Musik in Zeiten von Corona
Das Angebot an gestreamter Livemusik von zu Hause ist unüberschaubar geworden. Was gibt es im klassischen Bereich zu sehen und wer schaut sich das an? Versuch einer Einordnung anhand einzelner Beispiele.
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Von einem Tag auf den anderen ohne Konzerte dazustehen, das ist hart. Hart für das Publikum, das gewohnt ist, aus einer Überfülle von Konzerten das passende auszuwählen, und hart für die Interpretierenden, die sich plötzlich daheim im stillen Kämmerlein wiederfinden. Alle Musikerinnen und Musiker brauchen Anerkennung, die Freischaffenden bangen um ihre Existenz, und alle müssen sich irgendwie in Form halten. Denn Musikmachen ist wie Hochleistungssport, der tägliches Training erfordert. Gerade letzteres ging im Trubel des Lockdowns in der Öffentlichkeit fast vergessen. Üben ohne Ziel ist aber auf Dauer kaum zu ertragen.
Und so suchten die Musikmachenden nach Auswegen. Zuerst gab es anrührende Balkonkonzerte, die um die Welt gingen, dann feierten Wohnzimmerkonzerte Urständ. Verbreitet wurden sie als Streaming-Videos, die überall auftauchten und die sozialen Netzwerke überschwemmten. Im Schnellverfahren aus dem Boden gestampft, verbreiteten sie die Botschaft «Hallo, wir leben noch und schenken euch Musik». Doch wozu dient solche Hyperaktivität im Musikbereich letztlich; was nützt es, was schadet es, wenn täglich dreiminütige «Konzertli» angeboten werden?
Schauplatz Wohnzimmer
Das Luzerner Sinfonieorchester begann schon am 26. März mit seinem «Tagebuch eines verschollenen Orchesters» und legte mit fast 2000 Klicks einen fulminanten Start hin, andere Anbieter folgten. Es war im ersten Moment tröstlich, mit Musik «versorgt» zu werden und zu wissen, dass auch andere aktiv blieben. Der Wohnbereich wurde zum Musikschauplatz, doch fehlte meistens ein professionelles Equipment: Es gab Bildverzerrungen, ungenügende Synchronisationen von Bild und Ton, und zuweilen schepperte es gehörig aus dem Lautsprecher. Auch das «Vor-die-Kamera-Treten» geriet zum schwierigen Balanceakt. Viele stehen ungelenk da, versuchen ein «Grüezi» und spielen drauf los. Andere treten zusammen mit Kollegen im virtuellen Raum auf, auf dem Bildschirm sieht man je in einem «Fenster» zugeschaltete Personen mit Knopf im Ohr.
Als Zuschauerin werde ich damit nolens volens zur Voyeurin im privaten Raum: Wie wohnt die Person, ist Unordnung zu erkennen, gibt es ein schönes Sofa, wohnt sie in einem Haus oder in einer kleinen Mansarde usw. Natürlich kann es durchaus auch sympathische Züge tragen, wenn man «seine» Orchestermusiker, die im Konzertsaal weit weg in Frack oder schwarzem Kleid spielen, nun plötzlich privat erlebt. Doch das Interesse des Publikums nimmt schnell ab: Solche im Netz präsentierten Konzertreihen zeigen von Woche zu Woche sinkende Klickzahlen.
Bei mehrmaligem Anschauen von Wohnzimmer-Streams wird klar, dass oft mehr eine Verzweiflungstat dahintersteckt als gut geplante Überbrückung der konzertlosen Zeit. Die anfängliche Explosion der Besucherzahlen verkehrt sich schnell ins Gegenteil, und man wird erbarmungslos abgehalftert. Zu verwöhnt ist das Publikum durch die Qualität der eingespielten «Konserven». Aber auch die immer gleichen Bach-Partiten, kurzen Mozart-Stücke oder Hornquartette, die da geboten werden, verlieren ihren Reiz, wenn zu viele Musiker dasselbe tun.
Das Ziel ist natürlich, im Gespräch zu bleiben, das Publikum bei Laune zu halten, alle «machen es», dann muss ich auch. Die grossen Institutionen sind bei diesem Wettrennen gewaltig im Vorteil, sie können ihre Lagerbestände an Videos plündern und gratis hochladen, wie die Berliner Philharmoniker es vorgemacht haben und es auch das Opernhaus Zürich praktiziert. Die Aufmerksamkeit ist da und hilft über magere Zeiten hinweg, die Schere zwischen «Gross» und «Klein» öffnet sich.
Haben die Finanzschwächeren damit verloren? Nicht unbedingt, wie das Beispiel des Argovia philharmonic zeigt, das zweimal mit wenig Mitteln einen Livestream anbot: Einmal mit zwei Orchestermusikern am Hallwilersee, einmal als «Yoga-Konzert» zum Mitmachen. «Das Echo war positiv», erklärt Intendant Christian Weidmann, «es lässt sich dabei aber schon spüren, dass unser Publikum lieber ins Konzert kommt.» Die Musikwissenschaftlerin Susanne Rode-Breymann bringt es auf den Punkt: «Kunst auf der Bühne ist keine digitale Kunst.»
Das Livekonzert, so oft schon totgesagt, wird wohl auch in der Post-Coronazeit weiter blühen. Oder gerade umso mehr? Es hat den Vorteil, dass Interpreten und Publikum im Konzertsaal zu einer anderen Haltung gezwungen sind als beim Streamen, wie es die Pianistin Sophie Pacini frei heraus formuliert: «Ich weiss ja gar nicht, wo der Rezipient sitzt – sitzt der vielleicht gerade auf dem Klo?» Ein Gefühl wie im Konzertsaal aufzubauen sei unter solchen Umständen schwierig, berichtet sie weiter. Die unmittelbare Interaktion zwischen Podium und Zuhörerschaft ist also nach wie vor wertvoll.
Einen interessanten Ansatz, obwohl auch online, bieten die Reihen «at home» und «Salon Picasso», die das Sinfonieorchester Basel in regelmässigen Streams seit dem Lockdown anbietet. Hinter diesen Namen verbergen sich rund 30-minütige thematische Sendungen, zusammengehalten durch einen dramaturgischen Faden. Der künstlerische Direktor des Orchesters, Hans-Georg Hofmann, stellt im Gespräch mit Orchestermitgliedern einzelne Register vor, die anschliessend spielen – im Probesaal des Orchesters, oder mal auf witzige Weise zu Hause. Didaktisches verbindet sich mit Unterhaltendem. «Wir haben die Coronazeit genutzt, um ein digitales Archiv aufzubauen, die Beiträge bleiben für einen längeren Zeitraum abrufbar», erläutert Hofmann dazu.
Vorsichtig ins Freie
Die Sehnsucht nach Livemusik aber ist gross. Und so wagen sich nach der Lockerung der Coronaregeln viele Musikerinnen und Musiker wieder näher an den analogen Betrieb heran. Das Kammerorchester Basel veranstaltet «Coronaden»-Konzerte, kurze Auftritte im öffentlichen Raum, wie etwa in einem Buswartehäuschen. «Raus aus der Versenkung, hin zu den Menschen, das gibt eine tolle Energie», meint Konzertmeisterin Julia Schröder, die das Format auch nach Corona beibehalten möchte.
In ähnlicher Richtung tendiert das Musikkollegium Winterthur mit «Musik vor Ihrer Tür»: Abonnenten, Gönnerinnen und Vereinsmitglieder konnten gratis ein Kammerkonzert mit Musikerinnen und Musikern des Orchesters bestellen. Die Nachfrage war sehr gross, bis jetzt wurden 85 Konzerte gegeben, auch Nachbarn und Passanten waren unter den Zuhörenden. «Wir glauben, dass wir dadurch neues Publikum gewonnen und die Beziehung zum bestehenden Publikum gestärkt haben», lautet das Fazit.
Den momentanen zwangsweisen Mainstream ausnutzen möchte die Initiative «Digital Concerts» des Tenors Sascha Emanuel Kramer und des Tonmeisters Marcel Babazadeh. Jeden Montag um 20.30 Uhr wird via Facebook und Youtube ein Konzert aus einer Fabrikhalle am Zürichsee gesendet.
Die Idee ist, die Intimität eines klassischen Hauskonzerts in digitaler Form zum Konsumenten zu bringen. Acht Konzerte haben bereits stattgefunden, und die Klicks sind zahlreich. Die Streams beweisen allerdings die Schwierigkeit, aus digitaler Distanz Nähe zum Publikum aufzubauen. Die Begrüssungen in betont legerer Manier wirken unprofessionell, die Moderationen zuweilen aufgesetzt. Das Equipment allerdings ist professionell, die Musikerinnen und Musiker spielen auf hohem Niveau. Nur bewahrheitet sich auch hier, dass Qualität teuer ist: «Wir sind auf finanzielle Unterstützung angewiesen, damit wir die Kosten bewältigen und den Künstlerinnen faire Gagen bezahlen können.» Der Slogan, «die Konzerte sind gratis aber nicht kostenlos», bringt im Lockdown mangels Konzertalternativen Gelder zum Fliessen, finanzielle Solidarität ist in diesen Tagen grossgeschrieben. Das bestätigen auch andere klassische Konzertveranstalter. Aber danach? Welche Spuren hinterlässt die Streaming-Euphorie dieser Tage?
Bildnachweis
Das Schlagzeugregister (Iwan Jenny, Ramon Kündig, Marco Kurmann) des Luzerner Sinfonieorchesters mit einer gelungenen Bolero-Version
Foto: Screenshot aus «Tagebuch eines verschollenen Orchesters», 13. Eintrag