Neue Tessiner Volksmusik

Vüna bèla! Heisst übersetzt etwa: Spielt und singt etwas Schönes! Silvia Delorenzi hat aus volksmusikalischen Alben der letzten Jahre eine überzeugende Auslese getroffen.

Vox Blenii. Foto: zVg

Experimentelle Volksmusik, wie sie in der Deutschschweiz seit über zwanzig Jahren beobachtet und von Musiques Suisses, Zytglogge und anderen CD-Verlagen dokumentiert wird, ist unter den Tessiner Musikanten kein eigentliches Thema. Dennoch gibt es in der zeitgenössischen Volksmusik der Südschweiz Neues zu beobachten.

Es ist ein Glücksfall, dass die Ethnomusikologin Silvia Delorenzi während Jahren die volksmusikalischen Bestände der Fonoteca Nazionale in Lugano inventarisiert und dabei die dokumentierte Tessinermusik genau kennengelernt hat. Mit geschultem Ohr sind der Wahltessinerin originelle Instrumentierungen und Arrangements von traditionellen Liedern und Tänzen aufgefallen, die nun – in einer vortrefflichen Auslese – als Album zugänglich sind.

Aus elf CDs – sieben unter ihnen aus den letzten drei Jahren – hat die Herausgeberin 19 Tracks ausgewählt und um eine eigens für den vorliegenden Tonträger eingespielte Neuinterpretation des traditionellen Mailieds (Il maggio) durch die Ensembles Vox Blenii, Vent Negru und Duo di Morcote ergänzt.

In der traditionellen Tessinermusik steht der Gesang an erster Stelle. Oft werden die Balladen sogar von den begleitenden Instrumentalisten in lokalen Dialekten mitgesungen. Akkordeon, Organetto (kleine diatonische Handharmonika), Gitarre, Mandoline, Violine, Kontrabass und neuerdings auch Saxofon und Trommel sind, unterschiedlich gruppiert, als typisches Merkmal nach wie vor in längeren Einleitungen und Zwischenspielen zu hören. Die Gesangskultur umfasst Sologesänge wie zum Beispiel jene der wunderbaren Laiensängerin Luisa Poggi (Vox Blenii), mehrstimmige Lieder wie jene des Vokalquartetts La Cantora mit dem berührenden Wiegenlied Oh Ninign und die Chöre Cantori di Pregassona und Val Genzona, die zusammen mit dem Ensemble Giangol lautmalerisch den Nordföhn in Musik umsetzen. Die für den Kanton Tessin typische Bandella, das früher in jedem Dorf bekannte kleine Ensemble aus den Stimmführern einer Banda (Blasmusik), hat seine Funktion als Tanzmusik verloren und ist selten geworden. Die fünf Musiker der Formation Il Bagiöö (Die Weintrauben) haben 2008 die Tradition wieder aufgenommen und 2015 eine CD eingespielt. Dank dem virtuosen Duo di Morcote klingt auch das Zusammenspiel von Gitarre und Mandoline weiter. Auf eine alte, vergessene Besetzung, Sackpfeife und Schalmei, greift das Bläserduo Verbanus zurück. Dank Ilario Garbani wird die Piva in einer Sackpfeifen-Schule unterrichtet. Das Handharmonika-Duo Aria Fina mit Mauro Garbani als einem der Brückenbauer zwischen Alt und Neu überrascht mit einem Arrangement aus vier Montferrinen (Montferrina: Tanz im Sechsachteltakt aus Norditalien). Bis in die Deutschschweiz bekannt ist der Liedermacher Marco Zappa, hier mit Renata Stavrakakis, Ginger Poggi und Freunden zu hören.

Die Neuerscheinung von Musiques suisses wird mit einer viersprachigen Einleitung von Silvia Delorenzi erläutert. Die Beschreibungen der einzelnen Ensembles konnten im Booklet leider nur auf Italienisch erscheinen, dafür mit Fotos, die die Besetzungen erkennen lassen. Es wäre allerdings wünschenswert, auch die Texte der 15 Lieder lesen zu können. Die CD Vüna bèla! ist ein klingender Katalog der heutigen Tessinermusik und ein informatives Hörvergnügen. Die Neuerscheinung dokumentiert, was in der letzten Zeit in Vergessenheit geraten ist: dass nämlich zur Volksmusik der Schweiz auch die farbigen Klänge der Tessiner gehören.

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Vüna bèla ! Panorama popolare ticinese. Konzept und Kommentar Silvia Delorenzi. Musiques suisses MGB NV 36

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