Nenner oder gar auf einen Punkt zu bringen. Sie entzieht sich gern. Harmonische Analysen geben nur rudimentäre Eindrücke; im Journalismus übliche Adjektive sind auch nicht mehr als Annäherungen.

Wer das Festival Rümlingen besucht, macht sich so seine Gedanken. Unter freiem Himmel gab es diesmal wieder eine etwa sechsstündige Klangwanderung. Nur ging es nicht von Rümlingen aus nach Sissach oder Olten, sondern vom kleinen Lavin in der tiefsten Ostschweiz aus: Versprengte Grüppchen machen sich auf ihren Weg nach Sur d’Ardez. Ein steter Wegbegleiter ist der Inn, der ostinat vor sich hin rauscht – und Festivalleiter wie Komponisten inspiriert. Am Flussufer erkundet der Amerikaner Christian Wolff den Klang von Steinen, die er gegeneinanderschlägt; an der nächsten Klangstation spielen an einem Bach Jürg Kienberger und Peter Conradin Zumthor auf mit Wasser gefüllten Gläsern. Nach solch eher esoterisch-anthroposophisch Anmutendem führt der Weg in einen steinernen Tunnel. Fingals Grotte aus den Hebriden von Felix Mendelssohn Bartholdy kommt einem kurz in den Sinn. Doch im höhlenartigen Tunnel sitzt kein Orchester, sondern eine Harfenistin, deren dezent gestrichene oder getupfte Klänge vom deutschen Komponisten Caspar Johannes Walter stammen. «Das Wasser», sagt Walter, «ist das Scharnier zur Natur.» Aus den die Harfe umgebenden Lautsprechern kommen Tropfentöne. Sie sind bearbeitet, erklingen in verschiedenen Höhen und Rhythmen. Trotz Feuchte und Kälte verweilt man gern etwas länger im Dunkeln – wohl wissend, dass die Sonne gleich wieder wärmen wird.

Weiter gehts. Aus dem Tunnel heraus, weiter auf dem Schotterweg Richtung Osten. Auf einem Schild steht «Carola Bauckholt: Doppelbelichtung». Den Blick nach rechts gewendet, sieht man eine Geigerin, die etwas verloren zwischen Bäumen steht. Um sie herum hängen weitere Geigen, aus denen – angeregt durch sogenannte «Transducer» – Vogelstimmen kommen. Angesichts ihrer Verdopplung von Natur hatte Bauckholt etwas Skrupel. Letztlich aber zeigt sich in solchen Arrangements, dass ein «künstlerisch-zivilisatorischer Eingriff» immer andere Akzente setzt als die «Natur an sich». Sei es auch «nur» durch die Tatsache, dass eine so versierte Geigerin wie Akiko Sabine Ahrendt unglaublich virtuos Vögel imitieren kann in den höchsten Regionen ihres Instruments.

Inspiriert von Leta Semadeni

Natürlich sind es auch die Schattenseiten des Konzertsaals, die einem zwischen Lavin und Sur d’Ardez in den Sinn kommen. Zwischen den Klangstationen geht es ganz zwanglos zu. Man unterhält sich über das Gehörte, man lässt sich inspirieren vom wuchtigen Hochgebirge oder von Klängen, die ihre subtilen Seiten offenbaren. Daniel Ott «hasst es, wenn dem Publikum eine Freiheit suggeriert wird, die es nicht nutzen darf». Der Schweizer Festivalleiter und Komponist steuerte diesmal selbst eine Klangstation namens Chavorgia bei. Bläser primär der Musica Concordia Ardez spielen auf einem Waldhang einige ausgewählte Akkorde, während ein Duett mit Akkordeon und Klarinette schöne Kantilenen intoniert. Ott hat sich von der Struktur eines Gedichts der in Lavin lebenden Schriftstellerin Leta Semadeni inspirieren lassen. Die gesamte Silbenanzahl des kurzen Gedichts Chavorgia überträgt er auf die Grossform seines gelungenen musikalischen Environments, das vielleicht doch eher eine Outdoormusik ist.

Leta Semadenis Lyrik vertont auch Beat Furrer. In der kleinen Dorfkirche in Sur en d’Ardez singt die Sopranistin Rinnat Moriah betörend schön, ebenso ausdrucksstark wie flexibel begleitet vom fantastischen Saxofonisten Markus Weiss. Unglaubliche Kraft entwickelt die naturnahe Mystik Semadenis, die sich im kargen Kirchenraum gut entfaltet. In mia vita da vuolp – In meinem Leben als Fuchs heisst das Gedicht, in dem die Lyrikerin schreibt: «Ich wusste nicht meinen Namen, war nur immerfort da, wo die Pfote die Erde berührt.» Nun ist der Mensch kein Fuchs. Aber etwas kann er doch von ihm lernen – im einfachen Umherflanieren, fernab von Begriffen, fernab vom ständigen Fragen nach einem Warum.
 

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Bläser primär der Musica Concordia Ardez in Daniel Otts «Chavorgia»

Nachklang

Die Festivalleitung teilte mit, der Jahrgang 2019 sei noch nicht ganz vorbei. Am 16. November folge um 20 Uhr in der Kirche Rümlingen ein «Nachklang».

www.neue-musik-ruemlingen.ch

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